Taking Care of Baby - Sascha Hawemann ergreift Partei für Dennis Kellys Donna
Mamma Medea?
von Nikolaus Merck
Berlin, 17. Januar 2010. Donna McAuliff hat zwei Kinder verloren. Erstickt das Mädchen, vom plötzlichen Kindstod weggerafft der Junge. Oder hat Donna ihre Kinder ermordet? Die Polizei glaubt das und sperrt sie ein. Der Psychiater Dr. Millard glaubt es, seiner Meinung nach hat Donna unter Einfluss eines speziellen Junge-Mütter-Syndroms gemordet, weil sie das Leid der Welt nicht aushält und sich dafür bestrafen muss, zwanghaft. Donnas Mann Martin glaubt es auch, er hat Donna heulen sehen wegen "Erderwärmung, Epidemien, Nordkorea", während das Baby unbeachtet im Winkel lag.
Doch das Gericht spricht Donna frei. Keine ausreichenden Beweise. Das Syndrom von Dr. Millard? Quark mit Soße, aufgetischt aus Karrierismus. Und was glaubt Donnas Mutter Lynn? Die hat keine Wahl. Sie muss an die Unschuld Donnas glauben, weil sie mit einer als Kindsmörderin verurteilten Tochter keine Chance hat, als Unabhängige das Parlamentsmandat zu gewinnen. Also kämpft sie für Donnas Freilassung, wie sie gegen das Einkaufszentrum am Ort kämpft. Bloß – auf Mama kann man sich nicht verlassen. Die ist nämlich süchtig nach öffentlicher Aufmerksamkeit, weshalb sie am Ende für das Einkaufszentrum trommelt und in den Schoß der Labour Party zurückgekehrt ist.
Hat sie oder hat sie nicht?
Dennis Kelly hat das Stück vornehmlich in Monologe gesetzt. Ein Autor, im Off, man hört ihn nur gelegentlich, befragt die Figuren. Die meisten seiner Fragen sind gestrichen. Bleiben Figurenstatements ins Publikum. Wie Zeugenaussagen. Es entsteht der Eindruck eines dokumentarischen Spiels. Also: von Wahrheit. Aber DIE Wahrheit gibt es bekanntlich nicht. Nur Wahrheiten. Konstruktionen. Geschichten. Weshalb die Aussagen der Figuren bis zuletzt widersprüchlich bleiben.
Also was jetzt? Hat Donna oder hat sie nicht? Sascha Hawemann entscheidet sich in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ganz klar für: sie hat nicht. Sympathie- und Faust-Theaterpreis-Trägerin Meike Droste spielt die Donna mit nervös auf den Strumpfhosenknien spielenden Fingern, ausgiebigem Nesteln am Rock und füllt noch jedes von Kelly notierte "Äh" und "Ähm" mit künstlichem Leben und Spannung. Je länger, je selbstbewusster wird die Figur. Wie vorgeschrieben. Drostes Spiel ist sehr okay.
Selbstsüchtiges Stück Mutter
Doch mehr als für die angebliche britische Provinz-Medea, interessiert sich Hawemann für Mama Lynn. Ausgiebig darf Barbara Schnitzler den fragwürdigen Charakter der Dame ausmalen. Die zunächst, von lauterer Überzeugung getrieben, Klinken putzt beim Wahlvolk. Dann immer exaltierter ihre Umfrageerfolge feiert, um schließlich alkoholisiert zu Donnas Füßen zu rollzen und die Tochter zu beschwören, jetzt bloß nicht auszuziehen und damit das Image von der innigen Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter zu zerstören.
Man kann verstehen, dass Donna nicht weiß, auf wessen Seite Mutter eigentlich steht. Mit zusammengelegten Zeigefingern wie mit einer Pistole zielt sie auf die Mutter, ultimativ ein Bekenntnis fordernd. Man kann Donna auch verstehen, dass sie dieses selbstsüchtige Stück am liebsten mit dem Sofakissen (karg, aber genau möblierter Raum von Alexander Wolf) erdrosseln tät. Und um das Maß unserer Erkenntnis voll zu machen, setzt der Spielwart die beiden Damen nach absolviertem Streit nebeneinander aufs Sofa, wo sie in den Ton der wirklichen Kindsmörderinnen verfallen, die Donna in U-Haft kennen und fürchten lernte.
Alle gleich glaubwürdig?
Auch den wahrhaftigsten Moment des Abend, wenn Moritz Grove als Donnas Mann Martin seine Ehemalige des Mordes bezichtigt, hat Hawemann schon im Vorhinein inhaltlich diskreditiert. Denn Martin glaubt an das Junge-Mütter-Syndrom von Dr. Willard, der wiederum in Gestalt von Peter Moltzen zwar eine virtuose Ledersessel-Schussel-Nummer mit angeschlossenem hochnotkomischen Ich-lass-mich-nicht-zur-Sau-machen-Auftritt hinlegt, aber damit zugleich für sein Leeman-Keatley-Syndrom alle Glaubwürdigkeit verspielt hat. Wenn also der überzeugende Martin an den Scharlatan Willard glaubt, ist es wohl mit der Überzeugungskraft seiner Wahrheit auch nicht weit her. Schade. Denn eigentlich hatte Dennis Kelly darauf bestanden, dass alle seine Figuren die gleiche Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen dürften. Diese Balance aber haben Hawemann und seine Schauspielerinnen nachhaltig gestört.
So bleibt zuletzt nur Donna, Donna, Do-ho-nah und ihre Unschuld. Eine Botschaft, die von der schlußendlichen Mitteilung, sie sei abermals schwanger, optimistisch aufgepolstert wird.
Das Wagnis zu denken, Donna habe, jenseits von Leeman-Keatley-Syndrom oder verständlicher Verstörung aufgrund einer belasteten Mutter-Tochter-Beziehung, ihre Kinder umgebracht, einfach so, irrational, unerklärbar, und sie dafür nicht zu verurteilen oder zu dämonisieren, diesem Wagnis geht Hawemanns Inszenierung sorgfältig aus dem Weg.
Taking Care of Baby (DEA)
von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke
Regie: Sascha Hawemann, Bühne und Kostüme: Alexander Wolf, Video: Konrad Kästner, Alexander Wolf, Dramaturgie: John von Düffel, Licht: Thomas Langguth.
Mit Meike Droste, Barbara Schnitzler, Peter Moltzen, Michael Schweighöfer, Moritz Grove.
www.deutschestheater.de
Mehr lesen über Inszenierungen mit Meike Droste? Heillos verliebt war sowohl ihre Sonja in Jürgen Goschs Onkel Wanja als auch ihre Mascha in Goschs Möwe. Die Intensität dieser Tschechow-Figuren vermochte sie etwa auch in Karin Henkels Gefährliche Liebschaften einzubringen. Zuletzt spielte sie, jenseits aller Verniedlichungs-Klischees, die Desdemona in Jette Steckels Othello.
Kritikenrundschau
"Eine konfliktträchtige Gemengelage" erkennt Christine Wahl (Der Tagesspiegel, 19.1.) in Dennis Kellys Stück. Sascha Hawemanns deutsche Erstaufführung treibe ihm allerdings "jede Mehrdeutigkeit" aus. Meike Drostes Donna McAuliffe habe "man schon als Opfer einer karrieregeilen Gesellschaft identifiziert, bevor sie überhaupt den Mund öffnen kann": "Gegen Opfer-Anoraks, lernen wir, sind selbst erstklassige Schauspielerinnen machtlos." Auch dem Psychologen Dr. Millard sehe man seinen "dominanten Charakterzug – in diesem Fall handelt es sich um Scharlatanerie – bereits am kanarienvogelorangen Rollkragenpullover an". Und "Barbara Schnitzler als Donnas Mutter Lynn hat mit dem grauen Businessanzug ebenfalls ihr Klischee für den Abend weg". Keine Figur dürfe hier Ambivalenz zeigen. "Das Potenzial des Kelly-Stückes wird so verschenkt." Und noch etwas: "Seine eigenen Gewissheiten hinterfragt dieses Theater nie."
Für Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 19.1.) ist das Stück ein "quasiphilosophisches Spiel der Perspektiven", das "über Kindsmord, die Wahrheit, das Lügen und das Theaterspielen nachdenkt. Das ist schon mal was." Und Hawemann habe "Kellys Wahrheits- und Lügenverwechslungstragödie zum Grundsatzdrama über Sein und Schein hochgeschaukelt". Donna aber, die zentrale Figur, mache die Regie "zur unumstrittenen Sympathieträgerin". Sie erscheint hier entweder als "Unschuldsengel" oder als "Opfer ihrer karrieregeilen Mutter." Damit habe der Abend eine "so klare wie streitbare Haltung zum Stück". Die von Kelly "ebenso mitbedachte Deutungsmöglichkeit, dass alle Donna-Taten dieser Welt weder in Krankheits- noch in Gesellschaftsbilder einzukästeln sind", schließe Hawemann jedoch aus dem "Vorstellungs- und Denkraum seiner Inszenierung aus. Die aber wäre noch streitbarer, irritierender, welthaltiger gewesen."
Laut Eberhard Spreng (Deutschlandradio, 17.1.) dagegen lernt der Zuschauer hier, "vor allem denen zu misstrauen, die wie die von Barbara Schnitzler sehr überzeugend verkörperte Politikerin Lynn mit Wahrheiten hausieren geht". Und Hawemann interessiere sich für Figuren, "die wie Donnas Ex-Mann Martin (Moritz Grove) seine Wahrheit vor der Öffentlichkeit schützen will". Denn Hawemann inszeniert "das Stück über die Unmöglichkeit der wahrhaftigen Dokumentation präzis in einem nüchternen weißen Raum": "Der Schriftzug, der anfänglich auf die Authentizität der jeweils folgenden Aussagen hinweist, zersetzt sich zunehmend zu einem verbröselten Gebrabbel." Auf der Strecke bleibe zum Schluss nicht die Wahrheit, "aber der Glaube, sie jemals in den Medien geboten zu bekommen".
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Eine Frau, deren zwei Kinder gestorben sind, ein Verdacht, eine Verurteilung, ein Freispruch in der Revision, ein umstrittener Psychiater und eine zerbrochene Familie: Das ist der Stoff, aus dem Dennis Kellys 2007 in London uraufgeführtes Stück ist. Und doch geht es um anderes: Um nichts weniger als die Wahrheit, ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit und die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Oder besser: ob es die eine Wahrheit, einer der Grundfesten mesnschlichen Denkens und wohl auch Zusammenlebens überhaupt geben kann.
Kelly hat das Stück im Stile des dokumentarischen Theaters geschaffen. Wir hören O-Töne der Protagonisten, aufgezeichnet in Interviews und Briefen und auf die Bühne gebracht. Nichts sei geändert worden, so das Verdikt des Autors zu Beginn. Die Figuren bekommen Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen,ihre Wahrheiten zu verkünden. Und ihre Stories sind in sich geschlossen und glaubwürdig. Kelly vergibt keine Sympathien oder versucht dies zumindest. bErsstellt diese Wahrheiten vor, statt sie zu bewerten. Am Ende entsteht ein polyphones Konzert sich widersprechender Wahrheiten, ohne dass ihre Wertigkeit unterschiedlich gewichtet wäre.
Und nicht nur das: Auch das Theater steigt in den Prozess des Hinterfragens von wahr- und Gewissheiten mit ein. Denn natürlich ist dies keine wahre Geschichte, sondern komplette Fiktion, auch wenn sie von tatsächlichen Fällen inspiriert ist. Doch: Die Interviews, die hier inszeniert werden, haben nie stattgefunden. Ein hochinteressantes und komplexes Stück.
Sascha Hawemann hingegen, Regisseur der deutschen Erstaufführung, macht es sich viel einfacher. Was bei Kelly ein Labyrinth persönlicher Wahrheiten ist, wird hier zum simplen, ja plumpen Gegensatz von Wahrheit und Lüge. Hawemann vergibt Sympathien, er macht klar, wer recht hat, welche Geschichte stimmt, er wertet, wo Kelly nur zeigt. Er bewertet die Wahrheiten und stellt damit die Gewissheit wieder her, die Kelly ja auflöst: dass es so etwas wie eine gültige Wahrheit geben kann. Und so wird Kellys Stück zur einfachen Parabelvon Wahrheit und Lüge, die nichts hinterfragt. Auch nicht die Rolle des Theaters. So wird der Autor zur Figur und das Ganze seines Kerns bereaubt. Was bleibt, ist ein großartiges Ensemble (Meike Droste, Moritz Grove, Michael Schweighöfer, um nur die herausragenden zu nennen) und die Erkenntnis, das Potenzial des Stücks verchenkt zu haben.