Gott singt nicht mit

3. März 2023. Guillermo Calderòn schickt eine Gruppe Impfgegnerinnen auf die Suche nach dem gelobten Land. Doch überall hat die deutsche Geschichte verbrannte Erde hinterlassen.

Von Theresa Luise Gindlstrasser

„Bavaria“ am Residenztheater © Sandra Then

3. Februar 2023. Die Madonnen verhüllen sich andächtig mit weiß-blauen Schleiern. Währenddessen blinken der Krokodile Augen schalkhaft vor sich hin. Fürs finale Bild sind sie endlich am Ziel, sie, die sechs Frauen, die deutschen Impfgegnerinnen, die sich auf die Suche nach einem seligen und reinen Leben gemacht haben. Und angekommen sind in Paraguay, wo sie eine Zukunft für sich aufbauen wollten, nun aber feststellen müssen: "Ein neues Land gibt es nirgends. Es gibt nur reiche Länder und arme Länder."

Startpunkt ihrer Reise war eine Chorprobe. Das als Auftragswerk das Residenztheater entstandene Stück "Bavaria" ist reich an Liedern. Wahrlich eine Mitsingveranstaltung. Der chilenische Autor und Regisseur Guillermo Calderòn fügt seine Dialoge zwischen 14 Gesangsstücke, auf Deutsch, Spanisch und Guaraní. Musiziert wird am Klavier, auf der Gitarre und der Klarinette oder mit dem Regenstab. 

Und jetzt alle!

Die Liedtexte werden dem Publikum über eine Projektion zur Verfügung gestellt, die Aufforderungen doch endlich mitzusingen, ordentlich mitzusingen, endlich ordentlicher zu singen, führen zu was und spätestens bei "Kein schöner Land in dieser Zeit" summt und brummt und, ja, singt der halbe Saal. Dann jodelt es plötzlich höchst professionell von rechts hinten. Also mindestens gelacht wurde bei der Premiere sehr ordentlich.

Die für Bühne und Kostüme zuständige Sophia Sylvester Röpcke wiederholt die Marstall-Ziegel-Architektur auf der Vorhangskulisse und verkleinert den Raum auf eine kompakte Spielfläche. Der Boden ist in diesem Chor-Proberaum ganz mit weichen Matten ausgelegt. Es gibt großzügig verteilte Sitzkissen, ein paar Lampen, Vasen und Tischlein: in-your-face-"Ethno Style". Und auch das Schauspielensemble – in Kaftans, Trachtenjacken, Plüschpantoffeln und mit ins Haar geflochtenen Tüchern – schaut eklektisch aus. Ein bunter Haufen Menschen, vereint nur im Gesang. Und in ihrer Impfgegnerinnenschaft. 

Das gelobte Land

An der Frage, wo – nämlich vielleicht doch in Bayern? – das selige Leben am besten verwirklicht werden könnte, entzündet sich die Diskussion, die erst im zweiten Akt, also in den letzten zehn Minuten mit den Krokodilen, zu einem Ende kommen wird. Katja Jung plädiert als Karola von Anfang an für Paraguay und müht sich – kniend und die Hände Richtung Himmel ringend – die anderen auf "Südamerika. Das Land der Waffen und des Kokains!" einzuschwören. Für ihre Überzeugungsarbeit hat sie Franka mitgebracht und Lisa Stiegler lässt für die Darstellung dieser in der "Colonia Dignidad" aufgewachsenen Frau das "R" so richtig rollen.

Bavaria3 805 Sandra Then uGruppenbild mit Kroko: Mareike Beykirch, Barbara Melzl, Anna Bardavelidze, Barbara Horvath, Katja Jung, Lisa Stiegler © Sandra Then

Mit dem Verweis auf die 1961 von Deutschland nach Chile ausgewanderte christliche Sekte und deren systematischen sexuellen Missbrauch beziehungsweise deren Menschenrechtsverletzungen in Zusammenarbeit mit der Pinochet-Diktatur, bringt Calderòn ein Puzzleteil der Beziehung Deutschland-Südamerika in Stellung. Weitere Verweise gelten der kolonialen Landnahme, den geflüchteten Nazis und Elisabeth Förster-Nietzsche, denn die Schwester des Gott-ist-tot-Philosophen lebte einige Jahre in Nueva Germania in Paraguay.

Szenenapplaus!

Apropos Gott! Anna Bardavelidze ist in der Rolle der Charlotte zuständig für die direkten Ansprachen und wendet den Blick erwartungsvoll nach oben, aber dieser Gott bleibt stumm und gibt keinen Rat. Erst ganz entschieden fürs Gehen, dann ganz entschieden fürs Bleiben, argumentiert Mareike Beykirch, die als Lina die Gruppe mit Engagement zusammenhält. Währenddessen fällt Barbara Horvath der Schellenkranz aus der Hand, ihre resolute Eva hat wohl einen Mord begangen. Und Barbara Melzl, die sich als Maria die längste Zeit im Hintergrund hält, erntet für einen stimmlichen Ausbruch Szenenapplaus. Das Ensemble hält den inhaltlich wild assoziativen Abend zusammen, auch wenn die Figuren ihre Argumente plötzlich wechseln oder die Geschichte ihre krassen Haken schlägt, bleibt es spielerisch ganz leicht. Und also amüsant.

 

Bavaria
von Guillermo Calderòn
aus dem Englischen von Katrin Michaels
Uraufführung
Inszenierung: Guillermo Calderón, Bühne und Kostüme: Sophia Sylvester Röpcke, Komposition und Musikalische Leitung: Stephen Delaney, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Anna Bardavelidze, Katja Jung, Barbara Horvath, Lisa Stiegler, Mareike Beykirch, Barbara Melzl sowie Miene Costa.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Eine "verworrene Geschichte des Nichtverstehens, ein mäanderndes Geflunkere", hat Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (4.3.2023) im Residenztheater erlebt. Die Haltung jeder der Figuren "wechselt im Zufallsmodus, keine steht konsequent für irgendwas, fast jede hat mal einen Ausbruch, was im Verlauf der erstaunlich langen eineinhalb Stunden bemerkenswert ermüdend wirkt." Und auch "der Witz, anfangs großartig, dünnt aus, verliert sich im Ungefährem, weil Calderón zu viel will und zu wenig macht (...)."

Auf Alexander Altmann vom Münchner Merkur (4.3.2023) wirkt es, "als habe hier Christoph Marthaler ein Jelinek-Stück inszeniert". "Gelegentlich wird von ganz hinten im Zuschauerraum sogar meisterhaft dazwischengejodelt (Miene Costa), und um was es an diesem Abend gehen soll, bleibt vage, aber gerade die wohltuend surreale Musik- sowie Themen-Mischung macht die absurde Komik des Stücks aus." Fazit: "Eine zauberhaft-irritierende, abgründige Groteske, für die es verdienten langen Applaus gab."

"Dieser Abend ist so durchgeknallt, überzeichnet und heiter, dass es allein eine Freude ist, dem Ensemble beim Turnen, Streiten, Singen und auch Scheitern zuzusehen. Anfälle religiösen Wahns stehen unkommentiert neben herrlich naiven Lied-Interpretationen", schreibt Anne Fritsch in der Abendzeitung (4.3.2023). Der Abend sei hoch aktuell. "Es geht um den Menschen, der sich das Weit-Entfernte gerne als Paradies ausmalt, anstatt das Gute zu sehen, das doch gar nicht so selten relativ in der Nähe wartet. Zumindest, wenn man in einem der privilegiertesten Länder der Welt zuhause ist."

 

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