Nicht über den Haufen schießen

von Kathrin Röggla

Berlin, 18. Mai 2015. Merkwürdig ist, was mit Bernd Stegemanns Auftritt am letzten Mittwoch in der Berliner Akademie der Künste hier passiert ist (und in den Kommentaren weiter geschieht). Vielleicht ist es auch symptomatisch. Der Autor von "Lob des Realismus" zog mit seiner Buchvorstellung jedenfalls vom Kritiker der Veranstaltung Kevin Rittberger jede Menge Aggression auf sich, weil er aufgrund seiner Argumentationsweise einen normativen Anspruch zu erheben schien – das vermute ich zumindest, denn ganz klar ist mir die wüste Antwort auf den Abend nicht.

Dialektik, Klassenverhältnisse, Ideologie sind heute Reizwörter

Ja, Stegemann wurde von Rittberger regelrecht in die Tonne getreten, wie ich das nur selten erlebt habe. Warum das? Reicht es aus, wenn man an historische Realismusdebatten erinnert, an die vielleicht in Zeiten eines sich radikal gebärdenden Neoliberalismus anzuknüpfen wäre, wie es an anderen Theorieorten mit ähnlichen Debatten ebenfalls getan wird? Nein! Vielleicht fehlte Stegemann der Witz eines Slavoj Žižek, dem in "Lob des Realismus" ein ganzes Kapitel gewidmet ist, bzw. wurde der Witz von dessen Autor in Rittbergers Darstellung als rhetorischer Taschenspielertrick diffamiert. Es sind Vokabeln, die hierzulande Reizwörter darstellen "Dialektik", "Klassenverhältnisse", "Ideologiekritik", die nicht einmal genannt werden dürfen, es sei denn, man heißt Terry Eagleton, Alain Badiou oder eben Slavoj Žižek. Es sind Vokabeln, die man sich sicherlich genau ansehen sollte, aber sie mit dem Totschlagargument, sie führten direkt in den Gulag abzuservieren, scheint mir angesichts des hegemonialen Siegeszugs einer Finanzoligarchie nicht ganz angebracht.

Nun habe ich gegenüber Kevin Rittberger den Vorteil, das Buch gelesen zu haben, um das es in dem Beitrag ja implizit nun doch geht. Und ja, sicher, auch an dem Buch kann man einiges strittig finden, vieles zerfällt mir, da es sehr hin- und hergeht, zwischen politischer Theorie, historischen Ästhetikdebatten, gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Überlegungen und konkreten ästhetischen Beispielen, aber genau zum Streit lädt das Buch und sein Autor ja auch ein.

Ein Möglichkeitsraum

Ich habe "Lob des Realismus" eher als Möglichkeitsraum und als Debattenanstoß wahrgenommen, denn als ein Festzementieren eines Realismusbegriffs, eher als Erweiterung und Aufforderung, die utopische Dimension zu begutachten, einen Realismus des Wiedererkennens und gleichzeitig neu und anders Wahrnehmens, als Begehren, Gesellschaft oder die Gesellschaften in ihren Zusammenhängen zu begreifen und darüber eine Kritik der radikal gewordenen neoliberalen Verhältnisse zu versuchen, natürlich mit dem Wunsch, die sich verschärfenden Widersprüche aufzulösen.

situation rooms 560 pigi psimenou uParadigmatische Doku-Arbeit mit Experten des Alltags: "Situation Rooms" von Rimini Protokoll
© Pigi Psimenou

Die Mittel der von Hans-Thies Lehmann vor rund 20 Jahren ausgerufenen und beschriebenen Postdramatik in Bausch und Bogen zu verwerfen, ist unsinnig und unternimmt auch Stegemann in seinem die konkreten Arbeiten beschreibenden Teil nicht. Allerdings liegt es doch auf der Hand, dass gewisse Formen der Postdramatik trotz gegenteiliger Behauptung dem neoliberalen Wohlfühlbereich, der Gewaltzusammenhänge leugnet, zuarbeiten. Als Dramatikerin muss ich aber äußerst daran interessiert sein, welche Zusammenhänge sich durch einen Text, eine Inszenierung, eine Installation zeigen, ob es etwa nur Parallelgeschichten sind, die nur scheinbar etwas miteinander zu tun haben, sie sich einzig durch und im Format von Ipad und Google-Universum vermitteln usw.

Kritik an Realness, Liveness, Dokutheater

Außerdem beschäftigt mich wie Stegemann seit längerem, was es mit dieser wahnsinnigen Begeisterung an Authentizitätseffekten auf sich hat, mit der für mich nach wie vor faszinierenden Sehnsucht eines stets noch verbleichenden Bürgertums nach "echten Leuten mit ihren echten Geschichten" auf der Bühne, die mich genauso ereilt und die Teil auch meiner Arbeit ist. Aber was passiert mit dem Theater, wenn der Text in alltagssprachliche Erzählungen zerfällt, die variiert werden. Wenn sozusagen Spielanleitung, Formaterfindung der künstlerische Eingriff ist, das Authentische der Content, mit dem man den Abend bestückt? Verläuft sich der Handlungsbegriff darin und schafft in so einem naturalistischen Gestus eine Bestätigung der Herrschaftsstrukturen unserer Welt?

Realismus ist sicherlich ein Begriff, der historisches Gewicht hat und jede Menge Problematik in sich trägt – stimmt, ja! Aber wir reden die ganze Zeit um diesen heißen Brei rum, wenn wir, wie Stegemann klar macht, über Realness, Liveness, Dokutheater, Authentizität und Naturalismus reden. Es wäre doch angebracht, über diese Begriffe uns zu verständigen und nicht die Frage danach übern Haufen zu schießen, weil wir uns möglicherweise am Habitus eines Autors stoßen. Fangen wir damit an!

 

kathrinroeggla 140 amrei marie wikimedia uKathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg/Österreich und wohnhaft in Berlin-Neukölln, ist Schriftstellerin und Theaterautorin. Für ihre rechercheintensiven, gegenwartsanalytischen Texte wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Hessel-Preis 2010. Zweimal war sie zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.



Bernd Stegemanns Lob des Realismus bespricht André Mumot für nachtkritik.de.

Zur Kritik des Regisseurs und Autors Kevin Rittberger an der Buchvorstellung von Lob des Realismus in der Berliner Akademie der Künste am 13. Mai 2015.

Die Buchvorstellung und Diskussion lässt sich hier im Audiostream nachhören.

nachtkritik.de veröffentlichte im Januar 2015 in Auszügen Kathrin Rögglas Essener Poetik-Vorlesung.

 

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Kommentare  
Röggla zu Realismus-Debatte: Rittberger antwortet Röggla
"Es sind Vokabeln, die man sich sicherlich genau ansehen sollte, aber sie mit dem Totschlagargument, sie führten direkt in den Gulag abzuservieren, scheint mir angesichts des hegemonialen Siegeszugs einer Finanzoligarchie nicht ganz angebracht."

Dass der real-existierende Sozialismus nur in den Gulag geführt habe und alle mundtot zu machen seien, die dem K-Wort noch was abgewinnen wollen, ist nicht meine Rede. Es ist die vorherrschende Meinung, dass der Marxismus-Leninismus sowie die ihm verpflichtete Geschichtsphilosophie (auch mal „Diamat“ genannt) in den Gulag geführt hätten.

Man schaue sich an: „Kommunismusdebatte im Bundestag an – Hasstiraden von CDU, CSU, Grüne und SPD gegen die Linke:“ https://www.youtube.com/watch?v=XdKQhmt49G8)

Das ist wüst.

Daher muss man genau benennen können, welche Dialektik heute wohin führen soll, wenn man sich nicht diesem „Totschlagargument“ ausliefern möchte.

Und man müsste ebenfalls benennen können, dass nur die Annahme eines auch in Zukunft wieder durch Dialektik zu lösenden „Rätsels der Geschichte“ unser Taumeln in der krisenhaften Gegenwart aufzuheben in der Lage ist und nicht etwa Deleuzes philosophische Denkfigur der „Immanenz“ es vermag (siehe Isabell Lorey: „Die Regierung der Prekären“). Letztere hat meiner Ansicht nach aber viel mehr mit Suchbewegung und Ergebnisoffenheit zu tun hat und begreift sowohl die Fluchtlinien als auch unser Befangensein im kapitalistischen Realismus viel eher.

Wenn es kein Außerhalb der Macht mehr gäbe, das unterstellt der Begriff der Immanenz, dann wäre jeder Ausstieg ein erneuter Einstieg. Das kann man als Kapitulation begreifen oder als Chance. Und man könnte eine ästhetische Debatte auch daran festmachen (Ambivalenz, Unterbrechung, Re-entry).

Wenn es nur um „historische Ästhetikdebatten“ gehen soll, dann wäre das museal und vorgestrig.

Stegemann nennt das Buch „Lob des Realismus“, eine Anspielung auf „Lob des Kommunismus“. Sich Realismus wiederanzueignen, auf Brecht referierend, kann so verstanden werden, sich auch den Kommunismus wiederanzueignen.

Eine Wiederaneignung findet (in Abgrenzung der Aneignung der Marxisten-Leninisten von anno dazumal) außerhalb des Theaters ohnehin statt, praktisch, hier Aktionsformen und Gegenbewegungen, da Ausstiege und Neubeginne, an vielen Orten gleichzeitig. Commons und nicht Zwangskollektivierung, Selbstregierung und nicht Selbstnegierung, Partizipation und nicht Paradies.
Ferne Inseln und Zukünfte braucht es nicht mehr. Allerorten wird an neuen Gemeinbegriffen gearbeitet, wird das Gemeinsame anders gedacht und geprobt, gibt es Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem, zur globalen Kultur, zur gegenwärtigen Lebensweise usf..

Eine Wiederaneignung ist aber sicher nicht zu leisten, wenn einander immerzu vorgehalten wird, welches Buch zu lesen von Vorteil wäre. Das macht den feinen Unterschied. Vielleicht sollten wir unsere Bücher alle irgendwohin hochladen, wenn wir wirklich eine gemeinsame Sorge um das Theater teilen. Aber wir würden die Sorgen gemeinsam buchstabieren, dabei andere Konzepte einbeziehen, die außerhalb des Theaters und der theaterinternen Debatten existieren, die „Sorgegemeinschaft“ etwa, die Gesellschaft nicht mehr als Schutzgemeinschaft versteht, in der sich einzelne Mitglieder voreinander in Sicherheit bringen müssen, sondern über Identität und Nationalstaat hinaus ein Verständnis der Gesellschaft als Sorgegemeinschaft formuliert.

Eine Dialektik kann hier und jetzt, sobald etwa David Cameron wiederum von „Big Society“ spricht und damit Solidarität und Kooperation koopertiert, den Widerspruch jedoch (vorerst) nicht aufheben.
Röggla zu Realismus-Debatte: das Wesen der Dialektik
Ja, Herr Rittberger, das ist ein Wesensmerkmal der Dialektik. Dass die NIE einen Widerspruch aufheben, sondern BESTENFALLS ihn beschreiben kann, damit wir im Hier und Jetzt irgendwie mit ihm umgehen können, ohne sofort an und in unseren Verhältnissen zu krepieren. - Herr Stegemann, ich grüße Sie übrigens- es gibt so einen Witz dieser alten ML-DDR-Garde, die ihr Leben in der Hoffnung zugebracht hatte, durch künstlische Beatmung eines eingerichteten Modellstaates ins Paradies der ewig Guten zu gelangen. Ich liebte den Witz, weil er die Selbstironie dialektisch wirklich gut geschulter Leute offenbarte: Immer wenn ich was nicht verstehe, sag ich einfach, ist Dialektik-
Röggla zu Realismus-Debatte: in die Tonne getreten?
Frau Röggla, ich denke, dass der Herr Rittberger genau so lange auf Herrn Stegemann schreiben darf, was er möchte und wie ihm Argumente einfallen, wie a) Herr Stegemann schließlich darauf antowrten kann
und b) Sie seinen Argumentationsversuch in dem schönen poetischen Bild zusammenfassen, er hätte also den Herrn Stegemann "regelrecht in die Tonne getreten", was schließlich die nk-Redaktion veröffentlicht, also zur Wahrnehmungsfreigabe für uns als nk-Leser freigegeben, hat...
Röggla zu Realismusdebatte: arge Verkennung
Dazu ist nur anzumerken, dass es doch Stegemann ist, der die ganze Zeit versucht, alles "in die Tonne zu treten", was ihm nicht passt oder was er nicht versteht. Dass Stegemann Aggressionen provoziert sollte nicht verwundern: Wie man in den Wald ruft... Auch sehe ich nicht, dass das in den Kommentaren zu Rittbergers Text weiterginge - ganz im Gegenteil, 90% der Aggressionen richten sich doch gegen Rittberger. Es ist schon eine arge Verkennung, Stegemann als den einsamen Rufer in der Wüste zu stilisieren - es ist doch viel verwunderlicher, welch ein breites Forum ihm für seine doch sehr kruden Thesen gegeben werden. Es ist eher so, dass keiner sagen möchte: der Chefdramaturg ist nackig! Das hat Rittberger getan und damit ist er der Rufer in der Wüste, nicht umgekehrt.
Röggla zu Realismus-Debatte: Stegemanns Missverständnis
Das Problem: 1. stegemann mit zizek zu vergleichen, ist lachhaft. 2.Die Reaktionen auf stegemann beruhen auf seinen aggressiven, mit rsentiments gefüllten Aussagen gegenüber Theaterformen, die seinen eigenen formal und intellektuell überlegen sind. wenn ich in letzter Zeit Realismus auf der Bühne gesehen habe, dann bei René Pollesch, und bestimmt nicht auf der Schaubühne. Stegemann unterliegt einem großen Missverständnis.
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