Anti•gone - Münchner Kammerspiele
Schnörkellos gut
19. Februar 2023. Nele Jahnke zeigt Sophokles' Tragödie der rebellischen Antigone in Leichter Sprache. "Anti•gone". Direkt, geradlinig, hauptsatzfreudig. Die Philologenbrille kann im Etui bleiben. Ein beglückendes Erlebnis.
Von Martin Thomas Pesl
19. Februar 2023. Leichte Sprache boomt: kurze Sätze, keine Passiv- und Konjunktivkonstruktionen. Ämter müssen ihre Informationen mittlerweile nach einem 2006 entstandenen Regelwerk anbieten. Immer mehr Translationsprofis werden darin eingeschult, Museen und Theater beginnen, Inhalte zumindest in der – weniger systematisierten – einfachen Sprache zu vermitteln. Lesen Menschen ohne Lernschwierigkeiten die simplifizierend wirkenden Texte, hagelt es oft Spott.
Der wäre in diesem Fall wahrlich unangebracht. Wie großartig ist es bitte, dass die Münchner Kammerspiele erstmals einen antiken Klassiker in Leichte Sprache übersetzen lassen! Noch dazu die "Antigone" des Sophokles, drei Wochen, nachdem die Konkurrenz am Resi eben diese mit Slavoj Žižek zum komplexen Politikum verschnitt. Nun, der Abend in der Regie Nele Jahnkes in der Therese-Giehse-Halle ist das ultimative Kontrastprogramm.
Man könnte süchtig werden
Wie bei Leichter Sprache üblich, prüfte ein Team aus Vertreter:innen der Zielgruppe Anne Leichtfuß' Übersetzung "Anti•gone" auf Verständlichkeit (der Punkt im Titel verweist auf die Regel, lange Worte zu trennen), Übertitel gibt es sicherheitshalber auch. Bleibt die Frage, ob das Format auch für jene etwas bereithält, die mit Standarddeutsch ebenso vorliebgenommen hätten.
Und wie! Wer behauptet, dass es keine Wohltat ist, auch ohne die Philologenbrille einfach mal zu verstehen, worum's geht, lügt sich was vor. "Manchmal soll man gar nicht so viel überlegen", sagt Antigone zu ihrer Schwester Ismene. Genau! Man könnte geradezu süchtig werden nach dieser von Schnörkeln und Eitelkeiten freigehauenen Sprache, die sich nichts beweisen muss. Die das Hirn freilässt für faszinierende Szenen, in denen mal minutenlang gar nicht gesprochen, dann heftig zwischen Vater und Sohn, zwischen Herrscher und Rebellin argumentiert wird.
Hintersinnig und klug nimmt Johanna Kappauf in der Titelrolle von Anfang an ihr Schicksal hin. Klar, dass sie das Verbot des neuen Herrschers Kreon, ihren toten Bruder zu begraben, missachten muss. Die Regeln der Götter sind ihr wichtiger, also wird sie sterben. Ob sie dem Onkel die Meinung geigt oder vor dem Gang ins Grab Abschiedsworte spricht, Kappauf strahlt eine verschmitzte Weisheit aus. Mit tragikomischem Jauchzen in der Stimme berichtet sie von ihren Eltern (Ödipus und Iokaste): "Und von ihnen wurde ich Unglückliche gezeugt."
Schelmische Rollen
An Kappaufs Seite übernimmt Frangiskos Kakoulakis bei der Premiere neben dem Part des Teiresias auch die Auftritte des Corona-positiv ausfallenden Dennis Fell-Hernandez. Die fehlende Vorbereitung machte Kakoulakis mit Textbuch, Playback und Dance-Groove in den von Popmusik durchsetzten "Chor"-Zwischenszenen wett.
Johanna Eiworth als Kreon ist die Krone zu groß, und Sebastian Brandes scheitert als Ismene seelenruhig an der Aufgabe, über das Hauptbühnenelement, einen funktionalen, elliptischen Tisch mit eingepassten Körben, ein Tuch zu breiten.
Eiworth und Nancy Mensah-Offei in drei unterschiedlichen, aber jeweils überaus schelmisch gestalteten Rollen nutzen die Leichte Sprache als gestalterische Herausforderung. Die eine betont gern Sätze gegen den Strich, die andere entdeckt just in der Geradlinigkeit Sarkasmus: "Vater, ich bin dein. Keine Braut könnte mir wichtiger sein als du", spricht Kreons Sohn Haimon. Es klingt wie: "Yeah, right."
Da der Text es nicht mehr soll, schafft sich die Inszenierung Poesie auf andere Art: durch behutsame Berührungen der Spieler:innen miteinander und mit einem Block Lehm, durch kitschig-schöne Videobilder. Etwa rieselt langsam Sand auf die Köpfe der irritiert oder genießerisch dreinschauenden Mitwirkenden.
Beglückung
Die Menschen können aus dem Unglück nicht ausbrechen, stellt Lehm knetend der Bote (Mensah-Offei) fest, der die letzten Leichen fand. "Aber ist es wirklich so?" Vielleicht ja nicht. Um schön brechtisch zu zeigen, dass alle Fragen offen sind, baut das Ensemble zum Klagelied – Kae Tempests "Salt Coast" – das Bühnenbild um und setzt sich ins Publikum, woraufhin es auf dieses Seifenblasen regnet.
Ein beglückender Abend endet mit einer Extraportion Beglückung. Mag sein, das ist ein bisschen viel des Guten für eine Tragödie, in der fast alle sterben. Denn das haben wir ja, dank Leichter Sprache, nun wirklich alle verstanden.
Anti•gone
von Sophokles
in Leichte Sprache übersetzt von Anne Leichtfuß
Regie: Nele Jahnke, Bühne: Sabina Winkler, Kostüme: Lea Søvsø, Musikalische Leitung: Hans-Jakob Christian Mühlethaler, Choreografie: Ula Liagaitė, Video: Haniah Bozorgnia, Dramaturgie: Rania Mleihi.
Mit: Sebastian Brandes, Johanna Eiworth, Dennis Fell-Hernandez (fiel für die Premiere aus), Frangiskos Kakoulakis, Johanna Kappauf, Nancy Mensah-Offei.
Premiere am 18. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Kritikenrundschau
"(D)a die Münchner Kammerspiele unter der Intendanz von Barbara Mundel eine soziopolitische Agenda haben und ein inklusives Theater sind, ohne Ausgrenzung, Diskriminierung und Zugangsbarrieren, darf das Niveau nicht so hoch sein. Künstlerisch wurde es ohnehin schon abgesenkt. Dass die Sprache nun gänzlich auf einen Minimalkonsens heruntergefahren wird, ist hoffentlich eine Ausnahme, ein Zielgruppenexperiment", schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (20.2.2023). "So gut gemeint und ehrenwert dieses 'leichte Theater' ist – es stünde besser da, wenn es auf der anderen Seite an den Kammerspielen auch mal wieder ein 'schwereres' Theater gäbe, etwas ästhetisch Aufregendes, nicht immer gleich Verständliches und moralisch Belehrendes, eine echte Herausforderung durch Sprach- und Schauspielkunst. Aber so sieht man auch an diesem Abend hauptsächlich wieder die Umsetzung politischer Korrektheit."
"Den schlanken Sätzen hört man nicht weniger gespannt und konzentriert zu, ist aber gleichzeitig entspannt, weil einem das Textverständnis erleichtert wird und das spielende Team unter der sensiblen Regie von Nele Jahnke einem den Gedanken austreibt, dass eine Klassikerinszenierung eine angestrengte Leistungsschau der hochdramatisch vermittelten Emotionen sein muss", schreibt Michael Stadler von der Abendzeitung (20.2.2023). Johanna Kappauf sei "eine äußerst einnehmende Antigone, aufrecht, würdevoll, in ihrer Diktion klar, in ihrer Darstellung so konzentriert und schnörkellos wie der Text, den sie spielt".
"Hier wird gegen den Strich gearbeitet, optisch, interpretatorisch und inhaltlich Neuland betreten", schreibt Katrin Basaran vom Münchner Merkur (20.2.2023). Die vereinfachten Dialoge entfalteten wider Erwarten eine erstaunliche Dichte. "Zur leichten Verständlichkeit der Texte gesellt sich ein stringentes Inszenierungskonzept, in dem mit ebenso einfachen wie sinnlich überzeugenden Mitteln Intensität und Leichtigkeit, ja manchmal eine fast poetische Atmosphäre erzeugt werden."
"War es noch der ziselierte Urtext, der uns bisher geduldig und mit ästhetischem Gewinn zuhören liess, so wurde dieser für die Aufführung der Münchner Kammerspiele ganz zusammengestrichen – zugunsten einer neudeutschen Erfindung, die sich 'leichte Sprache' nennt," schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (28.2.2023) Dabei werde auf jede schmückende Poesie verzichtet, "um stattdessen so schnörkellos zu erzählen, dass es jeden Philologen graust." Noack beschreibt den Abend "als Inklusionsprojekt von einer bunten, spielfreudigen Truppe mit wenig Interesse an Bildungshuberei in Szene gesetzt." Das ergibt aus seiner Sicht "eine politisch korrekte Show, wie man sie in den Kammerspielen unter der Intendanz von Barbara Mundel regelmässig präsentiert bekommt. Selten ist das grosses Theater, meist zielgruppenorientierte Gebrauchsware für die Vervollständigung des Gesinnungshaushalts." Zwischen Bühnen-Versatzstücken spiele sich die Geschichte ab "als dramaturgisch gebastelte Zusammenfassung des Unfassbaren".
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Ich denke, das Zitierte spricht für sich:
„Die systematisch betriebene Verdummung der deutschen Bevölkerung, die bewusst gepflegte Geschichts- und Hirnlosigkeit und allgegenwärtige Verflachung dieser Zeit machen auch vor dem großen geistigen Erbe unserer Kultur nicht halt: Wer gegenwärtig eine Aufführung des antiken Klassikers „Antigone” an den Münchner Kammerspielen besuchen will, darf sich fortan auf einen Text in „leichter Sprache“ freuen. Die vom deutschen Dichter Friedrich Hölderlin vorgenommene Übersetzung des griechischen Originals halten Regisseurin Nele Jahnke und Intendantin Barbara Mundel weder den Darstellern noch dem Publikum für zumutbar; ein weiteres Beispiel für den Preis, den zwanghafte egalitäre Wahnvorstellungen wie „Inklusion“ und „Integration“ auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners der Bildung inzwischen nicht nur schulisch, sondern auch kulturell hierzulande fordern – auf Kosten mittlerweile nicht mehr nur der Eliten, sondern auch schon der Allgemein- und Durchschnittsgebildeten.“
Wer sich nicht mal die Mühe macht, sich zu informieren, dass „leichte Sprache“ ein klug durchdachtes Konzept ist, um auch die Kunst einem neuen, anderen Publikum zu öffnen, sondern mit der fremdenfeindlichen, chauvinistischen und rassistischen Peitsche den Niedergang einer sogenannten deutschen Elite geisselt, bestärkt hoffentlich die Kammerspiele nur darin, dass es ein essentieller Auftrag ist, diesen Kampf zu führen. Das Feuilleton sollte sich sehr genau überlegen, ob es tatsächlich in ein ähnliches Horn stoßen will - und mit wem es sich da gemein macht.