Liebevolle Bayern-Zerlegung 

25. Mai 2023. Stolze 800 Seiten umfasst Lion Feuchtwangers Roman, in dem sich ein 100-köpfiges Typen-Panoptikum um einen zweifelhaften Helden gruppiert: das Land Bayern in den Jahren 1920 bis 1923. Ein ganzes Jahr hat der Regisseur Stefan Bachmann mit der Dramaturgin Barbara Sommer an einer Bühnentextfassung gearbeitet – und jetzt einen Tanz auf dem Vulkan inszeniert. 

Von Sabine Leucht

Lion Feuchtwangers "Erfolg" in der Regie von Stefan Bachmann am Münchner Residenztheater © Birgit Hupfeld

25. Mai 2023. Die Münchner kennen ihn gut, ihren "Erfolg". Der Roman, den Lion Feuchtwanger 1930 verfasste, kam erstmals 1986 im Residenztheater auf die Bühne. 2011 widmeten die Kammerspiele ihm eine fulminante Lesung sämtlicher 800 Seiten. 2015 zog das Literaturhaus mit einer Ausstellung nach. Feuchtwanger beschreibt in "Erfolg" – so der Untertitel – "Drei Jahre Geschichte einer Provinz", und zwar die verhängnisvollen von 1920 bis 1923, dem Jahr des Hitlerputsches. Der zweifelhafte Held darin: das Land Bayern. An Figuren hatte der Autor nach eigenem Bekunden kein Interesse. Dafür kommen ein rund 100-köpfiges Typen-Panoptikum und ein hakeliges gesellschaftliches Räderwerk vor, worauf der Erzähler vermeintlich aus der Zukunft blickt. Wie ein Schmetterlingsforscher oder Ethnologe, der darüber staunt, was er da sieht, aber mit seinen Gegenständen nicht eben zimperlich ist.

Prototypen an losen Handlungsfäden

Nun hat der Regisseur Stefan Bachmann Buch wie "Bayernland" unters Glas gelegt und der Münchner Abendzeitung im Vorfeld versprochen, er werde sie "liebevoll zerlegen". Ein Jahr haben er und seine Dramaturgin Barbara Sommer an einer Textfassung gearbeitet und dabei festgestellt, dass sich das Zeit-Mosaik gegen eine Dramatisierung sträubt. Was also machen sie daraus? Sie reduzieren Feuchtwangers Personal auf 14 Prototypen und reihen sie lose an zwei Handlungsfäden auf, die, weil sie realiter immer wieder abreißen, eher zwei Bildwelten sind: Die eine umschließt den Museumsdirektor Martin Krüger, die andere lässt viel Luft und Nebel um Krügers Geliebte Johanna Krain.

Erfolg Foto Hupfeld 0957pFür jede Strömung ein Repräsentant: Oliver Stokowski, Liliane Amuat, Thiemo Strutzenberger und Florian von Manteuffel © Birgit Hupfeld

Eine Wand aus grauen Würfeln hat Olaf Altmann auf die Bühne des Residenztheaters gebaut. Aus einem Schlitz darin leuchten Gesichter, drei, vier, sieben – schließlich zehn. Und da hat man sie zu Beginn auf engstem Raum zusammengepfercht: die Gesellschaft der Karrieristen, Opportunisten und Denunzianten. Noch skandieren sie die ersten Sätze über den weltweit erstarkenden Nationalismus im Chor, doch schon werden die beiden, die nicht ins Bild passen, nach vorne geschoben.

Unkanalisierte Begierden

Martin Krüger hat ein Gemälde in seinem Museum hängen, das "bei allen kirchlich und gesund denkenden Menschen Anstoß erregt", vor allem der aufstrebenden Partei der "Wahrhaft Deutschen". Deshalb macht man ihm unter einem Vorwand den Prozess und steckt ihn ins Zuchthaus. Thiemo Strutzenberger spielt diesen Weggecancelten mit der ihm eigenen nach außen gestülpten Hypersensibilität. Von unkanalisierten Begierden zerrissen und ein bisschen auch mit seiner Märtyrerrolle kokettierend, stemmt sich sein Martin gegen die Wände des Würfels, in dem er bald allein ist. Liliane Amuats kraft- und glutvolle Johanna stürzt sich zwar zu seiner Rettung in den braunen Sumpf und wirft sich so manchem Mächtigen an den Hals, kann aber mit "diesem lustigen sanguinen Mann" nicht wirklich viel anfangen.

Erfolg Foto Hupfeld 8791pAllein im Würfel: Thiemo Strutzenberger als Museumsdirektor Martin Krüger © Birgit Hupfeld

Das ist einer der Gründe, warum dieser Abend nicht richtig funktioniert. Mit schönen Bildern, zwischen Jazz- und Volksmusik wechselnder Livemusik, expressiver Körpersprache und Revue-Elementen ist er aus demselben Holz wie Bachmanns 2021 zum Theatertreffen eingeladener "Graf Öderland": Gut anzuschauen, atmosphärisch, voller Zeitkolorit, aber das Zentrum fehlt, die behauptete Mitte hält den Rest nicht zusammen. In Johannas Welt – einem weiten, von monumentalen Straßenlaternen eingefassten Rund – werden die Roaring Twenties beschworen mit ihren neuen, genderfluiden, bald wieder im Keim erstickten Freizügigkeiten. Strutzenberger spielt im Zweitjob eine glamourös-morbide russische Tänzerin, Amuat das verfemte Dienstmädchen Amalia Sandhuber, das der monarchistische Bruder der Führerfigur Robert Kutzner gemeinsam mit dem abtrünnigen Sohn des jüdischen Rechtsanwalts Geyer in vorauseilendem Gehorsam ermordet.

Schauerromantik

Nach und nach haben alle Repräsentanten für diverse gesellschaftliche Strömungen ihren Auftritt, die Feuchtwanger teils an historische Figuren aus Politik, Wirtschaft und Kultur angelehnt hat. Den Mittelständler und Lebemann Paul Hessreiter spielt Oliver Stokowski als eitlen Geck mit dünner Haut; kein Nazi, aber auch "nicht gewillt, gegen die Weltläufte zu rebellieren". Barbara Horvath ist als Großindustrielle von Reindl ganz cooles Kalkül, Florian von Manteuffels Hang zur Klamotte ist bei der Karikatur eines bier- und genussseligen Mia-san-mia-Bayern gut aufgehoben. Schön, wie das Gros der Schauspieler die vorherrschende expressive Künstlichkeit individuell schattiert. Doch im Wesentlichen bleibt es bei hübschen Nummern und einer Schauerromantik, der jede Bedrohlichkeit fehlt. Und auch wenn es nahezu sensationell ist, wie Strutzenberger am Schluss den Knef-Song "In dieser Stadt" singt, kommt der als Link zwischen 19- und 2023 auch ziemlich harmlos daher: "In dieser Stadt kenn' ich mich aus / In dieser Stadt war ich mal zuhaus; / Wie sieht die Stadt wohl heute aus?" Tja, wie? Aber womöglich ist die vermeintliche Harmlosigkeit genau Bachmanns Punkt. Wir tanzen auf dem Vulkan und merken nicht, dass er ausbricht.

Erfolg
Von Barbara Sommer und Stefan Bachmann nach dem nach dem gleichnamigen Roman von Lion Feuchtwanger
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Barbara Drosihn, Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry, Komposition und Musikalische Einstudierung: Sven Kaiser, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Barbara Sommer, Live-Musik: Sven Kaiser, Julia Bassler, Alexander von Hagke, Luke Cyrus Goetze, Manfred Mildenberger.
Mit: Liliane Amuat, Steffen Höld, Barbara Horvath, Florian von Manteuffel, Valentino Dalle Mura, Thomas Reisinger, Oliver Stokowski, Thiemo Strutzenberger, Moritz Treuenfels, Michael Wächter
Premiere am 24. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de


Kritikenrundschau

"Wer eine Nacherzählung des Romans, zünftiges bayerisches Lokalkolorit oder hartes München- und Politik-Bashing erwartet, eine zornige, schmerzende Abrechnung, wird von dieser Inszenierung enttäuscht sein", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (26.5.2023). "Weh tut sie nicht. Sie ist auch nicht wutgetrieben und nicht politisch-progressiv." Aber sie erzeuge Unbehagen, "eine alptraumhaft gespenstische Atmosphäre, die auch uns Heutige aufschrecken kann. Und sie schafft etwas, woran andere Romanadaptionen auf der Bühne oft scheitern: künstlerische Eigenständigkeit und Verdichtung." 

"Bachmann (...) weiß, dass er nur scheitern kann. Aber er und sein Team tun das auf respektabel hohem Niveau", schreibt Simone Dattenberger im Merkur (26.5.2023). "Geboten wird eine Instant-Historie, intelligent aufgemischt, sodass die Bezüge zum Heute in Auge und Ohr springen. Geboten wird super Live-Musik. (...) Feuchtwanger hätte es trotz einiger Kurzatmigkeit gefallen."

"Was für ein Abend!" schwärmt Sabine Busch-Frank im Donaukurier (26.5.2023). "Dass es großartig werden könnte, lassen schon die ersten Minuten erhoffen." "Minuziös gearbeitet" und "genial getaktet" lasse Bachmann seine feine Gesellschaft am Rande des Vulkans tanzen, wie man es eher an der Spree als an der Isar erwartet hätte "und die Musik dazu ist einfach herrlich."

"Dieser Abend ist vor allem eine große Ensembleleistung", schreibt Anne Fritsch in der Abendzeitung (26.5.2023). "Ja, das Geschehen auf der Bühne ist nicht so tief und scharf wie der Roman selbst, aber eine schöne Einstimmung, dieses hellsichtige Werk (nochmal) zu lesen. Und in einzelnen Momenten kommt Bachmann dem Geist Feuchtwangers sehr nahe, dieser Gleichzeitigkeit von Niedergang und Hoffnung, von Pessimismus und einem Rest von Optimismus." 

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