Kommentar: Zur Auswahl des Berliner Theatertreffens
Ein denkwürdiges Treffen
26. Januar 2023. Die Theatertreffen-Jury hat Lust auf Kunst. Die neue Leitung will sie mit Politik umgarnen. Bei der Präsentation des neuen Zehnertableaus zeigt sich, wie die Fraktionen auseinanderdriften.
Von Christine Wahl

26. Januar 2023. Das ist doch mal eine Jury-Aussage: Ganze sieben Newcomer:innen zählt die Zehner-Auswahl des diesjährigen Berliner Theatertreffens, die am Donnerstag auf der Pressekonferenz im Haus der Berliner Festspiele bekanntgegeben wurde. Und selbst von den drei festivalbekannten Künstler:innen hat lediglich einer "Altmeister"-Status: Sebastian Hartmann, der mit seinem Max-Stirner-Philosophical Der Einzige und sein Eigentum vom Berliner Deutschen Theater zum vierten Mal dabei ist. Die beiden anderen – Florentina Holzinger und Antú Romero Nunes – bekamen "erst" ihre zweite Einladung.
(Fast) alles neu also beim Berliner Theatertreffen 2023? Die Frage ist komplex, in praktisch jeder Hinsicht. Denn von der Bekanntgabe der Juryauswahl abgesehen, die ja für die Branche ohnehin jedes Jahr Breaking-News-Charakter hat, stellte sie sich diesmal auch hinsichtlich der Festivalstruktur. Mit dem Viererteam aus Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska ist unter der Intendanz von Matthias Pees eine neue Theatertreffen-Leitung angetreten, die im Vorfeld öffentlich mit Internationalisierungsgedanken gespielt hatte. Auch die Frage nach möglichen kuratorischen Plänen des Quartetts – und damit zur Zukunft der unabhängigen Kritiker:innen-Jury – war vor dieser Pressekonferenz perspektivisch nicht vom Tisch. (Und sie wurde auch diesmal nicht erschöpfend beantwortet, doch dazu später.)
Klug und ernsthaft
Zunächst zurück zur Auswahl und einem zweiten augenfälligen Aspekt: Unter den sieben Theatertreffen-Newcomer:innen befinden sich mit Lucia Bihler, Felicitas Brucker, Philipp Preuss, Mateja Koleznik, Philipp Stölzl (der allerdings vorwiegend im Musiktheater-Kontext arbeitet) sowie dem freien Kollektiv De Warme Winkel sechs Namen, die zwar seit Jahren kontinuierlich sichtbar und künstlerisch gut im Geschäft sind, bisher aber eben noch nicht unter den Festival-Top-Ten waren. Den in diesem Sinne einzigen veritablen Neulingsstatus hat die 1990 geborene Berlinerin Rieke Süßkow mit ihrer Peter-Handke-Uraufführung Zwiegespräch vom Wiener Burgtheater inne, die klug und ernsthaft, aber ehrfurchtsfrei in den Text hineinhorcht und ihn in ein konzeptionell ebenso starkes wie ästhetisch eigenes Setting übersetzt: Hier gibt es im Mai wirklich eine originäre neue Regiehandschrift zu entdecken.
"Ophelia's Got Talent" von Florentina Holzinger, Volksbühne Berlin © Nicole Marianna Wytyczak
Ganz gleich, wie man die Entscheidungen im Einzelnen bewertet: Die Auswahl lässt auf eine im besten Sinne kunstimmanente Findungsdiskussion schließen. Unabhängige Kritiker:innen-Jury at it`s best sozusagen: Seinen Job – die Suche nach dem bewusst schwammig gehaltenen "Bemerkenswerten" jenseits kuratorischer Erwägungen – scheint das Gremium jedenfalls sehr ernst genommen zu haben. Gedanken an Proporz-Entscheidungen drängen sich beim Blick aufs Tableau nicht auf: Einige Theater-Metropolen wie Hamburg oder Zürich, normalerweise immer für einen Hochkaräter gut, sind dieses Jahr nicht dabei. Und die freie Szene ist ebenso nur mit einer Position vertreten wie Ostdeutschland. Dafür handelt es sich dann bei beiden Positionen nach den Juryverlautbarungen um besonders konsequente Setzungen – und echte Überraschungen im Programm zumal. Jedenfalls dürften den Bochumer Erinnerungskultur-Hinterfragungsabend Der Bus nach Dachau von De Warme Winkel und Philipp Preuss' Hamlet-Inszenierung aus Dessau wirklich nur die wagemutigsten Spekulant:innen auf dem Zettel gehabt haben.
Nimmt man die Auswahl als Seismograf fürs Ganze, scheint sich die Bühnenkunst wieder stärker aus dem Kleinteiligen, Projekthaften herauszubewegen, das in den letzten Jahren häufig beobachtet (und kritiker:innenseits teilweise beklagt) wurde. Mit Hamlet, den Kindern der Sonne, dem Sommernachtstraum und Nora stoßen sich fast die Hälfte der Arbeiten von Kanon-Klassikern ab. Und auch die Position "großes Erzähltheater" ist vertreten – mit Philipp Stölzls Matthew-Lopez-Mehrstünder Das Vermächtnis, der "besser als Netflix" sei, wie Jurorin Petra Paterno versprach.
In parallelen Welten
Es lassen sich also durchaus einige Hypothesen aus dem Programm herausdestillieren zum Gesamtbild der Theaterlandschaft, die von der Jury – mit 461 gesichteten Produktionen in 58 Städten – weiträumig bereist wurde. Wobei diese Exegese im individuellen Close Reading erfolgen muss(te). Das Theatertreffen-Leitungsteam, das die Pressekonferenz ohne die kurzfristig familiär verhinderte Carolin Hochleichter als Trio bestritt, verzichtete auf einordnende oder überblickende Gedanken – was einen deutlichen Unterschied zu den früheren Festivaljahren und möglicherweise tatsächlich einen Richtungswechsel markiert. Jury und Leitung saßen zwar im u-förmigen Konferenztisch-Arrangement absichtsvoll durchmischt beisammen, aber bei den Perspektiven aufs Festival drängten sich eher Parallwelt-Assoziationen auf.
Das neue Leitungsteam des Berliner Theatertreffens: Marta Hewelt, Carolin Hochleichter, Joanna Nuckowska und Olena Apchel (v. l.) © Jacobia Dahm / Berliner Festspiele
Während Vorgängerin Yvonne Büdenhölzer das Neben- und festivalbegleitende Diskurs-Programm im Nachgang zur Auswahl aus den aus ihr heraus ersichtlich gewordenen Tendenzen entwickelt hatte, konfrontiert die neue Leitung die 10er-Auswahl dezidiert mit außerästhetischen, also politischen oder kunstaktivistischen Fragestellungen. Das Rahmenprogramm wird aus zehn "Treffen" genannten Zusatz-Formaten bestehen, die sich jeweils einem Thema widmen (von "Verantwortung" über "Solidarität" oder "Transfeminismus" bis zu "Network") und die Auswahl – wie es Marta Hewelt formulierte – "umrahmen, umgarnen und umarmen" sollen. Unter dem Dachlabel "Treffen" können dabei Gastspiele genauso wie Diskussions- oder Begegnungsformate Unterschlupf finden. In einigen "Treffen" werden auch bestehende Programmsparten wie das Internationale Forum integriert.
Ob das jetzt ein für die nächsten Jahre fortbestehender Festival-Zuschnitt sein wird und inwiefern die nach Amtsantritt geäußerten Internationalisierungsgedanken darin aufgehen werden, blieb auch auf Nachfrage nebulös – was nicht nur der Übersetzung geschuldet war. Fest indes steht, dass die noch unter Büdenhölzer eingeführte Frauenquote – 50 Prozent der eingeladenen Arbeiten müssen von Regisseurinnen stammen – auch für die 2024er Auswahl fortgesetzt werden soll. Alles Weitere wird man sehen, spätestens im Mai.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 29. Mai 2023 Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2023 an Dominik Dos-Reis
- 29. Mai 2023 Cannes-Preise für Filme mit Sandra Hüller
- 29. Mai 2023 Margit Bendokat ist Ehrenmitglied des DT Berlin
- 26. Mai 2023 Mülheimer Kinderstücke-Preis an Roland Schimmelpfennig
- 25. Mai 2023 Die Schauspielerin Simone Thoma ist gestorben
- 25. Mai 2023 Auszeichnung für Schauspielerin Vivienne Causemann
- 25. Mai 2023 Preise für Schweizer Schauspieler*innen
qooz.de/2023/01/27/theater-theatertreffen-2023-die-pressekonferenz-ein-desaster/
PS: Und dabei ist die Auswahl echt nicht uninteressant. Arme Jury.
Da hilft auch die vorgeblich neue ("feministische"?) Perspektive, die die neue mehrköpfige Leitung (Motto: Diversität) darstellen soll, nicht viel, denn "die da oben" werden, egal woher sie kommen, sind sie mal oben gelandet, die "da unten" nicht wahrnehmen, wenn sie den Olymp nicht verlassen wollen. Das bleibt, mit historischer Festigkeit, aufrecht. Weiterhin nicht wahrnehmen: Da hilft schon die stets elitäre "Best-of"-Jury kräftig mit, die sich nur zwischen all den "Großen" schwer entscheiden muss und dann bemüht die (bereits belegt, also in keinem Fall "riskanten", erfolgreichen, gehypten, im besten Falle "weiblich gelesenen") "Jungen" unter den "Großen" herausfiltert. Was bleibt, ist ein Treffen, das sich nur im Oben abspielt und konsequent nicht Inklusion, sondern Exklusivität verkauft. Was es bräuchte, wären strukturelle, systemische Änderungen, etwa Stipendien für Personen, die in unterschiedlichsten Funktionen tätig sind und sich weder Reise noch Eintritte leisten können - egal, wie alt sie sind (statt Generationen-Splitting, wie es überall und vor allem im Theater nur zu beliebt ist). Stattdessen wird gezwungen nach immer jüngerem "Nachwuchs" ("Frischfleisch" hieß das früher) gesucht und dieser nach globalem Marketingmuster gut verkauft, weil man ja immer etwas Neues verkaufen muss, und Bücher herausgebracht, in denen Frauen in den ersten Reihen über ihren oh wie schweren "Weg" von oben nach ganz oben referieren und wie es ihnen damit geht (Hohn an alle, die das eben nicht "geschafft" haben). "Solidarität" unter sich: Das ist einfach, wenn man sich im Wohlfühlort zwischen Gleichen befindet und selbst belobt. Solidarität und Auseinandersetzung mit all den "Unsichtbaren" dieses weiten und komplexen Feldes, in dem es abseits aller ästhetischer Fragestellungen immer auch um existenzielle Fragen (auf und abseits der Bühnen) geht, die fehlt auch weiterhin und wird sich sicher mit wie auch immer zu definierenden "50:50"-Quoten unter all denen "da oben" nicht in die Realität umsetzen lassen. Allein das Rahmenprogramm dieses Jahres spricht hier Bände.
Liebe Nachtkritik,
als journalistisches Portal dürftet ihr schon etwas kritischer sein. Die Performance dieser "Konfrontation" war so wie sie der Kommentator in #4 beschreibt. Peinlich.
Dass gestreamt wurde zeigt die totale Verblendung.
In der Jury sind zahlreich Journalist/innen vertreten, die (auch) für euch schreiben, aber deshalb einfach zu verschweigen, das es ein verunglückter Auftritt war?
Vielleicht ist es wie bei manchen Kolleg/innen früher, erst harte Theatertreffen-Kritiker, und sobald man selbst dabei sein darf, lässt man Unsinn eben unkommentiert. Schade.
Ein weiterer - diesmal ganz dicker- Minuspunkt für die Jury. Nur weil jemand etwas ausprobiert, ist das noch nicht bemerkenswert. Es sollte auch gut gemacht sein.