Bayerische Identity Plus

5. Juni 2023. Krise und Konter: Die Münchner Kammerspiele stehen einmal mehr im Zentrum eines Theaterstreits. Zwischen Schauspiel und Performance, Kunstsinnigkeit und Artivismus verwickelt sich das Haus in mal mehr, mal weniger fröhliche Widersprüche – und ähnelt darin der Stadt, in der es steht. Ein Besuch in der Maximilianstraße.

Von Dorte Lena Eilers

Habibi Kiosk: Fenster in die Münchner Kammerspiele © Julian Baumann

5. Juni 2023. Wer in diesen Tagen durch die Münchner Kammerspiele streift, um potenzielle Gegenbeweise zu finden für den kürzlich von der Süddeutschen Zeitung identifizierten Alarmzustand, stößt gleich im Foyer auf einen Flyer, der allen Verteidigungsversuchen einen empfindlichen Dämpfer erteilt. "Mach mal was Verrücktes! Interessier dich!" steht da in großen Lettern geschrieben. Gerne würde man jetzt über den Brillenrand hinweg den Verantwortlichen tief in die Augen schauen. Da aber nur Menschen in Vorabendserien anderen Menschen über den Brillenrand hinweg tief in die Augen schauen, legt man den Flyer, der für das Schulprogramm der Kammerspiele wirbt, schnell wieder weg. 

Ja, wos is jetzt des?

"Ein legendäres Theater in der Krise", lautet der Befund, den die Süddeutsche Zeitung dem Haus an der Maximilianstraße Anfang April ausstellte. Die Argumente, kurz gesagt: Zu wenig Verrücktes. Zu wenig Interesse. Tatsächlich lag die durchschnittliche Auslastung des Hauses – Abweichungen wie partiell volle Säle bei Stücken von Sivan Ben Yishai oder der zum Theatertreffen eingeladenen "Nora" eingerechnet – bis April bei 57 Prozent. Schaut man sich die Beweisführung an, welche auch andere überregionale Zeitungen für die Krise der Kammerspiele erbrachten, erlebt man einen weiteren Serien-Moment. Als sähe man die Fortsetzung der Fortsetzung der Fortsetzung, ähnelt sich die Kritik, welche sich gegen das Programm von Intendantin Barbara Mundel richtet, verglichen mit jener, die Jahre zuvor ihrem Vorgänger Matthias Lilienthal galt, nahezu verdächtig: zu viel Performance – inklusive ihrer gesellschaftspolitischen Anhängsel namens Diversität, Inklusion und Artivismus – und zu wenig großes Schauspieler-Theater. In Bayern würde man nun sagen: Ja, wos is jetzt des?

Ja, wos is jetzt des? Gute Frage. Lassen sich künstlerische Ereignisse tatsächlich in ein solches Schwarz-Weiß-Schema pressen? In München, sagen Münchner gerne zu Münchnern, finde immer alles gleichzeitig statt. Zukunft und Vergangenheit, Weltoffenheit und Folklore, Umweltschutz und BMW. Es existiert ein fröhlicher Hang zur Widersprüchlichkeit, welchen politische Kommentatoren auch als Erfolgsrezept der bayrischen Volkspartei kartographieren. "Die CSU", schreibt CSU-Korrespondent Roman Daininger in der SZ, "ist immer alles und auch ganz entschieden das komplette Gegenteil." Dialektiker wie Adorno hätten ihre Freude daran. Aber auch Künstlerinnen und Künstlern müsste diese Gemengelage hochwillkommen sein. Kunst, soll Münchens berühmtester Dramatiker, Herbert Achternbusch einmal gesagt haben, komme nicht, wie der Kulturminister meine, von Können, sondern von Kontern. Also: Schauspielertheater und das komplette Gegenteil – das müsste doch eigentlich gehen? Offenbar nicht.

Antigone, Münchner Kammerspiele.       Mit: Sebastian Brandes, Johanna Eiworth, Dennis Fell-Hernandez, Frangiskos Kakoulakis, Johanna Kappauf, Nancy Mensah-OffeiRegie: Nele JahnkeBühne: Sabina WinklerKostüm: Lea SøvsøMusikalische Leitung: Hans-Jakob Christian MühlethalerChoreografie: Ula LiagaitėDramaturgie: Rania MleihiVideo: Hanieh BozorgniaLicht: Maximilian KraußmüllerSorgte für Diskussionen: "Anti·gone", Sophokles in leichter Sprache an den Münchner Kammerspiele © Judith Buss

Nun ist der Begriff des Gegenteils angesichts der fließenden Formen von Gegenwartskunst sowieso schwierig. Dennoch lässt sich sagen, dass Matthias Lilienthal und Barbara Mundel zumindest für ein Theater stehen, das anders sein will, als es an den Kammerspielen unter Dieter Dorn, Frank Baumbauer und in gewissem Sinn auch Johan Simons üblich war. Andere Spielformen jenseits des Schauspielertheaters, andere Geschichten jenseits des Kanons, andere Menschen auf der Bühne sowie davor, zusätzlich zu jenen, die man bisher dort sah. Das Haus an der Maximilianstraße hätte so gesehen im Reigen der drei großen Theater der Stadt zu einem produktiven Konter werden können.

Publikum liebt seine Schauspieler*innen

Während am Residenztheater unter Andreas Beck und am Volkstheater unter Christian Stückl nach wie vor und mit großem Erfolg das klassische, freilich mit performativen Elementen flirtende, aber doch am dramatischen Text und der Verwandlungskunst der Schauspieler hängende Ensembletheater über die Bühne geht, hätten die Kammerspiele zu einem Ort werden können, der sich davon unterscheidet. Doch der Konter, zumindest bisher, misslang. Das Münchner Publikum, heißt es in einem SZ-Kommentar zu Lilienthal aus dem Jahr 2018, sei zwar traditionell linksliberal und so neugierig, offen und theaterbegeistert wie kaum ein anderes in Deutschland. Es sei allerdings insofern konservativ, als es Schauspieler liebe und damit auch Schauspielertheater, Schauspielkunst. – Offen, aber konservativ, da ist er wieder, der fröhliche Widerspruch.

Barbara Mundel ist eine Person, mit der man sich im Grunde problemlos über die Widersprüche unserer Gegenwart austauschen kann. Ihr besonderes Interesse gilt dabei einem Widerspruch, der auch in den aktuellen Feuilletondebatte immer wieder konstruiert wird – und zwar jener zwischen dem Begriff "die Münchner", die als seltsam meinungsidentischer Kollektivkörper aufgerufen werden, und der realen Entität, die gemäß aller Umfragen zum Kulturnutzungsverhalten präzisiert werden müsste auf "die Münchner, die ins Theater gehen" und damit schnell auf eine überschaubare Prozentzahl der städtischen Bevölkerung zusammenschrumpfen würde.

Viele Bestrebungen des Hauses, sei es in der Suche nach neuen Themen, neuen Spielformen oder dem Aufbau eines in München, aber auch darüber hinaus einzigartigen, diversen Ensembles, richten sich daher auf die Etablierung eines Theaters als Dritter Ort. Nach Ray Oldenburg, dem US-Soziologen, der das Konzept ursprünglich entwickelte, stehen Dritte Orte allen Bevölkerungsschichten offen. Dagegen kann niemand etwas haben – nur entsteht daraus automatisch eben noch nicht gute Kunst.

"München ist sehr viel härter geworden"

Sowieso gewinnt man momentan den verqueren Eindruck, als hätten Kunst und Politik die Rollen getauscht. Während man sich mit Barbara Mundel sehr ausführlich über Projekte unterhalten kann, die, wie sie selbst sagt, "auch dem Community-Building" dienen, der Habibi-Kiosk zum Beispiel, dem "einzigen Ort auf der Maximilianstraße, bei dem man nichts bezahlen muss", spricht Münchens Kulturreferent Anton Biebl über die "Poesie der Theaterkunst", die er in Inszenierungen wie "Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr" und "Wer immer hofft, stirbt singend" verortet. Man könnte dieser Verwechslung nahezu aufsitzen, hätte Anton Biebl nicht auch, von Amts wegen, eine ganze Liste kulturpolitischer Handlungsfelder in Petto (deren allzu beflissentliches Befolgen die SZ den Kammerspielen vorwirft) – und Barbara Mundel nicht auch noch andere Ideen.

                               Als "Poesie der Theaterkunst" gelobt: "Wer immer hofft, stirbt singend" © Maurice C. Korbel

Im Gespräch regelrecht wütend wird sie, als es um die kürzlich getätigte Veräußerung eines städtischen Riesengrundstücks an Apple geht. Der Tech-Konzern hatte sich Anfang März mittels einer Milliarden-Investition einen 30.000 Quadratmeter großen Future Space mitten in der Innenstadt gesichert. Kritiker befürchten, dass der Zuzug der Digitalelite – auch Amazon, Yahoo, Microsoft und Google bauen in München beständig aus – die eh schon hohen Mieten, die in den vergangenen zwei Jahren bereits um 21 Prozent gestiegen sind, weiter explodieren lässt. "München ist sehr viel härter geworden", sagt auch Barbara Mundel, die Mitte der 2000er Jahre als Dramaturgin unter Frank Baumbauer schon einmal hier wohnte. "Der Verteilungskampf. Der Preiskampf. Die Leute sprechen von Isar-Valley in Analogie zum Silicon Valley in den USA." Das sei auf jeden Fall ein Thema für sie.

Beziehungsweise war es das schon im ursprünglich zur Eröffnung geplanten und durch Corona zerlegten Stadtprojekt "What is the City". Aber auch hier muss, wer den Ankündigungstext liest, der über Situierungen im Netzwerk der Stadt sinniert, Detektivarbeit leisten, um herauszufinden, dass es dabei auch um den ganz realen Kampf um Wohnraum und soziale Gerechtigkeit geht. "Über Klassismus", sagt Mundel erfrischend direkt, "wird in München nicht diskutiert – er findet statt." Wäre daraus nicht ein künstlerischer Funken zu schlagen? Als Intervention in einen städtischen Diskurs? Als richtig großes Ding?

Theater für die Urban Nomads?

Große "Dinger" hat Barbara Mundel als Dramaturgin zwischen 1995 bis 1999 an der Berliner Volksbühne begleitet. Heute sagt sie, "die Volksbühne war ja auch immer ein wenig kraftmeierisch". Ihr gehe es momentan eben auch darum, das Theater als einen Ort zu etablieren für diejenigen, die bislang nicht hier waren. Schön und gut, möchte man den Punkt nickend abhaken. Aber bleiben wir doch kurz dabei. Diejenigen, die bislang nicht hier waren, könnten im Zweifelsfall ja auch die Urban Normads von Apple sein. Die sich für Stoffe interessieren wie "Anti War Woman" über den internationalen Frauenkongress 1915 in Den Haag. Oder für "Halide" über die Ikone der frühen Frauenbewegung in der Türkei. Englisch übertitelt sind viele Kammerspiel-Inszenierungen, im Gegensatz zu Abenden im Residenz- und Volkstheater, die damit gerade erst anfangen, eh.

Barbara Mundel jedoch sagt: Für dieses Klientel habe sie noch kein Gespür. Daher wolle sie Experten für diese Mundel Barbara c Florian PeljakIntendantin Mundel Barbara © Florian PeljakThemen einladen. So geht es hin und her im Kopf der Intendantin. Ansatzpunkte werden erkannt, sogleich aber auch wieder durch gedankliche Gegenoperationen hinterfragt. Den intellektuellen Konter beherrscht sie perfekt, was für einen Dritten Ort, an dem sich alle versammeln, die Vertreter des Bürgertums, des Jetsets, der Marginalisierten, sicherlich nichts Schlechtes ist.

Dennoch scheint es, als würden sich die Kammerspiele in den Widersprüchen derzeit eher noch verhaken, anstatt sie auf die Bühne zu bringen. In die Konfrontation, sagt Mundel, könne man ja nur gehen, wenn man ganz genau wisse, worin sie besteht. Muss man es so genau wissen? Oder lässt es nicht gerade das Theater zu, Beobachtungen, Haltungen, Diskurse offen zu lassen? Wäre es nicht sogar wünschenswert, um nicht belehrend daherzukommen? Vorsicht jedenfalls dient der Theaterkunst nicht. Was sich mitunter auch bei der Suche nach neuen Formen zeigt.

Die performative Intervention "in my hands I carry", die an einigen Abenden vor dem Stück "Anti War Woman" gezeigt wird, ist ein Beispiel dafür. Sie beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema, versandet aber leider in ihrem Setting. Sechs Schwarze Performerinnen bewegen sich durch das Foyer, teils als Gruppe, teils allein, teils ein schweres Seil tragend. Eine stille Prozession von starker Präsenz, die, so heißt es auf der Website, die Dekolonisierung öffentlicher, weißer Räume durch Besetzung und Unterbrechung symbolisieren soll. Unterbrechung aber setzt auf Irritation – dass in einem Theater, und sei es im erweiterten Sinn im Foyer, Theater stattfindet, sorgt jedoch kaum für Erstaunen, auch wenn sich die Performerinnen vom mehrheitlich weißen Publikum deutlich absetzen. Aber reicht die alleinige Markierung dieser Differenz? Eher nicht.

Neue Aufgaben auch für die Rezensent*innen 

Vielmehr führt die künstlerische Zaghaftigkeit vieler Kammerspiel-Performances dazu, dass das Genre, unter Beteiligung der Presse, in Gänze abgewertet wird. Längst haben sich – und das fing schon in Berichten über Lilienthal an – die einst neutralen Fachtermini im Verlaufe der Diskussion zu semantisch mit Wertung aufgeladenen Kampfbegriffen stilisiert. Performance ist schlecht, Schauspielertheater gut, was in dieser Zuspitzung natürlich nicht stimmt – auch in München nicht. So ehrte die Stadt im vergangenen Jahr in einer vielbesuchten Ausstellung die Performancekunst der städtischen freien Szene, zu der nicht nur Fassbinger, Kroetz und Tabori zählten, sondern auch Produktionen mit Spielerinnen und Spielern mit Behinderung, entstanden am TamS-Theater bereits in den achtziger Jahren unter dem berühmten Peter Radtke. "Ziel der künstlerisch ambitionierten Revoluzzer", schreibt Kuratorin Birgit Pagner im Katalog, "war ein offenes, dem Heute und der Zukunft zugewandtes Theater, das das Lebensgefühl der jungen Generation ausdrückte. Sie fühlten sich zu einem Theater der Erneuerung, viele (nicht alle) zu einem Theater des Experimentierens berufen." Der sprechende Titel der Ausstellung: "Die Lust am anderen Theater".

Nun ist die große, auch überregional beachtete Zeit der Münchner freien Szene leider vorbei. Und trotzdem gibt es sie noch, die einstigen Zuschauer und Protagonisten – auch in Form der nächsten Generation. Wenn allerdings die These aufgestellt wird, Spielerinnen und Spieler mit Behinderung seien, ähnlich wie Gerhard Stadelmaier es in Bezug auf Peter Radtke einst formulierte, nicht rezensierbar, läuft möglicherweise nicht nur auf der Produzentenebene etwas schief. Theater, das mit anderen Energien auf der Bühne arbeitet, muss anders gebaut sein als ein klassischer Texttheaterabend. Aufgabe von uns Rezensentinnen und Rezensenten muss es daher sein, theatrale Ereignisse, die jenseits des klassischen Als-Ob-Theaters operieren, zu erkennen und professionell zu analysieren. Mit dem Rezensionsbesteck des großen Schauspielertheaters wird das schwierig.

Die Kammerspiele stehen für den Versuch, die gesellschaftlichen Bewegungen mit unterschiedlichsten theatralen Mitteln zu spiegeln. Nach den Querdenker-Phasen, der Rückkehr des Krieges nach Europa, aber auch den zahlreichen identitätspolitischen Auseinandersetzungen sind diese aber eben nicht mehr so klar zu fassen. Dafür hat Barbara Mundel ein feines Gespür. Würde daraus Theater, wäre sehr viel erreicht. In welcher Form dies geschieht, ob nun als Schauspiel, Performance, Intervention, inklusiv, divers oder mit Laien, ist letztlich egal. Wichtig ist eine stimmige und überzeugende künstlerische Form. Mackertheater mit Mackerinnentheater zu kontern, wie bei Florentina Holzinger etwa. "Artivist" zu sein und dabei künstlerisch und intellektuell stark wie Milo Rau. Denn das ist die Kerneigenschaft von Kunst: Inhalten eine Form zu geben, um sie von der Realität, welche sie fesselt, zu entbinden. "Es gibt", und diesen Satz sagt wieder Kulturreferent Anton Biebl, "sehr viele unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen. Sie alle sollen an den Kammerspielen stattfinden können – bei hohem künstlerischem und gesellschaftspolitischem Anspruch."

Anti3 c Julian Baumann u"Anti War Women" von Jessica Glause © Julian Baumann

Aber auch das sollte man bei einem traditionsreichen Haus wie den Kammerspielen nie vergessen: Dritte Orte, so hatte es Ray Oldenburg einst formuliert, besäßen neben allem anderen eben auch Stammgäste, die man nicht ignorieren darf. Zumal das an den Kammerspielen tradierte Schauspielertheater, folgt man dem neu ausgerufenen Trend zum Netflix-affinen Erzähltheater, wie es das Residenztheater derzeit mit dem "Vermächtnis" praktiziert, plötzlich wieder Avantgarde geworden zu sein scheint. Doch auch wenn Stadt und Intendanz nun ganz richtig auf die Kritik reagiert haben und in der nächsten Spielzeit zusätzlich große Schauspielertheater-Abende im Programm haben, mit Stücken von Elfriede Jelinek und Sasha Marianna Salzmann zum Beispiel, inszeniert von Jan Bosse und Falk Richter, sollte man, anstatt mit äußeren Begriffszuschreibungen zu jonglieren, nie aufhören, auf die innere Verfasstheit von Stücken zu schauen. Dabei entdeckt man, was an den Kammerspielen auch bisher gelang.

Im Drama haben alle Unrecht, sonst wäre es kein Drama

"Jeeps" von Nora Abdel Maksoud sowie das bereits genannte "Wer immer hofft, stirbt singend" von Jan-Christoph Gockel nach einem Film von Alexander Kluge sind Abende, die sehr gut laufen. Das eine klassisches Schauspieltheater, das andere performativer mit einem inklusiven Ensemble. Beide eint, dass sie in ständigen Kippbewegungen die Widersprüche unserer Zeit zu thematisieren vermögen, und zwar als werkimmanentes Prinzip. Abdel Maksoud in Bezug auf den Klassenkampf, Gockel mit Blick auf das politische wie theatrale Spektakel, das er gleichzeitig feiert wie hinterfragt. In gewisser Weise arbeiten sogar die jederzeit erfolgreichen Gerhard-Polt-Abende so. Formal betrachtet satirische Identitätsdekonstruktionen, die nicht nur mit Bayerischer Identity funktionieren, sondern mit Identitätszuschreibungen generell, wie bereits vor vielen Jahren Nurkan Erpulats "Verrücktes Blut" am Berliner Ballhaus Naunynstraße bewies. In einem Drama haben alle Unrecht, sonst wäre es kein Drama, könnte man einen Satz von Peter Handke umformulieren.

Barbara Mundel müsste in ihrer dem analytischen Zweifel geschuldeten Nachdenklichkeit als Leitungsperson dieser Unternehmung nur einem bekannten Parteiboss in Bayern einen ebenfalls von der SZ trefflich beschriebenen Striezi-Kniff klauen: Gleichzeitig Kapitänin von Team Vorsicht und Team Freiheit zu sein. Erst so entsteht ein intellektuell, wie energetisch freies Spiel, das auch mal kräftig über die Stränge schlägt und sich selbst dabei fröhlich aus der Bahn kickt. Das Lust hat zu stören und zu verstören. Das die Kraft hat, lebendig zu sein.

Dorte Lena Eilers c Ben WolfDorte Lena Eilers
© Ben Wolf
Dorte Lena Eilers ist Professorin und Leiterin des neuen Masterstudiengangs "Kulturjournalismus" an der Hochschule für Musik und Theater München in Kooperation mit der Theaterakademie August Everding. Zudem arbeitet sie als Kulturjournalistin, überwiegend in den Sparten Musik und Theater vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Zuvor war sie von 2007 bis 2021 Redakteurin, zuletzt Chefredakteurin von Theater der Zeit. Sie ist Mitglied im Kuratorium des Fonds Darstellende Künste und im Beirat der Zeitschrift „junge bühne“ und war in diversen Jurys tätig (u.a. beim Theaterpreis des Bundes und den Mülheimer Theatertagen).

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Münchner Kammerspiele: Die Quintessenz
Dorte Lena Eilers schreibt am Ende entscheidende Sätze, die den derzeitigen Zustand der Münchner Kammerspiele betreffen: „Barbara Mundel müsste …“, schreibt sie, „Gleichzeitig Kapitänin von Team Vorsicht und Team Freiheit … sein. Erst so entsteht ein intellektuell, wie energetisch freies Spiel, das auch mal kräftig über die Stränge schlägt und sich selbst dabei fröhlich aus der Bahn kickt. Das Lust hat zu stören und zu verstören. Das die Kraft hat, lebendig zu sein.“ „Team Vorsicht“ am Theater ist vielleicht nicht nötig. (Ich verstehe nicht ganz, warum Frau Eilers von Vorsicht spricht.) „Team Freiheit“ scheint mir entscheidend! Und da sollte Frau Mundel vielleicht nicht zu viel analysieren, zaudern, zweifeln. Freiheit und Mut mögen alle, es geht um Kunst! Performativ oder klassisch schauspielerisch. Da gibt es auch angesichts des Residenztheaters oder des Volkstheaters durchaus noch Spielraum! Und mit (mutigen) intellektuellen „Leuchttürmen“ zusammenarbeiten. Ich verfolge die Theater seit Jahren, hier: www.qooz.de!
Münchner Kammerspiele: Generelles Problem
"...ein intellektuell, wie energetisch freies Spiel, das auch mal kräftig über die Stränge schlägt und sich selbst dabei fröhlich aus der Bahn kickt. Das Lust hat zu stören und zu verstören. Das die Kraft hat, lebendig zu sein", wünscht sich Frau Eilers für die Kammerspiele. Allerdings trifft die treffende Analyse der Verzagtheit und des fehlenden Willens, auch mal (intellektuell und ästhetisch) anzugreifen auch auf viele andere Häuser zu und ist mittlerweile ein generelles Problem der Theaterlandschaft geworden. Das Schauspiel Hannover, das eben vorgestellte neue DT-Programm und bald mutmaßlich auch das Hamburger Thalia Theater, überall Leitungspersönlichkeiten, die alles, aber auch wirklich alles richtig machen wollen, denken bis zum umfallen, aber an ihren Häusern keine Kunst mehr ermöglichen, an der man sich irgendwie reiben kann. Und ohne Reibung geht es eben nicht!
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