Sommer in Brandenburg - In Paretz führt Boris von Poser mit Bürgern und Profis den Roman von Urs Faes auf
Erzählen gegen die Vertreibung
von Gabi Hift
Paretz, 31. August 2018. Am Anfang steht die Hoffnung. Wir sind in der Paretzer Scheune, einst Stall, Traktorenlager der LPG, Speicher, jetzt Ort für Dorffeste und Kultur. Die Zuschauer sitzen an den Längsseiten, die Darsteller marschieren ein, zwölf wenden sich zur einen Seite, zwölf zur andern – noch lässt sich nicht unterscheiden, wer Profi ist und wer Mitglied der Bürgerbühne – und singen, ganz leise zuerst: "Ein neuer Frühling wird in die Heimat kommen, schöner noch, wie's einmal war". Da ist Hoffnung in der Luft, die alle teilen: die Bürger von heute, die auf eine neue Art von Heimat hoffen; die Figuren aus dem Stück im Jahr 1938: junge Juden, die auf ein neues Leben in Palästina hoffen, Nazis, auf den Anbruch eines Tausendjährigen Reichs hoffen. Und all diese Hoffnungen fühlen sich womöglich ähnlich an.
Bauer lernen
Urs Faes hat für seinen Roman viel über die Hachschara recherchiert, die Bewegung, die Jugendliche in Bauernhöfen für das Leben in den noch jungen Kibbuzim Palästinas trainieren wollte. Dieses Wissen hat er rund um die Liebesgeschichte von Lizzy und Ron in einem solchen "Landwerk" drapiert. Von deren realen Vorbildern weiß man nur, dass Lizzy die Ausreise nach Palästina gelungen ist, während Ron vermutlich nach Ausschwitz deportiert wurde. Wobei "Liebesgeschichte” eigentlich falsch ist, die beiden hängen in einem zum Strudelteig ausgewalzten Dauerzustand des Zagens, Barmens und leidenden Händchenhaltens fest und handeln nur ein einziges Mal, als Lizzy kurz vor ihrer Abreise mit Ron schläft.
Im Stück wird aber zunächst nicht nachgespielt, was auf dem Papier steht. Die Beteiligten sprechen einzelne Sätze der Erzählung, beugen sich quasi gemeinsam in fragender Haltung über etwas, das sie noch nicht begreifen. Erst nach und nach steigt mal einer, dann eine Andere in die Figuren ein, wobei sie immer noch tastend von sich in der dritten Person sprechen. Theater als Denkraum, in dem alle gemeinsam darüber nachdenken, wie es zu einer bestimmten Situation gekommen ist, sich moralische Fragen stellen. Nichts könnte hier besser passen. Die Brandenburger Bürger, hier auf der Bühne, trennen nur zwei bis drei Generationen von jenen, die '38 diesen jüdischen Jugendlichen das Leben zur Hölle gemacht haben. Und rund um uns werden heute junge Geflüchtete auf ähnliche Art drangsaliert.
Antifaschistische Gartenlaube
Es sieht zunächst so aus, als hätte Boris von Poser mit seiner hochintelligenten Spielfassung aus "Sommer in Brandenburg" eine ideale Vorlage für eine engagierte Bürgerbühne geschaffen. Am Anfang gelingt den Laien-Spielern dieses Herantasten ausgezeichnet. Leider geht der Text interessanten Situationen dann nicht nach. Als die jüdischen Jugendlichen helfen, einen Brand zu löschen, bedankt sich eine Frau aus dem Dorf im Namen aller und gibt ihnen einzeln die Hand. Der Ortsgruppenleiter versucht das zu unterbinden, die anderen sind gespalten. Allzugern hätte man diese Situation weiter verfolgt. Hätte gesehen, wie dieselbe Frau sich später auf dem Dorffest verhielte, wo die bösen Weiber Lizzy und Ron verjagen und ihnen das Tanzen verwehren.
Aber leider rutscht die Aufführung nach der ersten halben Stunde immer mehr ins 1:1 Spielen der Rollen hinein, und da lauert die Agonie der Liebesgeschichte ohne richtige Handlung. Da genügt ein gerührter Seufzer – "schließlich warn wa alle mal jung" – und dann das wohlige Gefühl: Ich kann mich so gut in junge Juden einfühlen, dann bin ich wohl ein guter Mensch, denn Opfer sind automatisch gut und also bin ich's auch.
Aus der Luft gesaugt
Die Nazis aus dem Dorf werden von der Bürgerbühne gespielt, der Kern der Gruppe der Juden von den Profischauspielern. Und die müssen Gefühl aus der Luft saugen, das in den Situationen nicht begründet ist. Am härtesten trifft das Florian Sumerauer, den Darsteller des Ron. Er muss drei Stunden lang zagen und barmen, ohne Handlung, ohne vernünftige Dialoge, und berauscht sich dabei mehr und mehr an seinem Leiden. Die frische süße Barbara Stephenson als Lizzy muss in einem fort spielen, wie frisch und süß sie ist. Am besten zieht sich noch Aaron Altaras aus der Affäre, der als arroganter und unsicherer Junge ein paar Ecken und Kanten haben darf und das auch nutzt.
Dabei gäbe es sehr wohl ein interessantes Thema, denn die meisten Jugendlichen kommen aus säkularen Familien, haben mit Religion nie etwas zu tun gehabt. Im Landwerk wird ihnen jetzt nicht nur Landwirtschaft und Hebräisch beigebracht, sondern auch Religion und jüdische Tradition. Im Stück geht das recht nahtlos, in einer Szene sind sie noch irritiert, in der nächsten singen sie schon inbrünstig jiddische Lieder, als wären sie im Schtetl geboren.
Die Rührung, mit der ein deutsches Publikum immer und überall und auch hier auf diese – von Stella Adorf sehr schön gesungenen – Lieder reagiert, ist der Autorin dieser Zeilen zutiefst suspekt. Und ebenso die standing ovations, die am Ende ausbrechen. Eindeutig gelten sie nicht der Aufführung, sondern der Haltung, sie sind ein Statement dafür, dass alle Anwesenden es schlimm finden, dass junge Juden vertrieben und ermordet wurden. Sie stehen solidarisch dagegen auf – dass sie das nötig finden, ist unheimlich und wiederum auch rührend, auf ähnliche Art wie die jiddischen Lieder.
Sommer in Brandenburg
Boris von Poser nach dem Roman von Urs Faes
Regie: Boris von Poser, Bühnenbild: Stefan Bleidorn, Kostüme: Rebecca Löffler, Musikalische Leitung: Wolfgang Böhmer, Videoprojektionen: André Krummel, Licht-/Tontechnik: Paul Klinder.
Mit: Stella Maria Adorf, Barbara Stephenson, Aaron Altaras, Jaron Löwenberg, Florian Sumerauer
und der Bürgerbühne mit: Johanna Ballhorn, Antonia Fischer, Sieglinde Haas, Leona Henß, Pia Hintz, Eva Rettig, Luka Alexa Rettig, Marina Rogazewski, Marcella Sandbergen, Barbara Schaffernicht, Verena Schmager, Nicola Spehar, Petra Zelfel, Daria Wienen, Mathias Hohmann, Levin Hofmann, Karl-Heinz Konrad, Jan Schulz, Jörg Schulz.
Dauer: 3 Stunden und 15 Minuten, eine Pause
www.theater.land
"Goldrichtig" sei Boris von Posers Entscheidung, den Roman über weite Strecken als szenisches Oratorium aufzuführen, schreibt Rüdiger Braun in der Märkischen Allgemeinen (3.9.2018). "Faes' Sprache kommt so zu ihrem Recht." 'Sommer in Brandenburg' sei ein schöner, ein großer Theaterabend. "Das Stück stellt sich nicht nur Antisemitismus entgegen, es zeigt auch was Flucht und Vertreibung bedeuten."
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ich bin froh, dass Ihr Kommentar mir Gelegenheit zum Versuch gibt, mich besser zu erklären. Sie haben Recht, dass es anmaßend von mir ist, die Begeisterung und Rührung des Publikums, die ja wohl auch die Ihre war, zu kritisieren. Ich bin der Art Rührung, die ich hier, vielleicht zu Unrecht, zu spüren geglaubt habe, schon oft begegnet und ich fühle mich da, aus persönlichen Gründen, unwohl. Ob es mir aber zusteht, sowas in einer Kritik zu äußern? Ich weiß es nicht, verstehe auf jeden Fall, dass es Sie ärgert und bitte um Entschuldigung.
Was meine Kritik an der Aufführung betrifft: die war keineswegs vernichtend gemeint. Es gab ursprünglich noch einen letzten Absatz, der aus Platzgründen weggefallen ist. Vielleicht macht er deutlicher, wie gut mir der Ansatz der Aufführung gefällt, und dass sich meine Vorbehalte nicht gegen Regie oder Schauspieler sondern gegen die Grundhaltung des Romans von Urs Faes richten, die auf eben jene Rührung abzielt. Dieser letzte Absatz ging so:
„Dass die Aufführung am Ende in Sentimentalität abgleitet, schmerzt gerade deshalb, weil sie so mutig angetreten ist, genau das zu vermeiden. Die sachliche Erzählhaltung, mit der Boris von Poser und sein Ensemble sich der Geschichte nähern, kommt zunächst ganz ohne vorauseilende Rührung aus, Einfühlung wird nur für Momente und nur versuchsweise zugelassen. Eine solche strenge Form traut man Laien meist nicht zu, die sollen oft nur fürs Authentische zuständig sein- Boris von Poser hat es ihnen aber zugetraut, und das lohnt sich. Die Erzählhaltung ist anfänglich eine ganz andere als die des Romans, sie wirft andere Fragen auf, interessante und für die Gegenwart relevante. Es könnte ein wunderbares Beispiel dafür sein, was Bürgerbühnen beim Versuch, gemeinsam die Geschichte der eigenen Region zu verstehen, leisten können. Schade, dass der tolle Ansatz nicht durchgehalten wurde - aber ein Bravo für den Versuch!“
Ich glaube nicht, dass das quälend Melodramatische, das die Liebesszenen gegen Ende haben, am, wie Sie schreiben, „nervösen Überengagement junger Debütanten“ liegt. Ich glaube, dass die Darsteller von Lizzy und Ron da vor einer menschen- und schauspielerunmöglichen Aufgabe stehen, aus diesen Texten könnten auch die abgeklärtesten, alten Profis nichts auch nur annähernd Wahrhaftiges herausholen. Urs Faes will einerseits eine Liebesgeschichte erzählen, andererseits verweigert er seinen beiden Protagonisten jede persönliche Eigenschaft- es scheint als sei ihnen alles Menschliche fremd, in ihren Gedanken ist nichts als Leiden, Wehmut und Poesie. Vielleicht schiene ihm alles Andere zu profan vor dem Hintergrund des drohenden Holocaust. Was aber dabei heraus kommt sind Pappkameraden, mit denen man nicht mitfühlen kann, über deren Schicksal man höchstens ganz allgemein seufzt. Oder schlimmer noch: denkt, das sei vielleicht etwas spezifisch Jüdisches, dieses ewige Nicht-handeln-Können. Dieses wehmütig sentimentale Geleide. Jedenfalls sind diese eindimensionalen Figuren auf identifikatorischem Weg gänzlich unspielbar, das wollte ich ausdrücken, und das ist auf keinen Fall die Schuld der jungen Darsteller, die am Anfang, als sie noch aus den Rollen heraus und wieder in sie hineintreten dürfen, zeigen, wieviel sie können.
Ich wollte der Produktion nicht Unrecht tun, sondern eher rufen: Leute! Berurteilt die Sache bitte nicht nach ihrem sentimentalen Wohlfühl-Ende. Hier versucht Theater etwas, was wir wirklich nötig haben: Bürger, die sich gemeinsam mit Profis mit der Geschichte ihrer Region auseinandersetzen und dabei moralische Fragen aufwerfen: wer hätte damals vielleicht anders handeln können? Wie? Und was bedeutet das für unser Handeln heute? Und von dieser Art Versuchen wünscht man sich viel mehr - wenn es hier noch nicht über die ganze Strecke klappt, so ist doch ein hochinteressanter Anfang gemacht.
Mit herzlichem Gruß, Gabi Hift
In Zeiten der Hetze, Menschenverachtung und Abstumpfung lohnt es sich in der Tat, über das Thema "Rührung" (oder Berührung) neu nachzudenken. Möglich, dass Szenen dieser Inszenierung hier und da ins Sentimentale abrutschen können. Das es mit Absicht so erarbeitet wurde, möchte ich bezweifeln. Es wird immer die Frage bleiben, wie umgehen mit der schrecklichen deutschen Vergangenheit. Zu einfach sollte und kann man es sich nicht machen - schon gar nicht in der Kunst.
Ich habe in den letzten Tagen viel über diese Inszenierung nachgedacht, habe das Buch gelesen, habe ein wenig recherchiert. Dann stoße ich auf diese Kritik hier und bin irritiert ob der merkwürdig kritischen Perspektive auf dieses Theaterstück. Mögen die Zuschauer der beiden angeblich letzten Vorstellungen an diesem Wochenende (7. und 8.9.) sich ebenso berühren lassen, wie ich und das gesamte Publikum am letzten Sonntag. Tolles Theater in Brandenburg!