Der Einzige und sein Eigentum - Deutsches Theater Berlin
Mir geht nichts über Mich!
5. September 2022. Wenn Sebastian Hartmann sein Regiebesteck auspackt, geht’s meist um das große Ganze. Wie in "Der Einzige und sein Eigentum", in dem er und Musiker PC Nackt aus Texten des Vormärz-Philosophen und Individualismus-Apologeten Max Stirner eine rauschhafte Elektropop-Oper machen, die das Zeitalter der Singularitäten zu Grabe trägt. Ein Referenzabend!
Von Christian Rakow
5. September 2022. Das war so nicht zu erwarten, dass man mit Max Stirner noch was reißen könnte. Der Vormärz-Philosoph, den Marx und Engels in ihrer "Deutschen Ideologie" als "Sankt Max" verspotteten, schwingt in seinem Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum" (von 1844) eine eher grobe Keule: gegen alle Institutionen, gegen Recht, Sitte und Moral. "Mir geht nichts über Mich!", sagt Stirner und wird damit zum Vorläufer für Nietzsches radikalen Individualismus wie entfernt auch für den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts.
Im Ich-Labyrinth
Nun ist an Egoismen und an Überhöhung des Ich in unseren Tagen kaum ein Mangel. Und während man Stirners hämmernde Subjekt-Philosophie vor 1848 noch als eigenwilliges Aufbegehren gegen den durchreglementierten Obrigkeitsstaat auffassen konnte, klingt's heute total nach Mainstream, wenn Stirner proklamiert: "Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt mein Gefühl der Einzigartigkeit (…). Ich hab' meine Sach' auf Nichts gestellt!". Nach dem Siegeszug des Neoliberalismus hat sich die Gesellschaft der Spätmoderne gründlich in "Einzigartigkeiten" (Singularitäten, wie der Soziologe Andreas Reckwitz sagt) aufgelöst. Der Individualkonsum blüht und jedes Ordnungsbestreben des Staates ist heuer verrufen, als "Verbotspolitik", als "Verzichtsdrohung", als irgendwie diktatorischer Eingriff. In so einer Situation kann Stirner doch eigentlich nur als Eule nach Spree-Athen flattern.
Aber dann kommt der Regisseur Sebastian Hartmann und legt genau diese individualistische Auflösungsbewegung mit schonungslosem Zugriff frei. Hartmann hat fürs Deutsche Theater Berlin Stirners Traktat in Verse überführt und gemeinsam mit seinem Komponisten PC Nackt durch den Synthesizer gezogen. Und herausgekommen ist ein fieberndes Singspiel oder ein Musiktheater, vielleicht auch eine Elektropop-Oper, jedenfalls ein berückendes Stück spartenübergreifender Bühnenkunst.
Der Raum (den Hartmann wie üblich selbst entworfen hat) erinnert entfernt an die minimalistischen Betonringe, die Donald Judd 1977 für die Skulptur Projekte Münster errichtet hat. Spiralförmig wird darin ein grau aufragender Turm umfasst. Wie ein Schneckenhaus aus Zement mutet er an, oder ein Ich-Labyrinth. Das Gebilde dreht sich unentwegt, fährt hoch und runter, und davor eilen die sechs Vokalakrobat:innen umher, die sich den Ich-Tiraden Stirners stellen.
Sisyphus an der Spiralmauer
Aus traurigen, kajalgeschwärzten Augen blicken sie uns an: Felix Goeser, ein herzwunder Entertainer, oder Anja Schneider als stille Diva. Linda Pöppel und Elias Arens schlenzen sich mit gummiartigen Bewegungen vor die karge Wand und bieten etwas längere Stirner-Monologe: "Ist es mir recht, so ist es recht / Ist es mir recht, so ist es recht", lehrt Arens und stanzt Stirners Machtherrlichkeits-Doktrin Silbe für Silbe aus, in einem langen Mantra. Wer aber bald darauf Cordelia Wege mit Versen auf den Lippen wie ein dunkles Schneewittchen in einem Glassarg voll Wasser ertrinken sieht, – oder wer erblickt und leidet, wie der junge, fabulöse Niklas Wetzel im Finale gleich einem Sisyphus an der Spiralmauer mit stockenden Worten ächzt, der weiß, hier gibt's keine Apotheose des Ich, keine Feier des Egoismus. Hier drückt sich das Leiden unserer hyperindividualisierten Zeit aus, in der der Konsummensch in ungebremster Bedürfnis(über)sättigung zerfließt, während ihm die Umwelt abhanden kommt.
Sebastian Hartmann ist bekannt für seine flächigen, poetischen, ganz und gar von der Lyrik her gedachten, auf Geschichte und Handlung pfeifenden, mit Video, Visual Arts und Soundlandschaften zum Gesamtkunstwerk aufragenden Inszenierungen. Egal ob er Ibsen, Hamsun oder Shakespeare umsetzt. Seine Stirner-Vertonung "Der Einzige und sein Eigentum" gehört zum Feinsten, was er am Deutschen Theater vorgelegt hat und schließt an große Momente seiner Leipziger Centraltheater-Intendanz an (wo er etwa bei Mein Faust bereits mit Maestro PC Nackt musikalisch zusammenarbeitete).
Alles ist angerissen, nichts ausgemalt
Hartmanns Kunst entführt in die Details der Bühnenarbeit. Jeder schräge Gang, jede Zuckung, jedes lockere Schlenkern der Gliedmaßen bekommt Gewicht (an den wundervollen Choreographien hat Ronni Maciel mitgewirkt, der ansonsten bei Constanza Macras tanzt). Schwerelos rhythmisieren sich die Texte entlang der Elektro-Sounds, die PC Nackt (am Klavier) und Earl Harvin (am Schlagwerk) live vorgeben. Figuren ploppen auf, kokettieren kurz mit einer Marotte und ziehen sich sofort zurück. Alles ist angerissen, nichts ausgemalt. Alles schwebt. Selbstironisch sind die Sechs immer wieder, aber auch das wohldosiert. Sie huldigen dem Varieté, aber transzendieren es. Was Gestalt gewinnt, zerrinnt alsbald in Atmosphären. Zum visuellen Höhepunkt können wir Zuschauer 3D-Brillen aufsetzen, um in eine computeranimierte Videowelt (von Tilo Baumgärtel) einzutauchen. Hartmann goes IMAX-Theater.
Adriana Braga Peretzki (langjährige Kostümbildnerin für Hartmann wie auch für Frank Castorf) entwirft für die tendenziell monochrome Bildsprache der Aufführung ein ganzes Arsenal an Kleidern, an denen man sich kaum sattsehen kann. Wenn die Spieler:innen eingangs in schwarzen Bürger-Anzügen und mit Hüten umherirren, dann lässt sich kaum sagen, ob sie eher einem Magritte-Gemälde entsprungen sind, oder einem Buñuel-Film, oder ob doch die deutsche Schauerromantik die Feder führte. Dunkle Engelsgestalten schneien herein, faustische Wiedergänger in schwarzen Talaren, funkelnde Diven. Manches Kostüm wie ein Paillettenkleid von Cordelia Wege gibt es nur, weil sich darin herrlich ein Rhythmus zurechtschütteln lässt. So greifen die Künste hier spielend ineinander. Ein schillerndes, komplexes Werk. Ein Referenzabend – besser kann's zum Saisonauftakt gar nicht laufen.
Der Einzige und sein Eigentum
Ein Stück Musiktheater von Sebastian Hartmann und PC Nackt nach Max Stirner
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Komposition und musikalische Leitung: PC Nackt, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Video: Tilo Baumgärtel, Licht: Lothar Baumgarte, Choreografie: Ronni Maciel, Video: Roman Kuskowski, Ton: Marcel Braun, Matthias Lunow, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Elias Arens, Felix Goeser, Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege, Niklas Wetzel, PC Nackt (Tasten), Earl Harvin (Schlagwerk), Dorian Sorg (Live-Kamera).
Premiere am 4. September 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
"Bis auf wenige Ausnahmen sind die Songs von einer Beliebigkeit und Schlichtheit [...]", so Kritikerin Barbara Behrendt auf rbb Kultur (5.9.2022). Zudem sei das Pathos im Spiel und in den Bildern hohl. Auch die Effekte, die das Publikum mittels 3D-Brille vorgeführt bekomme, seien "hübsch, aber nichts als kunstfertige Oberflächenreize". Eine einzige "provozierende" Szene sah die Kritikerin: Elias Arens' Monolog über Max Stirners Auffassung von Recht. "Abgesehen davon leistet sich der Abend den Luxus, weltgeschmerzt in großen, leeren Worten zu schwelgen, statt sich mit den Theorien Stirners und dem Egoismus unserer eigenen Realität auseinanderzusetzen", resümiert die Kritikerin.
"Seltenes Musiktheater" beschreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (online 5.9.2022). "Eine intensive, kleine Gesamtkunstakrobatik in Sachen Freiheit und Egoismus ist daraus entstanden, die der aufgeblähten 3D-Videos mittendrin gar nicht bedurfte", ordnet die Kritikerin den Abend ein. Trotz "Düsternis" sei das ein "geistreicher, lohnender" Spielzeitbeginn im DT gewesen.
Von einem "hochinteressanten Projekt" spricht Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (6.9.2022). Sebastian Hartmann jedoch schaffe auf der Bühne mit seinem Ensemble "eher übergeordnete Situationen und Bilder für diverse Subjektzustände" aus dem Denkraum Max Stirners als konkrete Anknüpfungspunkte. Darin liegt für die Kritikerin einerseits prinzipiell eine Qualität, andererseits auch ein gewisses Enttäuschungspotenzial. Insgesamt lädt der Abend aber dazu ein, sich den "hochtrabenden Subjektphilosophen" aus dem 19. Jahrhundert noch einmal vorzunehmen.
"Wer Stirners seitenstarkes Hauptwerk 'Der Einzige und sein Eigentum' nicht kennt – und wer tut das schon wirklich? –, dem mag das eine oder andere verborgen bleiben bei dieser Inszenierung", schreibt Erik Zielke in in der Tageszeitung Neues Deutschland (5.9.2022). "Sei's drum, Spaß macht es trotzdem. Und Sebastian Hartmann ist kein Bühnenoberlehrer, der munter Biografien 'nachspielen' lässt oder den Theorieerklärer gibt. Er mutet seinem Publikum gern Kunst zu, und für dieses knapp zweistündige Bühnenkunstwerk ist Stirner sein Ausgangspunkt. Wir haben es hier keineswegs mit einer systematischen Auseinandersetzung zu tun, aber mit einer überaus ästhetischen. Assoziativ und bildstark gerät die Inszenierung – und durchaus kurzweilig."
"Antworten sind in den meditativen, bild- und hier auch klangverliebten Assoziationsräumen des Sebastian Hartmann natürlich nicht zu bekommen", so Eberhard Spreng in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (5.9.2022). "Dass dem Publikum dann auch noch 3-D-Videobilder vorgeführt werden, die es mittels einer Pappbrille bewundern darf, ist eher überflüssig, und dass als Kontrapunkt zum Ich-Menschen das Kollektivwesen Biene durchs dreidimensionale Bild fliegt, eher etwas billig. Aber egal. Der Abend ist eine spielerische Variationen um ein Leitthema. Das Ich und seine Macht." Bei Sebastian Hartmann und PC Nackt bleiben davon aus Sicht dieses Kritikers im Wesentlichen "nur eine Handvoll Leitsätze, aber die sind sehr unterhaltendes Musiktheater".
Man habe an diesem Abend "viel zu schauen, zu staunen, zu rätseln", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (6.9.2022), und man bekomme dabei "nach und nach kleine Dosen des Textes untergejubelt, dessen Giftigkeit und Monstrosität sich so langsam auffaltet". Da sei es "die erste Überraschung der Inszenierung, dass sie ziemlich unterhaltsam und witzig ist". Sowohl visuell wie auch in der Musik sei diese Inszenierung "verspielt", kokettiere "mit Stummfilmästhetik ebenso wie mit virtuellen Welten, in der alle zu Bienen werden", und baue "Minidramen in wenigen Bildern", so die Kritikerin.
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Das hängt in einigen Passagen etwas durch und es dauert auch seine Zeit, bis man sich in den Sound des Abends eingehört hat. Das Ergebnis fügt sich dennoch zu einer überraschend runden Revue, mithin zu einem Genre, das viele Hartmann eher nicht zugetraut hätten.
Im Programmheft ist denn auch ausführlich nachzulesen, wie der Regisseur mit der Idee des DT-Chefdramaturgen Claus Caesar fremdelte, sich Max Stirner und seinen radikalliberalen Ideen zu widmen. Auch die Idee, daraus ein Musiktheater zu machen, stand nicht von Beginn an fest, sondern war ein glückliches Zufallsprodukt des Annäherungsprozesses an die gemeinsame Arbeit.
Max Stirner kennen wohl die wenigsten und auch nach dieser Revue weiß man kaum mehr über den anarchistischen Philosophen des 19. Jahrhunderts und sein Werk. Zum Kern dringt die Revue nur selten vor. Am besten gelingt dies in einem Solo von Elias Arens, ebenfalls eine feste Größe in Hartmann-Abenden, der darüber skandiert, dass er sich keinem Recht unterwirft und keine Herrschaft über sich anerkennt.
Fazit: ein unterhaltsamer Hartmann-Abend, der in mehrfacher Hinsicht überrascht und neue Formate ausprobiert. Nach dem Sturm-Flop ein durchaus sehenswerter Auftakt. Christian Rakows Jubelhymne kann ich mich nicht anschließen, da hätte ich es gerne ein bis zwei Nummern kleiner.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/09/04/der-einzige-und-sein-eigentum-deutsches-theater-berlin-kritik/
Am erschreckendsten war zum Schluss die Reaktion einiger jubelnder Zuschauer!
Sind wir schon soweit unten angekommen? Ist das der kleinste gemeinsame Nenner?
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