Daniel Kehlmanns Salzburger Rede gegen das Regietheater
Zeitreisender, rückwärtsgewandt
von Stefan Bläske
Wien, 27. Juli 2009. Kann er das ernst meinen? Ist es kalkulierte Provokation, ein PR-Gag, oder die Verblendung eines zutiefst reaktionären Menschen, der die Salzburger Bühne und das vermeintlich konservative Festivalpublikum nutzt, um sich als Gloria von Thurn und Taxis unter den Autoren zu profilieren?
Kehlmann polemisiert gegen das sogenannte Regietheater, man schreibt, er rechne damit ab, aber das stimmt nicht. Denn er verrechnet sich ständig. Beherrscht zwar die Worte, aber nicht das Einmaleins des Theaters. Da nützt es wenig, erfolgreich über Gauß romantisiert zu haben. Durchaus vermessen ist es, wie Kehlmann seinen Geschmack als Maßstab ans Theater anlegt. Er schließt mit dem Wunsch, Kunst – also auch Theater – solle "die Wahrheit" aussprechen, die Wahrheit über "unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur".
Pikiert wie ein Modedesigner
Dabei ist sein gesamter Text nichts anderes als eine einzige Einschnürung, ein Beharren auf Konventionen, die ihm, dem bekennenden Kristalllusterliebhaber, behagen. Theater kann so vieles! Kann Kult sein und Fest; Maskentheater, durch das die Toten sprechen, oder Jahrmarktbelustigung, Noh, Commedia dell’arte, Kasperlspiel, Biomechanik, Improvisation, Method Acting, Armes Theater oder Medienspektakel … über die Jahrhunderte und Kontinente hinweg entwickelte sich ein reiches, ein breites Spektrum szenischer Vorgänge, aber Daniel Kehlmann interessiert sich nur für eine bestimmte Form: ein Literaturtheater, das dem Autor dient. Klar, er selbst ist ja auch Autor.
Warum er Autor wurde, wissen wir jetzt. Weil man modenunabhängig produzieren kann. Nicht wie im bösen Theater, wo man mit dem Zeitgeist gehen muss und schöne altmodische Inszenierungen unterbunden werden. Ausgerechnet der Bestseller-Autor Kehlmann klingt pikiert wie ein Modedesigner, der wallende Barockkleider näht und sich darüber beschwert, dass niemand sie kaufen will in dieser mistmodernen, 1968er-verdorbenen Gesellschaft. Tief in die Mottenkiste greift Kehlmann, wenn er für "Schiller in historischen Kostümen" plädiert und behauptet, dass die "historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung".
Lou Reed für das Klopstock-Glücksgefühl
Er hat Recht, es ist eine ästhetische Entscheidung! Aber Historizismus und Verfremdung auf diese Art einander gegenüberzustellen verkennt, dass die vermutlich größte Verfremdung im Theater – ausgenommen vielleicht für einige Rentner und Operngänger, Kehlmann und Horst Köhler – heute durch "historische Akkuratesse" erzeugt würde. Wundert sich Kehlmann, dass ganze Generationen von Schulklassen erst durch Nicolas Stemanns Inszenierung für Goethes "Werther" begeistert wurden (obwohl – oder weil – dabei Würste geworfen werden, igittigitt)? Stemann übersetzt das Klopstock-Glücksgefühl mit Lou Reeds "Perfect Day" ins Heute, das damals neue "Medium" Briefroman mit dem später neuen Medium Video. Nur eine Möglichkeit, Goethe zu dienen?
Wichtiger noch als die inhaltlichen Fragen sind die formalen, ästhetischen. Brecht begriff und beschrieb, dass ein Filmsehender anders liest, anders schreibt. Wie können wir heute, mit der Medienerfahrung von Kino, Fernsehen, Internet (ganz abgesehen von allen anderen historischen Erfahrungen) noch in der Hoffnung auf dieselbe Wirkung dieselben Texte und Kostüme präsentieren wie Shakespeare, Goethe, Schiller? Und haben nicht selbst die schon Stoffe aufgegriffen, abgewandelt, für ihre Zeit und Bühne angepasst? Dramen für die Inszenierung umgeschrieben? Häufig genug in (damals) zeitgenössischen Kostümen gespielt? Warum wäre ein damals aktuelles Kostüm heute durch ein historisches und nicht ein gleichfalls aktuelles wiederzugeben? Etcetera.
Karl Kraus und ich
All diese Fragen behandeln Theaterwissenschaftsstudierende im ersten Semester – historisch weitaus fundierter als hier ausführbar, mit Einflüssen von Zensur, Urheberschutzrecht, usw. auf den Begriff der "Werktreue". Im zweiten Semester langweilt sie das schon. Kehlmann begibt sich mit seiner Rede argumenativ auf Grundschulniveau, lässt sich aber ein gutes Zeugnis ausstellen: von angeblich jedem Beleuchter, der hinter dem Rücken der ahnungslosen Regisseure die Augen verdreht, und von einigen Russen, Polen, Engländern oder Skandinaviern, die so irritiert seien vom deutschen Theater.
Konkret wird Kehlmann bei seinen Zeugen dann doch, er nennt und zitiert Max Reinhardt und Karl Kraus, glaubt sich im Einverständnis mit ihnen. Wir drei, Karl, Max, und ich, verstehen was vom Theater. Apropos: wie gut, dass Karl Marx nun wirklich niemanden mehr interessiert auf dieser Welt. Was? Es gibt eine Inszenierung über "Das Kapital"? Von wem? Rimini Protokoll? Na, das fällt natürlich durch das Kehlmann-Raster. Wie dergleichen einen Dramatikerpreis gewinnen kann, muss ein Rätsel bleiben, überhaupt das Hand in Hand, gar die Personalunion von Autor und Regie (Rimini Protokoll, Pollesch, Petras, etc.).
Dramaturgie des Abhakens
Bei Kehlmann lässt sich dieses Verhältnis nur als Teufelskreis denken, Regisseure gelten leider als Stars, Autoren ziehen den kürzeren, und halten sich darum dann noch mehr zurück. Dass tolle Autoren auch auf phantasievolle Regisseure stoßen können, wie Jelinek auf Stemann, das kommt dem nicht in den Sinn, der so groß von Autoren und so klein von Regisseuren denkt. Dabei braucht gerade gute Literatur eine kreative Form der Übersetzung in die Sprache des Theaters. Aus nachvollziehbaren Gründen werden Inszenierungen gefeiert wie Andreas Kriegenburgs "Der Prozess", der Kafkas Welt mit Bühnenmitteln beeindruckend visualisiert.
Werden Romane hingegen einfach als Story nacherzählt (möglichst "werktreu"?), entsteht, in Barbara Burckhardts Worten, häufig eine platte "Dramaturgie des Abhakens", die der literarischen Vorlage nicht gerecht wird. Als Negativ-Beispiele nennt Burckhardt in ihrem Artikel über "Dramatische Prosa" (Theater heute 11/2008) etwa die Hamburger "Buddenbrooks"-Inszenierung – und die Braunschweiger "Vermessung der Welt". Der Romanautor Kehlmann sollte also durchaus differenzierter von Erfahrungen mit dem Theater und den Schwierigkeiten einer Romanadaption berichten können.
Die Gemeinsamkeiten von Bett und Bühne
Aber wir lernen nichts über Theater in dieser Festrede, wenngleich Daniel aus voller Kehle doziert. Die Chefdozentin der deutschen Theaterwissenschaft, Erika Fischer-Lichte, hat bereits vor einem viertel Jahrhundert formuliert, dass die (von Kehlmann geforderte) Werktreue bzw. Adäquatheit "nicht im Sinne einer faktischen Beziehung zwischen Drama und Inszenierung definiert und verwendet werden kann", es handele sich nur im einen "subjektabhängigen Deutungs- und Wertungsprozess".
So, und nur so lässt sich Kehlmann lesen. Er wertet, ganz subjektiv. Teilt uns festlich mit, dass er nun mal Reihenhäuser mag, konservative Parteien und Privatschulen, und eben Historienromane und Theatermuseen. Auch führt er aus, er habe als Kind natürlich nichts mit dem Wort "Prostitution" anfangen können, sehr wohl aber mit "Bürgerlichkeit".
Was interessieren solche Aussagen bei der Eröffnung eines Theaterfestivals? Und was bedeuten sie? Für das Theater jedenfalls nichts Gutes. Denn bürgerliches Theater wie Kehlmann es begreift und fordert ist eines, das in ganz besonderem Maße von Konventionen und Gewohnheiten eingeschnürt ist.
Statt als bürgerliches, könnte man Theater besser als eines der Prostitution begreifen, im Sinne von George Tabori, der einst die Gemeinsamkeiten von "Bett und Bühne" betonte. Dort wären dann wieder Menschen, die Lust und Liebe machen. Die sich und einander begegnen. Berühren. Und nicht nur an die Decke auf den glitzernden Kristallluster starren.
Mehr lesen? Die Debatte um Kehlmanns Salzburger Rede haben wir hier zusammengefasst.
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Man kann gar nicht auf alle Mißverständnisse und Dummheiten eingehen, aber nur ein Beispiel:
"Er (Kehlmann) wertet, ganz subjektiv. Teilt uns festlich mit, dass er nun mal Reihenhäuser mag, konservative Parteien und Privatschulen, und eben Historienromane und Theatermuseen." Schreibt der Polemiker. Aber Kehlmann spottet ja gerade über die Reihenhausbesitzer, die konservative Parteien wählen und so weiter, diese "Linken", denen eben nur Theater bleibe für ihren Schrumpfdiskurs a la Volker Lösch. Kehlmann ganz unmißverständlich:
"Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich-konservative Parteien wählen, seine Kinder auf Privatschulen schicken und sich dennoch als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil fühlen möchte - was bleibt ihm denn anderes als das Theater? In einer Welt, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Ideologie degeneriert."
Warum veröffentlicht nachtkritik.de so einen unterirdischen Aufsatz? Sommerloch?
Schade. Eine kontoverse Diskussion jenseits der Klischees von "Werktreue" und "Aktualisierung", wie Kehlmann sie anzustoßen versucht, wäre interessant, aber vielleicht hat er recht, wenn er schreibt, man könne kontovers nur noch über Fußball diskutieren.
Schreiben Sie doch einen Wettbewerb aus. Es gibt hier ja fähige Kommentatoren. Einen Wettbewerb für eine tragfähige Antwort auf Kehlmann.
Nur ein Punkt aus Bläskes "unterirdischem Aufsatz": gerade die von ihm erwähnte "Medienerfahrung" wäre doch Grund genug dafür, daß sich das Theater wieder dem Wort, der Literatur, dem Inhalt zuwendet; denn alles andere, das Visuelle, der große Kontext, das Emotionale (Nahaufnahmen!), das Brutale-Perfide, das Bluttriefend-Grausame, all dies kann der Film viel besser (übrigens auch: das Kostümierte, "Historische"). Das Problem ist doch, daß gegenwärtiges Regietheater allzu oft mit seinem ständigen over-acting, mit den geistverhöhnenden Holzhammer-Symboliken und den Matsch-Blut-Schminkmaterialschlachten einen Kampf gegen eine visuelle Profi-Schockindustrie kämpft, den sie schon lange verloren hat (und man sage nicht, daß die Realpräsenz von Schauspieler und Publikum für eine im Vergleich zum Film "authentischere" Situation sorge: nichts ist weniger "real" als die theaterübliche Bühnenfiktion). Sensibles, bedächtiges, kluges und intellektuell herausforderndes Worttheater aufgrund intelligenter Texte: das wäre im heutigen Medienwettbewerb die Disziplin, in der das Theater (wieder) antreten müßte (vielleicht als Beweis: der gegenwärtige Erfolg der Hörbücher: die Menschen wollen offenbar nicht noch mehr Visualisierungen, sie wollen Denk-Stoffe!). Aber damit kann man sich wohl (zumindest an Deutschlands Bühnen, wenn DK Recht hat) nicht so recht profilieren.
Was will Kehlmann denn jetzt eigentlich? Das Reihenhaus oder die Villa? Ohne Theater oder mit Theater oder doch lieber nur mit einem vollen Bücherregal? "Bohemian Rhapsody" oder "Hänschen Klein"? Marx linksdrehend oder rechtsdrehend? Klar, die kritische Theorie ist out, niemand kann sich außerhalb "des Systems" stellen, aber eine HALTUNG, die kann man trotzdem haben, oder?
und was Sie als beobachterin als lärm beobachten, ist ja doch recht allgemein.
lärm kann ja alles sein, wenn man in der richtigen stimmung ist.
da lässt sich schwer drauf reagieren.
was mich auch interessiert; welcher regisseur am diskurs mit dem zuschauer interessiert ist. wobei ich glaube, dass das theater nach interaktion schreit nicht unbedingt das interessanteste ist. oder?
Ab sofort ist muffiger, langweiliger Original-Kostümzwang für alle, die Texte werden in altenglisch, altdeutsch nur als reines Sprechtheater vorgetragen. Eine traurige, düstere und beängstigende Szenerie die Sie da heraufgeschwören. Einen Moment lang dachte ich, ich müsse sofort einen Protestbrief an Herrn Kehlmann schreiben oder eine Gegenbewegung gründen.
Aber sicher können Sie mir alles erklären, danke.
Auf den anderen eingehen, ihm womöglich zuhören und erfassen, was er wirklich ausdrücken möchte und dann darauf reagieren - um Himmels willen, bloß nicht!
Viel zu anstrengend... Dann doch lieber andere Leute zutexten, die auf ihren Stühlen festgeklebt sind und sich nicht wehren (können oder wollen). Das ist fein.
Schon einmal hat ein trotteliger und inkompetenter "Zwischenruf" eines gewissen Herrn von Dohnanyi einer äußerst mittelmäßigen Aufführung zu unverhoffter Popularität verholfen.
Auf solche "Freunde" und Fürsprecher wie Herrn K. kann der Theaterdiskurs dankend verzichten.
Im Ernst: Dass sich die Dichter wieder als Herren des Theaters fühlen sollen, und alle ihnen "dienen", scheint mir doch eine allzu durchsichtige und peinliche Allmachtsphantasie von DK zu sein. Der Dichterfürst als der König im Reich der Phantasie... naja.
Das Theater bezieht seine Energien schon immer aus verschiedenen Quellen, aus Musik, Tanz, blödestem Quatsch und hoher Literatur. Theater ist tendenziell schmutzig.
(Zumindest meines!)
Bitte, lieber Herr Kehlmann, kommen sie aus der Schmollecke ihres literarischen Kinderzimmers nie mehr heraus um uns ihr persönliches Leid zu klagen. Sie können sich dort, zusammen mit Horst Köhler, um eine historisch korrekte,vollständige Schillerinszenierung kümmern, mit tollen Kostümen, Ritterrüstungen, Schwertern und einem Kronleuchter, von mir aus.
Kehlmann die Eröffnungsrede bei den Festspielen halten zu lassen, ist, als würde ein Heavy-Metal-Fan die Vorrede für ein Klassik-Konzert halten, oder umgekehrt.
Bei den "Persern" im Deutschen Theater wird von Finzi/Koch/Zilcher/Bendokat nur handlungsarmes Sprechtheater vollführt, da käme der theaterferne Kehlmann voll auf seine Kosten. Nur: wo sind die klassischen Kostüme? Und erst "Don Carlos" im selben Theater, Philipp II. in Unterhose und ein Marquis des Posa, der gänzlich unpathetisch "Geben Sie Gedankenfreiheit, o Herr!" dahersagt. "Minna von Barnhelm" mit Matthes, Hoss und der etwas blassen Gedeck hätte Kehlmann wegen der weitgehenden Textreue noch ausgehalten, aber Falk Richters "Kabale und Liebe" in der Schaubühne! Da werden Bodenplatten herausgerissen und ein Cello zerstört, was bei Kehlmann Magenkrämpfe ausgelöst hätte. So weit ich mich erinnern kann, sagt Lady Milford: "Legen Sie es zu dem Übrigen." da fühlt sich Kehlmann wieder heimisch, bei der hehren Literatur, denn diesen Satz sagte Erika Mann zu Vater Thomas. Das war eine klare Drohung. Falls der Vater sich im 3. Reich nicht auf die Seite der Exilanten schlage, verliere er sie als Tochter. "Dann leg es zu dem Übrigen." Das ist die Welt von Nicht-Theatergänger Kehlmann.
Sehr geehrter Herr Bläske, da sind Sie meiner Meinung nach in die Falle des Herrn K. getappt. Genau eine solche - mit Verlaub - emotionale, 'eingeschnürte' Reaktion war zu erwarten - wenn auch vielleicht nicht unbedingt von einem Wissenschaftler in einem professionellen Theaterforum. Man nimmt amüsiert zur Kenntnis, dass man mit einem hergebrachten Diskussionsbeginn auch heute noch so sympathische Abhandlungen provozieren kann. Ich gönne Herrn K. die diebische Freude. Beeindruckend und rekordverdächtig: bereits mit dem zweiten Wort Ihrer Polemik sind Sie reingerasselt: "rückwärtsgewandt". Verbessern Sie mich gerne, aber ich glaube, auch gegen diese Stigmatisierung / Verachtung / Arroganz / Einseitigkeit / Zerstörungswut kämpft Herr K. an. Sie möchten als progressiv gelten, verteufeln aber in einem bedenklichen Schwarz-Weiß-Denken, noch dazu in verletzendem Tonfall, die Vertreter der sogenannten Werktreue. Zugleich vergehen Sie sich in Ihrem jugendlichen Leichtsinn an Rentnern und Operngängern, wenn auch nur an 'einigen', größer war der Mut dann doch nicht. Lassen Sie denen doch deren Theater! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin der Allerletzte, der sich mit Kostümbällen und Textfanatismus zufrieden gibt, aber auch das ist Theater. Ich versuche, solche Veranstaltungen zu vermeiden, sind nicht mein Geschmack, wie gesagt. Aber es gibt verflixt viele Menschen - offenbar mehr, als Sie sich vorstellen können - die diese Art des Theaters sehr mögen. Jeder Haubentaucher oder ähnliches Getier, jedes Nachtschattengewächs oder ähnliches Geflecht wird heute unter Artenschutz gestellt, aber bestimmte Theaterformen werden konsequent gebasht? Das ist so verdammt unsouverän. Die Rede des Herrn K. zeigt mir, dass der Lebensraum dieser Spezies bereits lebensbedrohlich eingeengt zu sein scheint, dass ein Befreiungsschlag in der Öffentlichkeit Not tat. Ich höre in der Tat sehr oft ein Aufatmen im Saal, wenn eine Inszenierung ohne 'Spaghettiessen' zu Ende gegangen ist. Aber sind Theatergänger wie Herr K. deshalb wirklich ‚rückwärtsgewandt‘ und satt? Oder sind die nicht einfach nur - anders? P.S.: im übrigen dachte ich, ‚retro‘ sei bei der Jugend heutzutage ‚hipp‘!?
@ Falk Schreiber: Ihrem Argument ist zuzustimmen, doch erwähnt meines Erachtens auch Stefan Bläske das Thema der Differenzen zwischen Inszenierungsformen jenseits der begrifflichen Trennung "Werktreue" gegenüber "Regietheater", zum Beispiel hier: "Dass tolle Autoren auch auf phantasievolle Regisseure stoßen können, wie Jelinek auf Stemann, das kommt dem nicht in den Sinn, der so groß von Autoren und so klein von Regisseuren denkt. Dabei braucht gerade gute Literatur eine kreative Form der Übersetzung in die Sprache des Theaters. Aus nachvollziehbaren Gründen werden Inszenierungen gefeiert wie Andreas Kriegenburgs 'Der Prozess', der Kafkas Welt mit Bühnenmitteln beeindruckend visualisiert."
en. Dass Sie eine engagierte Feministin sind und für die Rechte der Frauen eintreten, ist Ihr gutes Recht.
Ich schließe mit einem Gruß, der Ihnen etwas devot vorkommen mag. Damals wurde eben ein wenig anders formuliert.
Hochachtungsvoll verharre ich
*
gehorsamster Diener und aufrichtigster Verehrer
(F. Schiller in seinem ersten Brief an Goethe, Jena, 13.6.1794)
* hier steht normalerweise: Euer Hochwohlgeboren
Aber das hätte nicht gepasst. Für Werktreue habe ich es trotzdem erwähnt.
das staatlich subventionierte regietheater soll nicht jammern, sondern endlich für das publikum produzieren!
die sogenannte kunstfreiheit besteht doch seit langem nur noch darin, öffentliche mittel für projekte zu bekommen, für die sich niemand auserhalb des "kunstbetriebs" interessiert.
Wenn die öffentlichen Mittel für Projekte ausgegeben werden, für die sich das Publikum nicht interessiert, dann läuft wohl etwas neben der Spur, nicht wahr?
Aber es ist doch auch nett, wenn der "kunstbetrieb" mit irgendwas beschäftigt ist. Die können ja nicht alle im sozialen Sektor arbeiten oder Eisverkäufer werden.
wer sagt denn, daß das publikum sich nicht für modernes theater interessiert (regietheater ist ja jedes theater mit regisseur, dieses wort in ihrem mund unterstellt, daß ansonsten schauspieler sich selbst "konservativ" inszenieren würden, dem ist leider nicht so), herr kehlmann kritisiert auch gar nicht die 68ger generation (dazu gehören herr stein, herr peymann, das sind genau die epigonen, die sie doch verhehren, sehr geehrte frau k pus herr trojaner , nicht wahr? sie verwechseln da leider etwas und schienen theatertheoretisch nicht sehr informiert), sondern von der 90ger generation, sprich herr thalheimer, herr stemann, sogar noch herr castorf entwickelte sein "heringschmierengröltheater" erst in den neunzigern als kontrast zu diesem herren hohen genuschle der herren und damen aus der damaligen schaubühne.., die heute als "werktreu" verehrt werden..- aber leider , lieder, frau k. muß ich ihnen mitteilen, daß sowohl die volksbühne einen hohen zuschauerzulauf hatte und auch die herren thalheimer und stemann sich des publikumszuspruches nicht beklagen können trotz großen einsatzes von kunstblut inbeiden fällen...es ist KUNST, was produziert wird, eine eigene sprache, einen gesellschaftlichen ausdruck der ZEIT, diese einzigartigkeit der vorstellung im hier und jetzt..sonst könnte man ja, nach IHREM und hernn kehlmanns modell, nur einmal im leben romeo und julia sehen und dann nie wieder, weil es ja keine eigenständige sprache der schauspieler UNd regisseure gibt..und ich kann ihnen versichern: dieses MODERNE theater ist nicht nur ein regietheater, sondern IMMER eine zusammenarbeit von schauspielern und regisseuren..was reden sie denn da dann von "REGIE"-theater, das ist ein begriff aus den sechzigern, total veraltet...- und auch thalheimer und stemann gehören inzwischen zum etablissement, sehen sie sich um, gehen sie in neue stücke, genießen sie die interpretationen dern klassischen texte, seien sie neugierig..ich kann ihnen versichern...nach meiner erfahrung gibt es durchaus zuschauer,und zwar sehr viel, die sogar nach NEUEN interpreatationen dürsten..mit und ihne video, mit und ohne geschmiere und gebrüll..einfach, je nach ausdruck, der das stück und die interpreatation erfordert..es gibt in der musik auch klassik und hiphop und heavy metal und trip hop und rock und techno und neue musik und industrial und und und..und alles ist jeweils eingesetzt als ausdruck eines bestimmten lebensgefühls...wie schön, daß sich eine gesellschaft sogar hofnarren leistet, die das ALLES auf der bühne benutzen dürfen..eben je nach individueller interpretation und künstlerischem ausdruck in zusammenarbeit mit dem autor, aber nicht als sklave des autors..theater ist TEAMWORK, keine sture , dumme ausführung vorgegebener regeln, sondern eine freie zusammenarbeit alles kusntlerischen kräfte...sprerren sie augen und ohre auf und das leben wird bunter...viel spaß..
Ich sehs ein, ich hätte das Zitat "öffentliche Gelder für Projekte zu bekommen, für die sich niemand außerhalb des Kunstbetriebs interessiert", das ich von troya übernommen habe, als solches kennzeichnen müssen und noch fett dazuschreiben, dass ich mich in meiner Antwort auf seine These beziehe, und daraus eine Ableitung bilde, was jedoch nicht a priori bedeutet, dass ich seine These als richtig werte oder anerkenne, und im übrigen ich dies auch gar nicht behauptet habe.
Ich habe lediglich den Gedanken weitergeführt. Hätte ich gewusst, dass es hier Choleriker gibt, die gleich abgehen wie Schmitts Katze wäre ich natürlich sensibler vorgegangen und hätte mich vorsichtiger ausgedrückt. Nun ist es passiert, Ihr Blutdruck ist auf 180, und das nur, weil sie mich mißverstehen wollten oder mussten oder konnten, das überlasse ich nun wirklich Ihnen.
Ansonsten haben Sie mit den Ausführungen über das Regietheater, die Volksbühne, teamwork, modernes Theater usw. wahrscheinlich recht, ich sehe keinen Grund, Ihnen da zu widersprechen.
In die "Orestie" (Deutsches Theater) kamen einmal wegen des großen Andrangs einige Leute gar nicht rein, und das, obwohl die Körper der Akteure viel mit Kunstfarben beschmiert wurden. Offensichtlich besteht für derartige Kunstformen doch ein hohes Interesse, im Gegensatz zu den Behauptungen der Kehlmann-Apologeten. Constanze Becker hat sich in einem Interview über solch konservative Ansichten, wie sie von Kehlmann und Konsorten verteten werden, gewundert. Mitunter kann das sogenannte Regietheater (Veränderung des Originals durch Änderung von Ort, Zeit, Kleidern, Streichungen usw.) sehr interessant sein.
Schillers ästhetische Schriften halte ich teilweise für epigonal, manchmal paraphrasiert er nur Kant, wie z.B. in "Vom Pathetischen und Erhabenen". Zwei so unterschiedliche Existenzen wie Sophie Rois und Otto Schily haben 2005 bei der 200-Jahre-Schiller-Feier daraus gelesen. Ausgerechnet Schily las aus Partien, bei denen in meiner Buchausgabe viel unterstrichen ist. Bei der SPD scheint man sich zumindest in der Freizeit auch mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen.
Anscheinend sehe ich mir immer die falschen Stücke an, denn bei den von mir besuchten wird so gut wie nie Spaghetti gegessen. Immerhin scheint Kehlmann besser informiert zu sein. Ginge ich mit ihm ins Theater, hätte ich den Eindruck, neben einem 70-jährigen Opa zu sitzen.
wenn ich seinen artikel so lese und die bücher voll belesenheit und weisheit könnt ich mir vorstellen, dass er seinen platz vielleicht bald im altersheim findet.
Jüngst gibt es auf spiegelonline.de zu sehen, wie ein weiterer Verfechter des Theaters-wie't-sein-soll seinen Nachruf auf Peter Zadek dazu verwendet, auch mal wieder gegen das Lieblingsmodewort der theatral ewig gestrigen, Regietheater, zu polemisieren.
Kehlmann und Matussek, der Peter Steins "Sommergäste" so großartig fand, dass er sich das Regie-Buch besorgte und die Inszinierung mit seinen Kumpels zu Hause nachspielte sollten (Zitat: "Das kann Theater leisten!), könnte im Pavillion des BE vielleicht ihre eigene kleine Theater-Enklave gründen. Da werden dann Stein- und Zadek-Inszenierungen nachgespielt, historische Kostüme gibt's bei Opi Peymann nebenann und allet is 'ne Molke.
P.s.: Erstaunlich, wie viele fleißige Nachtkritik-Kommentatoren sich immer wieder als schon-längst-nicht-mehr-ins-Theater-Gänger bezeichnen. Was suchen sie wohl noch hier? Ob der Untergang des pösen pösen Regietheaters wohl zuerst auf Nachtkritik veröffentlicht werden wird?
hat kehlmann eigentlich schon einen diener zugewiesen bekommen? tuts auch ein sklave? ist er schon ein dichterfürst? darf ein dichter seinen vater in die leibeigenschaft zwingen? ich habe dazugelernt: regisseure sind offensichtlich übersinnlich begabte menschen, die ihre anweisungen direkt aus der vorhölle der dichter empfangen und so versuchen sollen, den text zu meucheln. denn solange der name des autors in aller munde ist, darf er nicht eingehen ins nirvana. so jedenfalls hat sich das arno schmidt vorgestellt mit dem nachleben als berühmter autor. die sind gezwungen dort zu sitzen, und abzuwarten bis ihre namen vergessen und die TEXTE wieder relevant werden.
haarsträubend auch die perfidität mit der der papa als ästhetischer dissident stilisiert wird, weil er trotzig seine spieler nur in originalkostümen auf bühnen lassen wollte. seit wann kann man ästhetische entscheidungen fällen und das politische ausblenden. das ist nicht konservativ sondern erzreaktionär. sogar die linke clique wird angeführt.
der ekel, der auf den bühnen zum ausbruch kommt, ist sicherlich auch eine reaktion auf dieses kulinarische, dieses ergötzen durch vergötzen, die verstopfung und auf den kannibalismus der auf den bühnen und in der gesellschaft herrscht. das das langsam aufhört ist jeden kartoffelsalat-, spaghetti- oder mousse au chocolate-einsatz wert. ansonsten sollte man es einfach mit sidney lumet halten. das erste gebot des regisseurs ist: du sollst nicht langweilen. ein aufsteigen in den höheren dienst ist dazu nicht notwendig.
Gerade Stemans "Räuber" sind ein gutes Beispiel, was für einen weiten Begriff man vom "Text" oder dem "Stück" an sich haben kann und auf welche Weise man sich diesem Kern anzunähern versucht.
Und dass das weder ausnahmlos schlecht sein muss, aber auf keinen Fall auch ausnahmlos gut.
Wie dämlich, dass Stemanns "Siehste, Daniel! Ich hab alles perfekt gemacht: Historische Kostüme, zeitgemäßer offener Pseudo-Diskurs und die Leute klatschen sogar!" wieder nur nach dem einzig richtigen Weg klingt, den es nicht gibt.
Ach: und wetten, dass es nicht nur bei Steman in der neuen Spielzeit haufenweise "Spaghetti"-Zitate auf der Bühne geben wird... Danke, Daniel!
Mir ging es nicht darum Steman zu kritisieren, dass er historische Kostüme als (abwertendes) Zitat verwendet, sondern allein um die Vermessenheit und die ungeschickte Art, sich selbst als jemanden hinzustellen, der so tolles und richtiges Theater macht, dass es kracht.
Das kritisiert Kehlmann in seiner blöden Rede leider nicht, aber darum könnte es doch eigentlich gehen, dass man auch mal einen ach so diskursiven Steman befragt, ob er mit dem Endergebnis seiner Arbeit (nicht mit dem Probenprozess!) wirklich an das vordringt, was man als die Substanz eines Stückes annimmt.
Sagt der Daniel auch nicht, aber wenn ich mich am Ende mehr an die Inszenierung von Steman erinnere und nicht an den Text von der Jelinek (wie z.b. bei "über Tiere"), kann man ja mal fragen, ob die Inszenierung nicht vielleicht ein bißchen zu viel Gewalt gegenüber dem unheiligen Text angewandt hat.
Ach, und generell sollte es möglich sein, dass man in einem als Absatz getrennten Satz auch noch mal eine Bemerkung macht, die nicht dem Bierernst sonstiger Kommentare gleicht. Wetten dass?
Schließlich, beim Wörtchen "unser" krieg ich blöderweise immer einen Kotzkrampf, entschuldigen Sie bitte.
@ FS: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie in Stemanns Inszenierung von "Über Tiere" den Jelinek-Text vermisst haben? Da kennen Sie aber die Jelinek nicht, die will ihre Texte vernutzt sehen, die will, dass Stemann daraus nochmal was ganz Anderes macht. Das habe ich bereits mehrmals von Jelinek gehört bzw. gelesen. Ich würde auch sagen, dass man zwischen dramatischen und postdramatischen Texten unterscheiden muss. Denn postdramatische Texte schreien ja geradezu danach, dass sie nicht im Sinne der klassischen Hermeneutik dramaturgisch ausgelegt werden, sondern dass sie erst im und über den Prozess des Sprechens auf der Bühne ihre Bedeutung hervorbringen. Auch "Über Tiere" ist dafür ein gutes Beispiel. Dass Ste-Mann (kleiner Scherz) so erhellend-komisch auf die Macho-Bordell-Kultur seiner Geschlechtsgenossen schauen kann, das schätze ich übrigens sehr. Auch Pollesch hat diesen männlichen (Zuhälter-)Blick in seiner Inszenierung "Tal der fliegenden Messer" wunderbar parodiert, Zitat: " ... einzigartig auf meine Weise. Aber wenn's mal nicht läuft, die Show abstinkt, wer wird dann ausgebuht? Ich allein. Aber wenn's gut läuft, kriegen nur die den Applaus, haben nur die den Erfolg ... nur weil sie die Titten zeigen. Seid doch mal ehrlich. Einmal wenigstens!"
Sie schreiben von "Gewalt gegenüber dem unheiligen Text". Ich würde sagen, politisch dringlicher ist die diskursive Kritik an Gewalt gegenüber Menschen.
vgl. bitte!
vgl.!
Die Äußerungen Stemans in dem Interview haben sehr viel Substanz, er gleitet auch nicht, im Gegensatz zu Kehlmann, in private Gefilde ab. Er redet nicht von familiären Demütigungen im Theaterbetrieb, sondern verweist auf ein eigenes Stück, was sein gutes Recht und noch lange keine Selbstwerbemaßnahme ist.
Stemans Bemerkungen jedenfalls sind gehaltvoller als das, was Oberender vor einigen Tagen in der Frankfurter Rundschau vom Stapel gelassen hat. Er verstrickt sich in Widersprüche, redet von der Stärke und Notwendigkeit des Regietheaters, von der Entmachtung der Schauspieler, um dann schließlich festzustellen, dass am Ende des Stücks nie das herauskommt, was der Regisseur sich vorgestellt hat. Und dann träumt er auch noch von einer Art Kollektivtheater... Dass es bei Regisseuren manchmal auf die Tagesform ankommt, erlebte ich gestern wieder bei ARTE Kultur, wo Nübling mehr ins Mikrofon grinste, als große Gedanken zu äußern.
Jeanne, Sie haben da kürzlich zwei Stücke erwähnt, bei denen Kostüme keine sonderlich große Rolle spielen. In "L'Affaire Martin..." ist nur Wuttke heftig kostümiert, er spielt teilweise einen Affen aus Tansania, Volker Spengler trägt eine Haustracht mit Pantoffeln und der weibliche Block (Rois/Groß/Peters) ist weitgehend unverkleidet.
In Richters "Kabale und Liebe" läuft der Präsident (Hartmann) entsprechend seinem Rang wie ein Chefbanker herum. Die Millers als Vertreter des Bürgertums sind natürlich schlichter gekleidet. Für eine längere Passage trägt Lady Milford (Judith Rosmair) allerdings ein "klassisches" Kostüm. Ansonsten ist diese gelungene Inszenierung kein gutes Beispiel für den bewussten Einsatz von Kostümen.
Als Sie diese Sätze niederschrieben, Jeanne, sind Sie nicht gerade zur Höchstform aufgelaufen. Vielleicht sollten Sie zur Abwechslung mal mit jemandem ihre Gefühle vermischen - wie wäre es mit einem Libretto-Spezialisten aus der Afrika-Fraktion?
Flohbär, für Sie tragen die Frauen bei "L'affaire Martin.." also keine Kostüme? Ah ja, bei Ihnen zu Hause laufen die Frauen dann wohl immer in Diener- bzw. Pagenkostüm (wie Sophie Rois) herum. Diese Art der Kostümierung spielt meines Erachtens auf die nur vermeintlich historische Klasse der Adligen an, des Feudalismus, dessen Angehörige bis heute weniger das eigene Leben bearbeiten als vielmehr immer nur "Das Leben der Anderen" (Film von Florian Henckel von Donnersmarck). Das ist vergleichbar mit der Haltung der Investmentbanker, da ändert auch niemand sein eigenes Leben, da schaut auch keiner auf die Konsequenzen und Auswirkungen des eigenen Tuns, sondern da werden die Rettungs-Milliarden des Staates und der Notenbanken wieder in jene Derivate gesteckt, welche die Finanzkrise allererst verursacht hatten. Da streichen die Finanzmanager weiterhin üppige Gehälter und Boni ein, als wäre nichts gewesen. Und die Politik macht (überwiegend) mit: Da wird lieber auf Hartz IV-Empfängern moralisch rumgehackt ("die wollen ja gar nicht arbeiten") und Kassiererinnen werden wegen eines unterschlagenen Pfandbons von 1,30 € entlassen. Ist das gerecht?
In Falk Richters "Kabale und Liebe" tragen Luise und Ferdinand zunächst graue Einheitskostüme, es geht um die Liebe zwischen menschlichen Subjekten jenseits von Stand und Schicht. Doch nach der Intrige des Vaters von Ferdinand (Präsident von Walter) mit Hilfe des Sekretärs Wurm treten Luise und Ferdinand plötzlich wieder in historisch korrekten Kostümen auf, er im Adelskostüm, sie im züchtig weissen bürgerlichen Hängekleidchen. Das ist für mich ganz klar eine Aussage, weil es hier plötzlich doch wieder um Eigentum und Besitz geht, um das ökonomische Prinzip, welches bis heute in Liebesbeziehungen hineinwirkt. Das Private ist immer noch politisch, und umgekehrt. Und ich bin in Höchstform, glauben Sie mir das, etwas anderes lasse ich mir nicht einreden.
Schade, dass in Jeannes Antworten einfach so viel begraben wird, was in vorigen Posts an wirklichem Diskusionsstoff enthalten war.
Noch mal ein Versuch: Ich weiß auch, was Frau Jelinek über ihre Texte sagt. Trotzdem kann (!) man doch mal drüber nachdenken, wenn ich aus "Über Tiere" von Steman im Nachhinein nichts aus Jelineks Text mitnehme außer ein paar netten Improvisationen und einem Bühnenboden, der Leute verschluckt (natürlich erinnere ich mich irgendwie an das Thema). Bei Jossi Wielers "Rechnitz" (der mir von der Inszenierung überhaupt nicht gefallen hat), hab ich noch eine Vorstellung vom Text an sich, weil der Text im Gewicht zur Inszenierung vorkommt.
Natürlich kann das ja auch toll sein, wenn die Inszenierung so auf die kacke haut, die Frage ist doch nur, ob es da nicht auch mal ein zu viel gibt, das ich gar nicht festlegen will wie der Daniel, aber man kann es doch mal andenken, ob es so was gibt...
Ja, Jeanne, ich bin es seit jeher gewohnt, dass die Frauen bei mir daheim in Zofenkostümen herumlaufen und mir den Tee mit einer ofenwarmen Butterbrezel ans Bett bringen. Sophie Rois in einer Pagenuniform, mir den Tee ans Bett bringend - eine sanfte und behagliche Art, in den Tag hineinzukommen.
Spaß beiseite.
"L'Affaire Martin..." kam vor etwa drei Jahren und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass die temperamentvolle Frau Rois ein Pagenkostüm trug. Zumindest Caroline Peters hatte bessere "Straßenkleidung" an. Ich habe mir in den letzten 5 Jahren Hunderte von Theaterstücken angesehen und manche Details sind einfach erloschen. Hinzu kommen noch etliche Filme, deshalb bin ich in diesem Jahr, was das Theater anbelangt, deutlich kürzer getreten. Jeanne, auch die veränderte Kostümierung von Luise und Ferdinand nach der Intrige des von Robert Beyer gespielten Sekretärs Wurm stimmt. Ich habe die Kostümwahl in dieser Szene für nicht so wichtig gehalten. Leider bin ich kein Kostüm-Fetischist wie Kehlmann.
@ genervt & Auch genervt: kein Kommentar, da Sie offenbar nur persönliche Ressentiments loswerden wollen und nicht inhaltlich etwas zur Sache beisteuern.
Was soll eigentlich diese andauernde Falk Richter Werbung? Sehr auffällig...
An die Regisseure unter Euch: Nehmt Euch den Text, den ihr inszenieren wollt, nehmt Euch Schauspieler, die ihr inszenieren wollt, nehmt Euch eine Bühne, wo ihr inszenieren wollt. Lest aus dem Text heraus, nicht in den Text hinein. Liebt Eure Schauspieler, denn sie sind der wesentliche Bestandteil des Theater (EURES Theaters), ihre Phantasie ist die entscheidene am Theater! Und schaut, wo ihr Theater macht, für wen!
An die Feuilletonisten unter Euch: Schreibt meinetwegen über das Theater, das ihr GESEHEN habt. Aber bleibt KONKRET! Nicht jede Inszenierung braucht eine Kulturdebatte.
An die Theaterwissenschaftler unter Euch: forscht meinetwegen über das Theater. Aber Ihr werdet das Theater nicht weiterentwicklen, wenn Ihr seine Sinnlichkeit und Phantasie zerredet und mit Begriffen belegt, die für die Praxis wenig brauchbar sind.
Lasst den Kehlmann doch reden, was er will. Dieses ganze Gerede macht das Theater nur kaputt. Verstehe nicht, warum man sich daran immer so aufreiben muss...
das theater besteht aus sprache, die dann wieder bilder und körper hervorruft..aber theater entsteht zuerst im kopf, in der phantasie ALLER beteiligten: bühnenbildner, kostümmenschen, regie, schauspieler, techniker, ,musiker, dramaturgen etc., theater ist also an sich eine KOPFGBURT, die dann SINNLICH werden darf..mit kopf meine ich jedoch auch die imaginationsseite , icht immer nur die logik im hirn..ABER: theater IST GEREDE!! letztendlich..,und darum ist auch das GEREDE über theater schon eine form und ein bestabndteil des theater..von dem her war auch kehlmanns rede eine art theater..und wenn darüber geredet wird, gehört das zur lebendigkeit und leidenschaft dieser kunst....was glaube sie, warum DIESE seite hier überhaupt LEBT??? weil darin GERREDETm bzw, aufgeschriebene REDE stattfinden darf...
Aber die ganze Debatte hier ist quatsch, wenn nicht über konkrete Sachen gesprochen wird. Es gibt gutes oder schlechtes Theater. Sagt mir, woran man es erkennt! Und kommt mir nicht mit so platten und pauschalem Zeug wie Krause. Der kann so über Romane schreiben, von mir aus, aber wir sind doch nicht im Kindergarten, wo man schreit, wenn man nicht seinen Willen kriegt.
Also, woran erkennt man WIRKLICH GUTES THEATER????
@ genervt: Falk Richter passte einfach ganz wunderbar zur thematisierten Kostümfrage von Kehlmann. Wie gesagt, darin zeigt sich für mich mit Sicherheit nicht die Liebe zum Naturalismus (wie offenbar bei Kehlmann), sondern das ist alles klar durchdacht. Ferdinand trägt nach dieser Intrige pötzlich wieder die historisch-militaristischen Reithosen und Reitstiefel, und das heisst möglicherweise, dass politische und ökonomische Interessen auch heute noch im Vordergrund stehen, wenn "Königskinder" oder die Kinder wohlhabender und einflussreicher Unternehmer heiraten sollen/wollen. Es geht um die Überprüfung der liberalen Vorstellungen am realen (materialistischen) Handeln.
Bei Falk Richters "Verstörung" stellte sich die Kostümfrage erst gar nicht, es sei denn, man betrachtet Cathomas in Unterhose auch unter dem Aspekt der Kostümierung.
Der Text von T. Krause in der "Welt", den ich wegen der Kommentare wiedergelesen habe, ist wahrlich unmöglich. Was die Alten anbelangt: ich las gestern in "Goethe als Intendant" von Dietrich Fischer-Dieskau. Goethe hat 1780 "Die Vögel" von Aristophanes so stark verändern lassen, dass das Original kaum noch zu erkennen war. Von Werktreue hielt der Meister nicht sonderlich viel, er sagte sinngemäß in einem Gespräch zu seinem Sekretär Eckermann - der belesene Kehlmann weiß sicher Bescheid -, dass ein bestimmtes literarisches Werk in der Übersetzung verändert werden müsse, damit der deutsche Leser mehr verstehe, der Unsinn wegfalle und der Inhalt besser rüberkomme.
"Die Räuber" von Schiller wurden in der damaligen Zeit (ab 1782) häufig in die Zeit von Maximilian I. verlegt, als etwa zwischen 1485 und 1515. Wie groß wäre das Geschrei gegen das Regietheater, wenn das ein heutiger Regisseur machen würde! "Die Räuber", angesiedelt in der Weimarer Republik!
Und Schiller hatte in Mannheim seine Sorgen mit seinen Schauspielern. Anscheinend gab es unter seinen Bühnenakteuren die Übereinkunft, "schlechten Dialog durch gutes Spiel zu erheben und guten durch schlechten zu verderben. Es ist das kleinste Merkmal der Achtung, das der Schauspieler dem Dichter geben kann, wenn er seinen Text memoriert" (nach Fischer-Dieskau). Der Dramatiker hätte bei seinen Schauspielern die Peitsche gebraucht, floh aber in Weltuntergangsstimmung nach Jena. So viel zu den Alten.
Alles was K. versucht ist doch von Autorenseite aus einen Tip zu geben wie man mit "Theater aus dem Stück heraus" (natürlich bedingt durch Raum und Zeit) etwas gegen Theater von Dummen für Dumme machen kann. Er glaubt dabei, dass der Text an sich die meisten Fragen beantwortet und eine mächtige Waffe sein kann.
Die Grenze verläuft nicht zwischen reaktionär und modern, sondern zwischen dumm und intelligent.
Damit so etwas wie "Romeo und Julia" und "leonce und lena" am Gorki oder "Anatol" an der Schaubühne nicht mehr geschehen kann.
So dachte ich.
Kostüm ist ein weit auslegbarer Begriff. Es gibt auch ein Adamskostüm, die völlige Nacktheit, und da denkt man bei der Schaubühne natürlich sogleich an Eidinger. Die Zuschauer hatten schon mehrmals Gelegenheit, Bau und Hautsubstanz seines Genitalsystems zu betrachten.
Jeanne, wollen Sie etwa behaupten, dass bei "L'Affaire Martin..." Spenglers Haus- und Bettkleidung inklusive Pantoffeln etwas mit Adel zu tun hatten? Er hockte da, tief eingesunken in seinem Sessel, und trug ein Dress, wie man es bei Opas beobachten kann, die in Krankenhäusern durch die Gänge schlendern, um die ermatteten Glieder ein wenig zu beleben.
Vielleicht waren Sie auch bei der Faust-Version von Marlowe im Studio des BE. Das war eine wahre Kostüm-Orgie, ein Genuss für jeden Verkleidungsfreund, eine Qual wohl für die Schauspieler. Falls Sie dort waren, haben Sie sicherlich noch eine Menge Kostüme im Kopf und können Sie notfalls auch erklären. Es ist ja nicht auszuschließen, dass Sie sich daheim darüber Notizen machen.
auch so zensieren wollende kommentare wie der von olivier, von wegen so etwas wie... sollte nicht mehr geschehen. Allein die Wortwahl, als spräche man vom Holocaust: Auschwitz sollte nie wieder geschehen...
Wo sind wir denn? Das ist doch nur ein Spiel. Dazu gibt es doch Theater, da sieht man eben ganz am Ende erst, ob es gelungen ist oder nicht. Und auch darüber könnte man sich wieder streiten. Wenn einem ein bestimmter Regisseur nicht gefällt muss man ja nicht hingehen oder? Es gibt auch ne Menge Zeugs, das mir nichts sagt, aber vielen anderen Leuten oder vielleicht auch nicht vielen sondern nur ein paar Leuten. So what?
Ich glaube Kehlmann ist da von einem privatem Gram getrieben, der mit dem fallenden Erfolg seines Vaters zu tun hat. Das ist ja auch nicht verwerflich, aber wenn einem nichts am Theater liegt oder man nur sagen will, dass alle Scheiße sind, ist es vielleicht besser das nicht in der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele zu tun, vielleicht aber...
Da hast du allerdings recht, mein kommentar wirkt wirklich zensierend, so hatte ich das garnicht gemeint... (eigentlich wollte ich nur etwas provokant meine haltung zum "dummen theater" in den raum stellen)
[<- und hatte gehofft, so die debatte von "kostüme/nackt" auf "interesse/desinteresse an Stück, Publikum und Welt" zu bringen. (denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es einem intelligenten, autonom denkenden menschen wie kehlmann um weniger gehen kann...
who knows
Wenn Ihre Ironie nicht ankommt, liegt das nicht notwendigerweise am Gegenüber.
Ein unterirdischer Gegenangriff aus dem bezahlten Lager der Täter, die mit ihrer "Modernität" einfach nur ideologisch verbohrt die Zeit anhalten wollen. Und dies mit erpresserischem Erfolg schon seit 1968
ps.: Kunst ist Fetisch! (Von wegen! Oder meinetwegen.)
Als philosophischer Laie meine ich jetzt wieder auf Kehlmanns Rede zurückgeführt worden zu sein.
Auch diesen habe ich so verstanden, dass er Respekt für die Regisseure eingefordert hat, die eine textgetreue, naturalistische, realistische Inszenierung anstreben. Die Rede als ein Aufschrei gegen die Manipulation des Publikums durch eine starke Presselobby gegen die sogenannten "Reaktionäre", "die Ewig-Gestrigen" des Theaters. Oder irre ich da?
@ Susanne Peschina: Natürlich, Respekt gegenüber der älteren Generation von Regisseuren ist geboten. Man kann nur hoffen, dass das dann auch auf Gegenseitigkeit beruht, und dass die "Väter" Ihre "Söhne" ebenso als einzigartige Persönlichkeiten respektieren. The times they are a-changing. Jede junge Generation muss neue Wege gehen, und das ist auch gut so.
Ich bin letztlich dann doch gespannt, ob irgendwann die Frage sich ernsthaft durchsetzt, warum das jetzt nach der "Lottmann-", der "Mattussek-", einer der vielen "Regie-Theaterdebatten"-Ableger, wieder nur "Sommertheater" mit hübschem Titel "Kehlmann-Debatte" werden soll, wenn andererseits Herr Oberender sehr viel deutlichere Worte nachfolgen läßt, die jetzt in Richtung "Kollektivtheater" gehen ..., aber ja zweierlei aufgeworfen haben:
- einen etwaigen Zusammenhang der Kehlmann-Ausführungen mit dem "Bocksgesang" des Botho Strauß
bzw. mit den -meines Erachtens lobenswerten- Beiträgen Peter Handkes zu Jugoslawien (eben nicht "nur" Serbien)
- eine Frage nach der "Schauspielerin", dem "Schauspieler" im deutschsprachigen Theaterraum und
darüberhinaus
Wiebitte ?
Ich muß nach Antwerpen oder Riga fahren, um SchauspielerInnen zu erleben, die als erwachsene Personen agieren und ernst genommen werden ??
Und dann heißt das "Ding" immer noch "Sommertheater"und "Kehlmann"-Debatte, die Kommentatoren und KommentatorInnen in den Diskussionssträngen, welche sonst schon mal Rechtschreibung und dergleichen einander vorrechnen, nehmen das nicht auf, ... ist ne Falle das, ein Insider, hingeworfener Giftköder ... .
Komisch, kein Schauspieler, keine Schauspielerin da, welche ihre Arbeit doch ein wenig anders verstehen !?
Nun ja, ich z.B. war gerade bei dem Völcker/Schlocker-Abend am Nationaltheater Weimar: den kann man vortrefflich diskutieren, aber erwachsen war der auf jeden Fall, sehr gutes Studio-Theater !
Und solcherlei gute Abende gibt es in diesem Theaterland landauf, landab; und selbst ein mäßigerer Theaterabend ist meist gut verhandelbar, mit Gewinn besprech- und aufarbeitbar: schon vergessen ??
Läßt sich auch an "schlechter Philosophie" ganz gut üben; und ein Ergebnis solch schlechter Philosophie scheint mir zu sein, nicht einmal offen zu fragen, wer da eigentlich irgendeinen (und welchen ? und wie ?) Nutzen aus derlei Regie-Theaterdebatten zieht.
Man könnte ja zum Zynismus neigen und behaupten, daß Herrn Khoun garnichts Besseres hätte wiederfahren können, als daß an seinem damaligen Haus dergleichen losgetreten wurde etc. .
Oder entscheiden Politiker letztlich doch so, daß sie irgendwann einen führenden Theaterkopf zitieren: "Keine Erwachsenen ..." ... - und dann eben auch die Mittel kürzen ?!!
Aber soetwas müßte man in diesem Fachforum, das es teilweise ist, recht detailliert und kritisch und für das Theater schreibend, denkend und redend hinbekommen ! Solange aber diese "Theaterpolitik" nicht klipp und klar auf derlei Seiten kommt, werden auch diese ihr Vertrauen und ihre Möglichkeiten im blödest-wahren Sinne des Wortes verspielen: da ist nachtkritik de. auch nicht vor gefeit.
Peter Michalzik schreibt einen saftigen Artikel, hält ein wachsweiches Interview mit Herrn Oberender, wie ich es empfinde: noch einmal also die Frage: "Wem nützt das alles ?"