Liliom - Stephan Kimmig zeigt an den Münchner Kammerspielen den "guten Kerl" vom Rummelplatz
Der ist gar nicht so
von Nikolaus Stenitzer
München, 8. März 2014. Die Stille ist deutlich. Als Steven Scharf auf der leeren, von oben aber von einer riesigen Discokugel bedrängten Bühne (von Eva-Maria Bauer) tanzend seinen Liliom vorstellt – im silbernen Sakko, alleine, ohne Musik – ist gleich klar, was hier für eine Geschichte erzählt wird.
Scharf tanzt beiläufig, professionell, lässig. Eine Minute später wird doch Musik angestellt und langsam bis zum Anschlag gedreht. Jetzt ist der Rhythmus hörbar, zu dem Scharf sich bewegt, und das Bild schließt sich: Dieser Liliom, sehen wir, ist kokett von Beruf, nicht aus Neigung. Der liederliche Titelheld von Ferenc Molnárs "Vorstadtlegende in sieben Bildern", der Ringelspielausrufer und Hutschenschupfer, tut hier, an den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Stephan Kimming, schlicht wie ihm geheißen und worin er gut ist.
Abtatschen beim Ringelspiel
Die Stille bleibt deutlich: Kimming nimmt sich eine weitere wortlose Szene lang Zeit, um seine Figuren einzuführen. Der "szenische Prolog", mit dem das Stück bei Molnár und in der deutschen Bearbeitung von Alfred Polgar beginnt, ist hier in zwei Ansichten des Ausrufers geteilt. Liliom betreut nun die beiden Dienstmädchen Marie (Marie Jung) und Julie (Anna Drexler) bei der Ringelspielfahrt; das Fahrgeschäft ersetzen Rollschuhe an den Füßen der beiden jungen Frauen, Liliom taucht sie an. Das ist ja sein Beruf. Er ist nicht schmierig dabei, zeigt eher freundliches Desinteresse. Irgendwann aber nimmt er Julie "um die Hüfte".
Damit beginnt bei Molnár bekanntlich das Unglück; in München beginnt ein Gebrüll: Anna Drexler und Wiebke Puls als Ringelspielbesitzerin Muskat liefern sich ein Schreiduell um dieses Um-die-Hüfte-fassen, das "Abtatschen", die Unzucht, die Julie auf dem Ringelspiel getrieben haben soll, und alles in allem um Liliom. Es ist ein wenig schade um die so bedachtvoll aufgebaute Exposition, die hinter dieser fast comichaften Szene in Vergessenheit geraten muss. Wiebke Puls ist mit Siebenmeilenmoonboots zu einer grotesken Figur verkleidet, Anna Drexler kreischt sich heiser. Aber warum?
Weil Stephan Kimmig seine Julie nicht als bloßes Opfer zeichnen will. Das zeigt die nächste Szene, in der Julie sich entscheidet, bei Liliom zu bleiben: Das Spiel zwischen Steven Scharf und Anna Drexler ist nun so einfach, so selbstbewusst von beiden Seiten, so auf Augenhöhe, dass es eine Freude ist. Hier scheint sich eine Interpretation zu regen, die die vorangegangene Groteske vergessen macht. Und: Ab hier findet die Inszenierung in die Sprache des Molnár-Polgar'schen Textes hinein. Das ganze Ensemble macht sich ihre besondere Färbung zu eigen, ohne den bestehenden Gefahren des nostalgischen Kitsches zu erliegen. Das ist stark.
Erotische Aufladung, moralische Weichspülung
Wenn Anna Drexler Julies Entscheidung als die einer selbstbewussten jungen Frau spielt, dann gelingt nebenher eine Antwort auf die klassische Liliom-Frage "Was will das brave Dienstmädchen mit dem unangenehmen, gewalttätigen Mann?" Die Antwort – die erste von zweien, die Stephan Kimmig anbietet – ist: Sex, einfach aber einleuchtend. Überhaupt macht die Aufführung die Triebe des dramatischen Personals recht deutlich: Das Verhältnis von Liliom zu Muskat (gerade in dieser Konstellation enorm präsent: Wiebke Puls) ist explizit, dass mehr kaum möglich wäre. Und schließlich wird auch noch die Verbindung zwischen Liliom und Ficsur, dem Katja Bürkle einen unheimlich überzeugenden kalten Anstrich gibt, erotisch aufgeladen.
Aber Liliom ist hier nicht nur attraktiv: Er ist auch ein guter Kerl. Das ist die zweite, zentrale und weniger geglückte Antwort auf die Frage nach der Wirkung des Liliom auf die Julie. Der "gute Kerl", so steht es schon in Molnárs "Schlummermärchen", auf dem "Liliom" basiert. Molnárs Liliom ist aber auch ein Ekel und ein brutaler Schläger; und das ist der Liliom, den Kimmig Steven Scharf spielen lässt, gar nicht mehr. Dieser Liliom ist auch zornig, aber nur, weil man ihn dazu treibt. Er bleibt fast durchgängig eine liebenswürdige Figur, die die Bitte um Verständnis angesichts eines schweren Schicksals vor sich herträgt. Das Spiel von Scharf ist in dem, was es ist, hervorragend; aber der Inszenierung fehlt hier eine Schattierung.
Im Programmheft schreibt Stephan Kimmig, Liliom und Julie wüssten, dass ihre Liebe, ja ihr Leben letztlich vergeblich sei. Die Gesellschaft gibt ihnen keine Chance. Darum gehe es: zu zeigen, was für eine erschreckend große Rolle Geburt und Herkunft für die gesellschaftliche Teilhabe spielen. Ein guter Gedanke für eine "Liliom"-Inszenierung.
Die Brutalität der Chancenlosigkeit
Kimmig scheint ihm aber wenig zu vertrauen, denn er lässt seinem Liliom fast keine Widersprüche. Das ist kein brutaler, rücksichtsloser Kerl, sondern einer, dem übel mitgespielt wird und der dadurch abstürzt und einmal sogar versehentlich seine Frau schlägt. Aber grundsätzlich doch ein schlichter Guter. Und das lähmt die Geschichte irgendwann ein wenig, nimmt ihr die Widersprüche, die dem Nachdenken gut tun. Die Dimension, die hier fehlt, ist eine, die dem Publikum zuzumuten wäre: Elend und Armut machen sympathische Leute nicht elend und arm und sympathisch. Elend und Armut machen böse und hässlich. Chancenlosigkeit macht brutal. Sie ist nicht die "andere Seite" dieser Gesellschaft, sondern ihr integraler Teil und funktioniert nach ihren Regeln. Das ist eine Geschichte, die man mit Liliom erzählen könnte und vielleicht sollte.
Frenetischen Applaus gab es vom Münchner Publikum für das gewohnt starke Ensemble der Kammerspiele, auch für den Regisseur und sein Team. Jubelschreibe erschollen für Anna Drexler und Stefan Scharf, und sie haben sie sich verdient: Sie haben großartig gespielt, was zu spielen war.
Liliom
von Ferenc Molnár
für die deutsche Bühne bearbeitet von Alfred Polgar
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Katja Bürkle, Anna Drexler, Walter Hess, Marie Jung, Christian Löber, Stefan Merki, Wiebke Puls, Steven Scharf.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Stephan Kimmig habe sich von der schillernden Figur Lilioms blenden lassen, meint Jeannette Neustadt in der Welt (10.3.2014). "Um seiner Inszenierung gerecht zu werden, muss man darüber sprechen, was sie nicht ist. Sie verzichtet auf die Milieustudie. Sie spart mit Klischeebildern und Dialekt, mit Jahrmarktsgedudel und Fahrgerät. Sie stellt keine äußere Armut aus, sondern führt stattdessen innere Armut vor. Mit Liliom holt Kimmig einen Menschen auf die Bühne, der ungreifbar wirkt, irgendwie leer, hohl wie eine Discokugel." Doch so wie sich eine "innerlich hohle Gestalt (…) nicht an andere verschenken" könne, so gehe es auch dem Theaterabend: "Auch er vermag sich nicht wirklich zu verschenken und bleibt bei aller Brillanz eigentümlich sperrig, verloren."
Nach dem Anfangsbild könnte "auf der Bühne der Münchner Kammerspiele eine glühend intensive, beklemmend fatalistische, ganz auf diese beiden Prekariatsfiguren und die Unmöglichkeit ihrer Liebe konzentrierte Geschichte beginnen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (10.3.2014). Und Kimmig wolle das "auch tatsächlich erzählen – nur eben nicht süffig und prall, sondern so abstrakt wie möglich. Sein Weg biegt ab in karstige Regieendmoränenszenen, führt zu ausgestellten, effektvoll hinchoreografierten Figurenformationen. Theater(kunst)handwerks-Szenerien." So "knochig, seziert und karg, wie sie aus Kimmigs Regie-Chirurgie kommt", sei "Molnárs berührende 'Vorstadtlegende' hier eher eine unterkühlte Vorzeigeparabel". Die Schauspieler seien aber "trotzdem sehenswert und glänzen in zahlreichen Miniaturen".
Kimmigs Inszenierung könne "mit einem grandiosen Pfund wuchern: Steven Scharf", schreibt Simone Dattenberger im Münchner Merkur (10.3.2014). "Zumal der Striezzi Liliom, dieser Schausteller-Macho und so tollpatschig liebende wie raubende Kerl, selten von einem Schauspieler und seinem Regisseur überzeugend geformt" werde. Auch gehe Kimmigs Konzept, "Tanztheater-Elemente zu nutzen", in einigen Szenen voll auf. "Glück hat er obendrein mit Anna Drexler, die eine überzeugende Julie gibt: witzig, kraftvoll, eigenständig."
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B:"Öha! Dös öst söcherlöch höchste Könst!"
A:"Nein. Nicht ganz. Denn Könst kommt von Können."
Morgen wird man dann wahrscheinlich noch das traditionelle KammerspielPremierenLoblied von Frau D. in der SZ lesen. Ein bißchen langweilig ist das ganze schon - und wars auch gestern: DeutschlehrerInnenthater der Stadtverwaltung München.
(Werter Beckmesser,
wenn uns die Kritik, die bisher online nicht zur Verfügung stand, vorliegt, werden wir diese nachtragen.
Freundliche Grüße, die Redaktion / ape)