Das Schloss - Münchner Residenztheater
Fahrstuhl in die Verzweiflung
3. Februar 2024. Türen führen nicht mehr dorthin, wo man gerade herkam. Keine Auskunft bleibt verbindlich, mit jedem Schritt entsteht mehr Verwirrung: Karin Henkel erschafft in "Das Schloss" nach Franz Kafka eine Welt absurder Traumlogik aus Bühnenbild, Licht, Text. Auf der Bühne kommt das bemerkenswert zusammen.
Von Martin Jost
3. Februar 2024. Die Drehbühne gibt Gas und karge Räume sausen an uns vorbei. Gleich, nachdem der eiserne Vorhang den Blick auf die schwarze Tiefe der Bühne freigegeben hatte, sind wir in einen Traum eingetaucht. Ein Alptraum, ein Angsttraum, wenigstens ein Frusttraum, in dem nichts von der Stelle kommt und die Naturgesetze sich gegen einen verschworen haben. Der Träumer heißt Herr K. Die Handlung ist von dem kleinen Dorf des Romans in ein Hochhaus verlegt, das laut der Fahrstuhl-Anzeige mehr als 300 Stockwerke und nochmal so viele Untergeschosse hat und aus dem kein Weg zurück ans Tageslicht führt.
Karin Henkels Inszenierung funktioniert bemerkenswert gut. Raum und Zeit und Logik sind durcheinander. Das Sounddesign (Arvild J. Baud) und der Duft des Bühnennebels machen schwindlig und die Rasanz, mit der die Szenen vorbeirauschen, verhindern eine gründliche Orientierung. In der ausgefeilten, surrealen Bühne von Thilo Reuther spielt das Ensemble lustvoll im Absurden. Die neun Schauspieler:innen agieren ohne ironische Distanz und ihre kleineren Doubles – neun Mitglieder der Kinderstatisterie, die sich die Rollen mit den Erwachsenen teilen – meistern die anspruchsvollen Texte mit verrücktem Ernst.
Gaslighting überall
K. erfährt, dass er durch die Verwaltung im nahen Schloss als Landvermesser bestellt wurde. Schon recht, jetzt würde er sich gern ausruhen, eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, seinen Arbeitgeber persönlich treffen und mit Landvermessen loslegen. Keine Chance: Eine geschäftige, aber unfähige Bürokratie gaslightet K. permanent.
Die Welt, in der K. sich mehr und mehr verirrt, lässt ihn bei jedem Schritt auflaufen. Aufseher:innen halten sich strikt an Fragebögen und verweigern ein menschliches Gespräch. Türen sind verschlossen oder führen plötzlich nicht mehr dahin, wo man gerade hergekommen ist. Keine Auskunft bleibt verbindlich und den Satz "Dafür bin ich nicht zuständig" hört K. so oft, dass er ihn bald mitspricht. Diese Welt bereitet uns von Anfang an darauf vor, dass K. nicht ans Ziel kommen wird, sofern er überhaupt eins hat. "Ständig ist er auf der Suche nach der Lösung. Aber vielleicht gibt es gar kein Rätsel", beschreibt ihn ein Beamter aus der Ferne. Wenigstens für uns ist seine Lage komisch: Das Publikum lacht viel an diesem Abend.
Die Rollen sind durch Katrin Wolfermanns Kostüme leuchtend klar markiert. Es gibt jede Figur in mehreren Exemplaren, in verschiedenen Geschlechtern und Größen. Vincent zur Linden, Carolin Conrad, Florian von Manteuffel und eins der Kinder (mit übergroßer Latexmaske) spielen alle K., manchmal gleichzeitig wie in Paralleluniversen.
Die Bühne als Transformer
Die Bühne ist fast eine eigene Figur, so viel wie sie sich bewegt und das Tempo hochhält. Aus ihren Tiefen und aus dem Schnürboden kommen mit einem überirdischen Dröhnen Wände angeschwebt und fügen sich zu neuen Räumen. Die längste Zeit stehen auf der Drehbühne vier kuchenstückförmige Räume, die sich anhand ihrer zunehmend absurden Aufzugtüren unterscheiden. Wenn die Bühne sich dreht, rauschen die Räume vorüber und wie aus dem Nichts taucht immer wieder Polina Lapkovskaja alias Pollyester auf. Sie singt einen sphärischen Soundtrack und ist in ihrem schwarzen Kostüm in der Schwärze des Raums fast körperlos, nur ihr E-Bass funkelt wie ein Geist.
Wenn die Figuren durch eine Tür in den Nebenraum gehen, kommen sie auf der anderen Seite selten als das gleiche Geschlecht und mit der gleichen Statur an. Die Räume sind Transformationsmaschinen, die nicht nur ihre eigene Einrichtung und Funktion verändern, sondern auch die Figuren äußerlich verwandeln.
Stellvertretende Verzweiflung
Mitten im Satz bleibt eine Szene hier stehen und setzt sich dafür eine Tür weiter, in der Nachbardimension fort oder ein Dialog läuft synchron in benachbarten Zimmern. Neben mannsgroßen, schillernden Käfern à la "Verwandlung" leuchten auch Versatzstücke aus anderen Kafka-Texten auf. Einmal wird K. verhaftet wie im "Process". Karin Henkel und Rita Thiele haben sich auch bei Heiner Müller bedient. Der Fahrstuhl-Monolog aus dessen Stück "Der Auftrag" war nach Müllers eigener Auskunft nach einem Traum aufgeschrieben.
Den Ton und die Atmosphäre aus "Das Schloss" hat Karin Henkel schlüssig ins Theater gebracht. Licht (Markus Schadel), Sound und Bühne stimmen unsere Sinne kongenial auf die Traumlogik und wir sind bald so orientierungslos wie K: "Es scheint aus dieser Welt keinen Weg in ein sinnvolles Leben zu geben." Seine Verzweiflung lässt sich als Gleichnis lesen auf Opfer von institutioneller Gewalt, sei es im Asylsystem, in der Sozialverwaltung oder im Gesundheitswesen – oder ganz ohne Interpretation als wirkungsvolle Entführung aus dieser Realität in einen Traum.
Das Schloss
nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka für die Bühne bearbeitet von Karin Henkel und Rita Thiele
Regie: Karin Henkel, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Katrin Wolfermann, Komposition und Sounddesign: Arvild J. Baud, Komposition und Live-Musik: Pollyester, Chorarbeit: Alexander Weise, Körperarbeit: Brandon Lagaert, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Constanze Kargl, Rita Thiele.
Mit: Linda Blümchen, Carolin Conrad, Michael Goldberg, Evelyne Gugolz, Vincent zur Linden, Florian von Manteuffel, Nicola Mastroberardino, Vassilissa Reznikoff, Michael Wächter, Pollyester, sowie Mitwirkenden aus der Kinderstatisterie.
Premiere am 2. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
"Die gut geölte Mechanik der Aufführung erinnert von fern an die klappernden Schranktüren einer Farce. Das liefert - zusammen mit dem virtuosen Austausch von Doppelgängern einen höheren Schauwert, als er sonst im Sprechtheater üblich ist", schreibt Robert Braunmüller in der Abendzeitung (5.2.2024). "Der Preis dafür ist hoch: Alle Schauspielerinnen und Schauspieler zappeln wie Marionetten an der Hand der Regisseurin und nicht einmal die vier Landvermesser entwickeln ein stärkeres individuelles Profil."
Henkel und ihr Ausstatter Thilo Reuther haben einen sehr überzeugenden Ansatz gefunden, um von diesem Gefühl des ausweglosen Geworfenseins in eine abweisende Umgebung zu berichten, so Michael Schleicher im Münchner Merkur (5.2.2024). Das Bühnen-Verwirrspiel werde verstärkt durch Figuren, die ihre Behauptungen, Aussagen und Anweisungen mit Vorliebe flugs ins Gegenteil verkehren. "Ein Klipp-Klapp-Kafka mit überraschend reichlich komischem Potenzial", der mit Wucht auf Herz und Bauch ziele.
Eine "turbulente Sci-Fi-Burleske über das Individuum in Zuständen der völligen Entindividualisierung" hat Egbert Tholl erlebt, einen "tollen Zirkus", der allerdings "bedeutend kurzweiliger tut, als er tatsächlich ist". In der Süddeutschen Zeitung (5.2.2024) schreibt Tholl außerdem: Karin Henkel scheine den Roman nach ungefähr einem Drittel weggelegt und stattdessen nach anderen Büchern gegriffen zu haben. "Mal huschen ein paar Sätze aus dem "Prozess" über die Bühne, mal krabbeln Käfer herum wie aus der 'Verwandlung'. Es wirkt wie ein Kafka-Mash-up, es könnte ein Horrortrip sein, ist aber keiner, dazu ist es zu albern." Insgesamt sei es "ein bisschen wie eine Angebotspalette, aus der man sich aussuchen kann, was einem gefällt. Vielleicht am besten Pollyester, die Dame am E-Bass, eine extrem theatererfahrene Musikerin, die hier quecksilbrige Zukunftsballaden im Falsett singt, sehr eigen, sehr schön."
"Dass Kafka komisch ist, ist gängige Münze, beim Publikum verfängt Henkels Umsetzung nicht durchgehend", schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ (17.2.2024). Warum sich zu den Kafka-Zitaten welche aus Heiner Müllers "Der Auftrag" gesellen, bleibt Henkels Geheimnis. "K.’s Monolog, in dem er seine Audienzbitte bei Klamm formuliert, wäre ein passabler Schluss gewesen", die Regisseurin lasse die Chance vorübergehen, und so ziehe sich die Inszenierung am Ende auch deswegen, "weil das Regiekonzept Ermüdungserscheinungen zeigt".
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Man durfte gespannt sein, für welche Lesart sich das Duo in seiner Theaterfassung entscheidet. Wie in vielen anderen aktuellen Kafka-Inszenierungen wird der „K.“ im fliegenden Wechsel von verschiedenen Ensemble-Mitgliedern gespielt, Carolin Conrad drückt der Hauptfigur mit ihrem ungläubigen Staunen den stärksten Stempel auf. Dieser Residenztheater-„K.“ krabbelt wie ein Versuchsobjekt immer wieder an einer Glaswand hoch, findet aber weder Halt noch Ausweg aus dem Labyrinth der Bürokratie der Schlossherren. Dazu passt, dass in einigen Szenen plötzlich der große Käfer, in den sich Samsa in Kafkas „Verwandlung“ verwandelt, aus dem Fremdtext herüberkrabbelt und kurz über die Szene kreucht.
Zur tragikomischen Figur wird „K.“ in dieser Lesart, die gezielt jene Passagen aus dem Roman-Fragment auswählte, in denen der Landvermesser Verhören unterzogen wird, widersprüchliche Auskünfte bekommt und am Ende immer noch verwirrter zurückbleibt. Ein Trumpf der Inszenierung ist Thilo Reuthers ausgefeiltes Bühnenbild, ständig öffnen sich neue Türen, verschieben sich Wände, verschwinden Figuren oder tauchen wie aus dem Nichts wieder auf. Das hat großen Schauwert, doch dieses zentrale Prinzip der Inszenierung wiederholt sich in den knapp zwei Stunden etwas zu oft.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/02/das-schloss-residenztheater-kritik/