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Schlingensief sagt Inszenierung bei der Ruhrtriennale ab

Keine Kraftspende

Gelsenkirchen, 2. Juli 2010. Christoph Schlingensief hat einer Meldung der Ruhrtriennale zufolge seine Teilahme an dem Kulturfestival kurzfristig abgesagt. Als Grund wird eine erneute Krebsdiagnose genannt. Für die Ruhrtriennale wollte Schlingensief das Stück "S.M.A.S.H. - In Hilfe ersticken" inszenieren. In einem Brief bat er um Verständnis.

"Bitte versteht mich, wenn ich jetzt Zeit brauche und eben nicht darüber phantasieren möchte, ob ich in dieser Situation nicht die Möglichkeiten mich künstlerisch auszudrücken, gerade nutzen sollte", wird in der Presserklärung aus dem Schreiben zitiert. "Diese Arbeit zu diesem Zeitpunkt würde keine Kraftspende, sondern nur ein höchstriskantes 'Spielchen' werden." Die Zeit verlange aber gerade den reinen Realismus, "und der Ausdruck kommt so oder so. Ob durch mich oder andere, die darüber ihre eigenen Existenzfragen beantworten wollen. Vielleicht kann "S.M.A.S.H." sogar später noch stattfinden. Die Erfahrungen gehen doch weiter, und die damit verbundenen Gedanken werden sowieso einfließen."

(sle)

 

 

Kommentare  
Schlingensief: der, der ich sein wollte
Betrifft Schlingensief-Interview in der Neuen Züricher Zeitung vom 17.07.10

Endlich mal kein blödes Sommer-Gequatsche. Wenigstens einer macht sich noch ehrlich Gedanken zum Dilemma an den Deutschen Bühnen, ohne alles besser wissen zu wollen. Übrigens sagt Schlingensief nicht das früher alles besser war, in diesem negativen Kontext wie Peter Kümmel. Das was anderen so fehlt, hier findet man es, die Fähigkeit sich selbst richtig einschätzen zu können und das ganz ohne Kompromisse auch gegen sich selbst: „Glückseligkeit heißt, frei zu sein – auch so frei zu sein, sich selbst in Frage zu stellen. Aber das kriegt kaum einer hin, weil es schwer ist, ganz allein und für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und zu sagen: «Ich bin nicht der, der ich sein wollte. Wie kam es dazu?»“ Schlingensief lebt wirklich im Augenblick, in dieser „Nanosekunde des Glücks“.
Schlingensief: das Leben spüren
Ja. Aber das meint trotzdem nicht dieses bewahrende "Carpe diem". Ich lese das Interview so, dass er trotz seiner Krankheit, welche ihm möglicherweise "geholfen" hat, sich selbst als "Künstler-Gott" mehr in Frage zu stellen, weiterhin für Veränderung kämpft.
+++ "Alle Ordnungen des Menschen sind darauf eingerichtet, daß das Leben in einer fortgesetzten Zerstreuung der Gedanken nicht GESPÜRT werde." (Friedrich Nietzsche) +++
Aber Schlingensief will es spüren. Das ist die Aktivität eines Leidenden, der nicht pessimistisch wird, sondern das Gleichgewicht, die Gelassenheit und die Dankbarkeit gegen das Leben aufrechterhalten will.
+++ "Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden MUSSTE." (Friedrich Nietzsche) +++
Schlingensief: Lebensversicherung aufgeben
In der Tat hat Schlingensief einige interessante Gedanken geäußert, z.B. : "Ich mag es nicht mehr, dass viele Schauspieler in Deutschland immer nur wissen wollen, was sie gleich tun sollen, und auch schon die Applausquote mit einfordern." Ich vermisse auch die Überraschungsmomente. Was zuweilen spontan und improvisiert erscheint, ist oftmals doch nur einstudiert, das wird vor allem deutlich, wenn man sich ein Stück doppelt ansieht. In vielen Stücken befinden sich einkalkulierte Lach-Szenen, die den Schauspielern die Gewissheit verleihen, dem Publikum ein angenehmes Gefühl verschafft zu haben.
In Afrika kann Schlingensief ja seine Lebensversicherung abgeben und sich auf diverse interessante Bedrohungen einlassen, auf die ich persönlich gern verzichten möchte. Dort kann er das Leben noch spüren, was im Westen, so der Meister, vor lauter Versicherungen fast gar nicht mehr möglich ist. Wenn die Imponderabilien des Lebens tatsächlich die Lebensqualität ausmachen, wäre das auch eine Chance fürs Theater. Dann könnten auch Unberechenbarkeiten und Elemente von Aktionskunst auf der Bühne Einzug halten.
Schlingensiefs Diagnose, dass manche Intendanten bei ihren Spielplänen eine Affinität zum Potpourri haben, ist, fürchte ich, richtig. Bei zu viel Avantgardismus, der nur den Geschmack einer intellektuell entsprechend disponierten Publikumsfraktion anvisieren kann, befürchten wohl einige Intendanten, dass ihnen von oben der Geldhahn ein bisschen abgedreht wird. Deshalb gibt es zwischendurch Veranstaltungen aus dem Amüsierbetrieb für den Skat-Club von Opa Krause. Und gelegentlich gehen auch vulgär-progressive Kräfte der Fernseh-Unkultur ins Theater.
Schade, dass es dem Veteran Castorf nicht mehr gelingt, Leute wie Diedrich Diederichsen in seinen Laden zu locken. Vielleicht konnte Schlingensief damals einiges von Diederichsens Beredsamkeit abgucken, übernehmen und für die eigenen Eloquenz-Techniken nutzen.
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