Umkämpfte Zone - Staatstheater Cottbus
Wunde auf und Pflaster drauf
von Georg Kasch
Cottbus, 24. Oktober 2020. "Die NSU-Morde – unser 11. September!" Eine Mädchengang brüllt diesen Satz, wieder und wieder, während MG-Salven sie niedermähen. Die Toten verschwinden im Loch des riesigen schwarzen Trichters, der die Bühne beherrscht, Rückzugshöhle all derer, die sich nicht mit dem Gestern auseinandersetzen wollen.
Der Stoff: ein Statement
Ruth Heynen, neue Schauspielchefin unter dem neuen Intendanten Stephan Märki in Cottbus, startet ihre erste Spielzeit mit Ines Geipels "Umkämpfte Zone". Das ist in mehrfacher Hinsicht ein Coup. Geipel hat mit ihrem Essay eine Art ostdeutsches Gegenstück zu Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" geschrieben. Den Krebstod ihres jüngeren Bruders Robby nimmt sie zum Anlass, ihre Familiengeschichte aufzuschreiben und zu fragen, warum heute die Hälfte der Ostler fremdenfeindlich ist und in etlichen Regionen die AfD stärkste politische Kraft. Hat das mit den Kontinuitäten zweier Diktaturen hintereinander zu tun?
Geipel stößt auf Entlastungs- und Verdrängungsmechanismen im Dutzend und Dreck unterm Teppich. Auch dem der eigenen Familie. Ihre Diagnose der Ost-Gesellschaft: "autoritärer Charakter". Das Buch geht mit vielen Lebenslügen der DDR, mit mangelnder Aufarbeitung und dem Durchkommen der einstigen Täter hart ins Gericht. Im Osten wird es, freundlich gesagt, kontrovers diskutiert. Wenn man damit als Spartenchefin "aus dem Westen" den Auftakt bestreitet, ist das natürlich ein Statement: Es wird ungemütlich.
Trostpflaster auf Zumutungen
Und hier kommt Armin Petras ins Spiel. Er ist jetzt Hausautor in Cottbus, hat die Stückfassung erstellt und die Regie übernommen. Wo Geipel unerbittlich zu werden droht, wo sie im Sinne ihrer Argumentation auch Dinge ausblendet (etwa, dass 1990 westdeutsche Neonazis in den Startlöchern standen, um den fruchtbaren Ostboden zu beackern) oder nur am Rande erwähnt (etwa, dass nach der Wiedervereinigung 90 Prozent der Ostbiografien einen Bruch erlebten, wirtschaftlich und sozial), liebt Petras. Als Autor Fritz Kater umkreist er immer wieder die innerdeutschen Brüche, versorgt behutsam Ost-Wunden. Als Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters setzte er einst ein ganzes Dramatiker*innen-Team auf die Modellstadt Wittenberge an, um dem Ost-West-Riss mit künstlerischen Mitteln zu begegnen.
Auch in Cottbus klebt er auf Geipels produktive Zumutungen Trostpflaster. Und das ist oft sehr schön. Als Dramatiker stürzt er sich auf die biografischen Spuren, doppelt die Erzählerin, fügt den Bruder als Mitforschenden hinzu. Das verwundert auf den ersten Blick – ist nicht gerade Robby es, der sich der Aufarbeitung verweigert, kurz vor seinem Tod? Aber die drei Figuren suchen im fiktiven Raum, und da Robby der Grund dieser Suche ist, nimmt man als Theaterbesucher ihre trialogische Forschung dankbar an.
Vergessen und verdrängen oder in der Wunde kratzen?
Mitunter illustriert Petras die Geschichte in und vor Peta Schickarts strengem Trichter mit arger Deutlichkeit; man kennt ja all das Gebrüll, die aufgeregte Press-Emotionalität, das Torkeln und Taumeln. Die Nazi-Großmutter? Streng, bissig, mit Hakenkreuzarmbinde. Der Stasi-Vater? Eine Honecker-Karikatur.
Dann wieder stößt er auf hinreißende Bilder. Einmal häutet sich die junge Ines, zeigt Schicht um Schicht ihre Geschichte mit all den teils widersprüchlichen Rollen, ohne sie erklären zu müssen: Lucie Luise Thiede zieht das Spitzenkleid aus, dann das blutbeschmierte Hemd, dann die Pionieruniform, um im Lauftrikot loszurennen. Einmal kommen die Spielenden als Pittiplatsch, Schnatterinchen und Co. auf die Bühne und suchen im süß-naiven "Sandmännchen"-Ton nach der Kiste, in der die Erinnerungen an die Eltern gesammelt sind: Soll man vergessen und verdrängen oder in den Wunden herumkratzen?
Diese Momente sind deshalb so gut, weil sie das Cottbusser Publikum mit all den positiven Erinnerungen umarmen, die es ja gibt – und ihnen zugleich Geipels für Ostdeutsche oft unfreundliche Diskurse unterjubeln. Und weil Susann Thiede, Lucie Luise Thiede und Johann Jürgens (den Petras mitgebracht hat) immer wieder neu ansetzen, um die vielen Facetten ihrer Charaktere auszumalen. Dass sie alle an der einstigen DDR-Schauspieleliteschule "Ernst Busch" studierten, an der Geipel heute Verskunst lehrt, gehört zu den hübschen Fußnoten dieser Produktion. Nur Gunnar Teuber bleibt mit seinen Vaterfiguren unterbeschäftigt.
Chorisch spricht das Volk
Damit das alles nicht zu privat und das Volk sichtbar und hörbar wird, gibt es den fabelhaft präzisen BürgerSprechChor. Als Masse ballert er ein Trommelfeuer an Geschichtsdaten und Geipel-Reflexionen ins Publikum, erst als jüdische Bürger in Riga auf dem Weg ins KZ, später als Durchschnitt durch die DDR-Gesellschaft, wie sie sich selbst gern sah (Eisprinzessin inklusive), schließlich als Masse aus Zukurzgekommenen. Wenn sie einem um die Ohren hauen, dass der Bezirk Cottbus der mit der größten Stasidichte war und hier besonders viel Volkseigentum in unklare Kanäle versickert ist, dann hat das die Wucht einer Ohrfeige.
Nach solchen Momenten greift Petras wieder zum Pflaster: zu Ost-Songs wie Manfred Krugs Wenn ich dich seh, Reinhard Lakomys Eierbecher-Kinderlied, Sillys Mont Klamott. Mit ihrer Atmosphäre, ihrer Poesie, auch ihrer Kunst, Dinge zwischen den Zeilen zu formulieren, sind sie ein Versöhnungsangebot: Es gab ein Leben in diesem Unrechtsstaat, voller Emotionen und Leidenschaften, Gedanken und Gesprächen. "Als ich fortging, war der Asphalt heiß“, singt Johann Jürgens als todkranker Bruder gegen Ende den Karussell-Hit zur Gitarre: "Kehr wieder um". Lucie Luise Thiede stimmt mit der Querflöte ein. Auf einmal sind der verdrängende todkranke Bruder und die Aufklärerin im musikalischen Dialog vereint: in der Kunst.
Umkämpfte Zone
von Ines Geipel
Uraufführung
Regie/Bearbeitung: Armin Petras, Bühne: Peta Schickart, Kostüme: Cinzia Fossati, Lichtdesign: Norman Plathe, Musik: Jörg Kleemann, Dramaturgie: Tanja Ruzicska Lisa Mell, Regieassistenz: Maria Tomoiagǎ, Kostümassistenz: Susanne Ruppert.
Mit: Susann Thiede, Lucie Luise Thiede, Johann Jürgens, Gunnar Teuber, Michael von Bennigsen, BürgerSprechChor des Staatstheaters Cottbus.
Premiere am 24. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-cottbus.de
Kritikenrundschau
Ines Geipel lese die Geschichte der DDR als Geschichte der Gewalterfahrung. Wie ein Krebsgeschwür fresse sich die verdrängte Vergangenheit in die Gegenwart hinein, so Frank Dietschreit im RBB (26.10.2020). Der Chor, der hier grölend durch die Geschichte rausche, tue regelrecht weh. Der Kritiker glaubt jedoch nicht daran, dass die Inszenierung erfolgreich sein wird, was ihr Anliegen 'Aufklärungsarbeit' angeht. "Ich frage mich eigentlich: für wen? Wir wissen das ja eigentlich alles." Und weiter: Die intimen Momente der Inszenierung würden immer wieder aufgebrochen durch Albernheiten. "Das hätte ich mir gerne erspart, dann wäre das vielleicht tatsächlich eine grandiose Aufführung geworden. So bleibt das ein bisschen im Ungefähren."
Petras verbinde werkgetreu die persönliche Geschichte des Bruders der Autorin mit der Geschichte zweier deutscher Diktaturen, schreibt Thomas Klatt in der Märkischen Oderzeitung (26.10.2020). Die Figur der Ines Geipel ist zwei Mal besetzt - "das bringe Dynamik in das stark politisierende Stück". Die utopiefreie Inszenierung fordere das Publikum zu einer bekannten, moralischen Grundfrage: "Ist ein richtiges Leben im falschen möglich? Ein Großteil des Publikums würde das vermutlich bejahen." Fazit: "Die erste Inszenierung in Cottbus unter neuer Leitung wird für Gesprächsstoff sorgen - nicht das Schlechteste, was Theater passieren kann."
Eberhard Spreng findet in Fazit im DLF (24.10.2020), dass Petras die zentrale Poesie des Buchs aufbreche. "Die theatrale Energie bleibt über den Abend immer dieselbe", im ersten Teil gebe es fast Momente von DDR-Revue. Geipels Schärfe werde verflüssigt, im zweiten Teil werde der Abend dann deutlich präziser. Was ein wenige fehle seien Bilder für das toxische Schweigen und die Kontinuität von Gewalt.
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