Hate - Theaterformen Hannover
Dem Gaul aufs Maul geschaut
von Jan Fischer
Hannover, 29. Juni 2019. Es ist talk of the town. Zwischen den Bier-, Bratwurst- und Cocktailbuden des Festivals Theaterformen in Hannover wird aufgeregt geflüstert. Ja, in "Hate" steht ein echtes Pferd auf der Bühne, auf der großen sogar! Das Pferd heißt Corazón, ist ein hellgrau-schwarzer Wallach, spielt sich selbst und ist die ganze Inszenierung über nackt. Was insofern bedeutsam ist, als dass seine Spielpartnerin, die französiche Schauspielerin Laetitia Dosch, ebenfalls die ganze Zeit über nackt bleibt, abgesehen von einer glitzernden Bauchtasche mit Möhrenstücken für Corazón und einem Plastikschwert. Frau und Pferd begegnen sich in einer mit rotem Sand gefüllten Arena, die hinten ein Vorhang mit einer gemalten romantischen Landschaft aus dem 19. Jahrhundert säumt.
Laetitia und Corazón
Laetitia Dosch spielt in französischen Filmen und Serien mit – und war 2018 sogar für einen César als beste Newcomerin nominiert –, daneben in klassischeren Theaterproduktionen bei namhaften Regisseuren, und produziert dazu ihre eigenen, eher experimentellen Inszenierungen. "Hate" ist eines ihrer eigenen Werke, inspiriert, sagte sie in Interviews, von ihren Erfahrungen mit Pferden beim Dreh des Films "Two plains and a fancy".
Das alte Lied
Im Kern ist "Hate" eine Liebesgeschichte. Dosch, die mehr oder weniger sich selbst spielt, erzählt, sie hätte viel getan, viel versucht, sei viel gereist, fühle sich aber immernoch nicht wohl in ihrer Zeit. Mit sich. "Ich habe dieses Stück geschrieben, weil ich über das Jetzt reden wollte, das Chaos des Jetzt, ich wollte nicht, dass es traurig wird", erzählt sie dem Pferd. Reckt das Schwert dazu, lässt es wieder fallen. Sie hat beschlossen, mit dem Pferd zu leben, jemandem, der "nicht beurteilt". Es entspinnt sich eine Romanze zwischen den beiden, in deren Verlauf, das alte Lied: erst Zärtlichkeit, dann Sex (sehr harmlos, eigentlich gar nicht sichtbar, obwohl Corazón währenddessen auf die Bühne pinkelt), dann Zerstörung dessen, was man liebt, passiert.
Um diesen Kern versucht Dosch, im Dialog mit Corazón, Gegenwart aufzuschichten. Es geht um Feminismus, um Klimawandel, um Rollenbilder, um Körper, Gewalt, Lust, Intimität. Dosch redet mit Corazón und gibt dem, was das Pferd tut, eine Stimme. Corazón ist ein stark dressiertes Pferd, aber kein Zirkuspferd, das immer wieder Anweisungen ausführt. Sondern nach einer Methode dressiert, die ihm mehr Freiheiten lässt, Anweisungen auszuführen – oder eben nicht.
Rundumschlag in Richtung großer Themen
Wenn man sich Corazón als Gimmick aus der Inszenierung wegdenkt, bekäme man ein Solostück, einen Selbstfindungs-Monolog einer Schauspielerin, wie es sie dutzendweise gibt. Speziell wird es dadurch, dass Dosch immer wieder darauf besteht, dass das Pferd ein gleichberechtiger Spielpartner ist – und dass sie das Publikum davon überzeugen kann: Wenn Dosch in ihren Selbstfindungstextzeilen pathetisch wird, lässt sie das von den launischen Repliken Corazóns wieder einfangen. Sie rappt, macht Witze über Schnitzel und Kartoffeln – schließlich ist das ein Gastspiel in Deutschland. Zum Schluss singt sie etwas Chanson-artiges.
Sie erweist sich als Schauspielerin, die Pathos und Pointen sehr genau zu setzen weiß und immer wieder mit dem improvisieren kann, was Corazón anbietet. So dass letztendlich eben nicht der hundertste belanglose Selbstfindungsmonolog herauskommt – sondern ein Rundumschlag in Richtung großer Themen der Gegenwart, weder vollständig noch geschlossen. Aber in vollen Galopp und mit gezücktem Schwert – auf einem fast ganz weißen Pferd.
Hate
Von Lætitia Dosch in Zusammenarbeit mit Judith Zagury / ShanJu, Yuval Rozman
Pferdecoach: Judith Zagury, Bühne: Philippe Quesne, Licht: David Perez, Ton: Jérémy Conne, Mitarbeit / Dramaturgie: Hervé Pons.
Mit: Lætitia Dosch, Corazón.
Premiere bei den Theaterformen Hannover am 29. Juni 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.theaterformen.de
"Es gibt humorvolle Momente, wenn Laetitia Dosch etwa als Startrampe fürs Aufsitzen einen mächtigen Felsbrocken herbeischleppt, der wahrscheinlich aus Pappmaché besteht, und darauf hinweist, dass solche Kraftakte nur im Theater möglich seien", schreibt Jörg Worat in der Kreiszeitung (1.7.2019). Doch unter dem Strich wirke die Performance eher wie eine etwas bemühte Provokation, die zudem immer mehr zerfasert, "und so schleppt sich das Ganze mühsam dem Ende entgegen". "Eine 'Theaterform'? Klar, aber in dieser Umsetzung eine entbehrliche."
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