Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins – Essays als Dokumente einer Theaterbiografie mit Illustrationen von Vegard Vinge
Kohärenz ist Lüge
Von Christian Rakow
20. Juli 2021. Vermutlich muss man auf nachtkritik.de den Autor Carl Hegemann nicht mehr eigens einführen. Aber für alle, die hier per Google-Link hereinstolpern, sei es trotzdem fix getan: Der gebürtige Paderborner, Jahrgang 1949, "katholisch erzogener Provinzknabe", wie er selbst schreibt, war (neben und nach Matthias Lilienthal) der prägende Dramaturg der Berliner Volksbühne, mit kürzeren und längeren Unterbrechungen von 1992 bis 2017, also Castorf-Ära.
eine skurrile Online-Spielplanabstimmung verantwortete. Und pünktlich zum furiosen Finale der Castorf-Volksbühnenintendanz kehrte er 2015 bis 2017 an den Rosa-Luxemburg-Platz zurück. Als Chefdramaturg. Es gibt nur wenige in seiner Zunft, die man wie ihn als Mastermind ansprechen würde. Stupend seine solistischen Fähigkeiten, aus dem Stand zu extemporieren, von Schiller über Hölderlin und Marx bis Boris Groys oder Slavoj Žižek. Und zurück.
Als Philosoph promovierte er 1979 mit einer Arbeit über Fichte und Marx in Frankfurt am Main, noch vor seiner Theaterkarriere. Eine Professur für Dramaturgie bekleidete er 2006 bis 2014 in Leipzig. Am Hamburger Thalia Theater schlug er Anfang der 2010er Jahre auf, wo er – memorabel –Der Dramaturg als Free-Jazzer
Die Volksbühne der Hegemann-Jahre verstand sich als Sammelbecken (für viele auch Piranha-Becken) von Freigeistern: der Intendant ein Künstler, der Chef-Bühnenbildner (Bert Neumann!) ein Künstler, die Schauspieler und Schauspielerinnen Künstler, die Regisseure Künstler (wenn es die Schauspielkünstler denn zuließen). Bis in die Gewerke hinein waltete das Credo, dass hier niemand dem anderen ins Handwerk pfuschen solle. Autonomie-Denke pur.
In einem solchen Solistenensemble konnte auch ein Dramaturg kein bloßer Wasserträger des Betriebs sein, der mit gelehrter Inhaltsschau einem Inszenierungsganzen seinen Sinn abgewinnt, um ihn dem Publikum in erklärfreudigen Programmtexten darzureichen. Hegemann war und ist das Paradebeispiel des Dramaturgen als Free-Jazzer, der locker Motive aufnimmt, umspielt, ins Philosophische entrückt. Einer, der eher Widerstände bietet als vermittelnd wirkt. Von dieser Tätigkeit legt das gut vierhundertseitige Kompendium "Dramaturgie des Daseins. Everyday live" Zeugnis ab. Es ist eine Sammlung von Hegemanns Texten, entstanden zwischen 2002 und 2021, herausgegeben von Raban Witt, mit Illustrationen von Vegard Vinge.
"Achtung Achtung Theorie" steht in Vinge-Warnschrift auf dem Einband. Und das Versprechen wird gehalten. Für Freunde des Anekdotischen und Biographischen ist hier wenig zu holen. Stattdessen geht's mitten hinein ins Reich der Hölderlins und Hegels. Das Persönliche scheint in der Reflexion durch. Texte aus dem Inszenierungsumfeld von Christoph Marthaler, René Pollesch und Jette Steckel eröffnen den Band, heißen "B-Seite des Lebens" (in Anspielung auf Hölderlins "Hälfte des Lebens"), "Glück im Unglück. Paradoxien des Genießens" oder "Ich wünsche nur, was ich bereits besitze. Romantische Liebe überleben".
Hier klingt das Alterswerk durch, rieselt die Sanduhr der Vergänglichkeit. Man erlebt, wie Hegemann mit Adorno seinen eigenen Standpunkt untersucht: "Die Eiswüste der Abstraktion als Ort eines Glücks, das universal ist und darin besteht, sich nichts vorzumachen. Das ist ein zwiespältiges Modell. Zumindest für Menschen, die nicht im Denken ihren Hauptinhalt sehen, scheint diese Konstruktion vollkommen unbrauchbar", schreibt er, und man sieht förmlich, wie sich der Schreibtisch des Intellektuellen mit Eiskristallen zudeckt, wie es ihn nach der Wärme des Konkreten dürstet.
Zweckfreiheit des Ästhetischen
Im langen zweiten Teil des Buches werden die dicksten Bretter gebohrt, gibt es die volle Ladung Autonomieästhetik. Immer wieder kehrt Hegemann zu zentralen Gedanken der Schiller'schen Ästhetik zurück (so oft, dass man dem Sammelband durchaus ein wenig Mut zu Kürzungen gewünscht hätte): Das Reich der Kunst behauptet sich im fröhlichen Spiel und im Schein, abseits aller physischen und moralischen Zwänge. Oder in Hegemanns Worten: "Nichts, was auf der Bühne passiert, nichts, was ein Künstler als Kunst generiert, greift funktional in die Prozesse des täglichen Lebens ein."
Das ist das Pathos der Eigengesetzlichkeit und Zweckfreiheit des Ästhetischen, das die DNA der Volksbühne ausmachte. Zu gegenwärtigen Tendenzen einer Moralisierung und pädagogischen Nutzbarmachung von Kunst steht es ziemlich quer, wie Hegemann selbst wiederholt – wiewohl zumeist implizit – anspricht. Kunst im strengen Sinne ist für ihn paradox, so sagt er mit seinem Kompagnon Boris Groys: "Wenn eine Kunst wie Kunst aussieht, gilt sie nicht als Kunst, sondern als Kitsch. Wenn die Kunst wie Nicht-Kunst aussieht, ist sie einfach Nicht-Kunst. Die Kunst soll wie Kunst und gleichzeitig wie Nicht-Kunst aussehen, um als Kunst anerkannt zu werden."
Viele der en passant ausgebreiteten Überlegungen zur "Metaphysik der Zeitverschwendung" oder zum Lob der Lüge in Liebesfragen werden Volksbühnenfreunde aus der ästhetischen Praxis von Frank Castorf oder René Pollesch kennen, teils fanden sie direkt Eingang in Stücktexte. In den letzten beiden Kapiteln rückt der Band dann näher an die Protagonisten heran, mit denen Hegemanns Arbeit verknüpft war. Christoph Schlingensiefs Spätwerk, als dieser schon vom Krebs gezeichnet war und Afrika wie Richard Wagner gleichermaßen in den Blick nahm, wird mit flowenden Programmtexten umspielt. Packend und irgendwie auch Höhepunkt des Buches ist der erzählerische Bericht "Warum Schlingensiefs letzter Film nicht zustande kam und dennoch vorhanden ist" (2020 in der Republik erstveröffentlicht). Ihm folgen Nachrufe auf die großen Toten der Volksbühne: Schlingensief, Bert Neumann, Maria Kwiatkowsky, Volker Spengler. Die sind nie menschelnd, nicht psychologisierend. Sie tasten nach Begriffen, werfen Schlaglichter, bleiben sprunghaft, vorbehaltlich. Kohärenz ist Lüge.
Die schönen Tage des wilden Theaters sind nun vorüber
Und dann am Ende wird der Staffelstab zwischen den Generationen weitergereicht, zum Abschluss eines Buches, das ein wertvolles Dokument der wilden Jahre ist, Fanal der verschwenderischen Bühnenkunst, der Epoche des fröhlich asozialen Theaters: "Viele Menschen des transgressiven Theaters sind tot", schreibt Hegemann, "ihre Kunst gilt bei vielen als überholt und moralisch und politisch fragwürdig, aber mit Vinge/Müller – und einigen anderen wie Florentina Holzinger und Ilja Chrschanowski – gibt es auch heute noch ein paar singuläre Nachwuchskräfte, die dafür sorgen, dass Volker Spengler und die anderen nicht so schnell vergessen werden." Und wer weiß, vielleicht sind jene nicht nur Siegelträger der Unvergessenen, sondern die kommenden Unvergessbaren.
Dramaturgie des Daseins. Everyday live
von Carl Hegemann
Herausgegeben von Raban Witt. Illustrator Vegard Vinge
Berlin, Alexander Verlag 2021, 448 S., 33 Euro
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Und sofort die Überlegung: Was Boris Groys sagt über die Kunst, gilt m.E. auch über die Philosophie.