Nacht / Noc - Uckermärkische Bühnen Schwedt
Ungleichheit Europa
20. Februar 2022. Jan Jochymski inszeniert in Schwedt mit Andrzej Stasiuks "Nacht" einen Abend über deutsch-polnische Vorurteile und die Leichen im Keller des europäischen Projekts.
Von Victor Osterloh
20. Februar 2022. Es drängt sich der Gedanke auf, Andrzej Stasiuks "Nacht" sei für diesen Ort geschrieben: Das Theater Schwedt, nur einen metaphorischen Steinwurf von der polnischen Grenze entfernt. Hier mischen sich beim Einlass deutsche und polnische Gespräche, das Leben beidseits der Grenze ist eng verflochten. Gleichzeitig lassen die Medien in Brandenburg noch immer keine Woche verstreichen, ohne besorgte Eigentümer von Haus und Kfz nach ihren Sorgen "so nah an der Grenze" zu befragen oder Schleierfahnder der Bundespolizei auf ihren Streifzügen zu begleiten.
Das polnische Herz
In "Nacht" erschießt also einer dieser Eigentümer, ein Juwelier und Biedermeier mit Gewehr (Udo Schneider), einen jungen polnischen Dieb (Fabian Ranglack), der mit einigen Freunden grade seinen Laden ausräumt. Leider bekommt der Juwelier dabei einen Herzinfarkt und braucht ein Spenderherz. Der Spender findet sich schnell – im kurz zuvor niedergeschossenen Polen. Beide, der Deutsche im Zwist mit den Ärzten, der Pole im Zwiegespräch mit seiner Seele (Adele Schlichter), stoßen einen Kampf um die Deutungshoheit über Ungleichheit und Reichtum in Europa an.
Sophie Lenglachners Ausstattung versetzt die Handlung in ein Nirvana zwischen Schaufensterpuppenfriedhof und Arztzimmer des Grauens: Weiß bekittelte Ärzte im Steampunk-Look mit Gasmasken und Blutkonserven werden zum personifizierten Ausdruck des völkischen Horrors, der den Juwelier bei der Aussicht auf ein "slawisches Herz" erfüllt. In den poetisch kommentierenden Einschüben über das menschliche Ersatzteillager Osteuropa, das für Reichtum und Unsterblichkeit im Westen herhalten muss, treten die Spieler in Roben als Europa-Orakel auf.
Preis oder Prinzip?
Natürlich ist in Schwedt, das seit der Wende jeden zweiten Einwohner verloren hat, von der "Unsterblichkeit", die sich der Westen auf Kosten der slawischen Körperersatzbänke erkauft, nicht viel zu spüren. Aber gerade diese Überzeichnung macht den Reiz des Stoffes aus. Der schießwütige Kleinbürger spiegelt in seinen Schimpftiraden deutsche Machtprojektionen nach Süd- und Osteuropa. Die eklatanten Widersprüche spielen sich jenseits von Mittelklassewagen und Provinzjuwelieren ab, wie letzterer selbst zur Auskunft bringt, wenn er versichert, er habe nicht speziell auf den Dieb gezielt, sondern "allgemein geschossen, auf alles, was die Ordnung antastet". Hier treffen zwei Prinzipien, zwei ungleiche Sparringpartner aufeinander.
Andrzej Stasiuks Text, gut gealtert aus dem Jahre 2005, bringt damit eine Frage auf deutsche Bühnen, die (hierzulande eher unbemerkt) im Osten, Westen und Süden Europas viel gestellt wird: Ist die Ungleichheit in der EU ihr Preis oder ihr Prinzip? Jan Jochymskis Inszenierung verpasst ein wenig den Absprung von der Parabel auf die Nachwendevorurteile hin zu den größeren Fragen des europäischen Projekts. Sie klingen zwar im Text an, lösen sich aber auf der Bühne kaum ein.
"Nacht" ist eine "slawo-germanische Farce", ein allegorisches Spiel über den "freien Personen- und Warenverkehr", das in Schwedt aber immer wieder arg psychologisch gerät. Es fehlt die ironische Distanz, wenn Seele und Dieb sich in echten moralischen Händeln verlieren. Im schlaglichtartigen Aufbau der vom Chor und musikalisch unterlegten Übergängen strukturierten Szenen kommt das Spiel zu kurz. Ganz unschuldig ist dabei aber auch der Text von Andrzej Stasiuks nicht, dessen chorische Einschübe in ihrem Poesiepathos über den Handel von östlichem Blut und Organ gegen deutsche Autos und Juwelen dem Vorhaben der Farce mehr Hemmschuh als Hilfe sind.
Groteskes Potenzial
Wie in Bulgakows "Hündisches Herz" erwacht nach der Transplantation auch im Juwelier der Widerständler. Die Ärzte (Ines Venus Heinrich und Bernhard Schnepf) versuchen den Deutschen mit polnischem Herzen, der am liebsten den Knast oder den ganzen deutschen Staat abfackeln würde, einzufangen und spekulieren zugleich über die mit der Zeit neutralisierende Wirkung von deutschem Blut auf polnische Herzen. Hier zeigt sich das groteske Potenzial eines Abends, der sich bis zum Schluss leider nicht die Zeit nimmt, seinen aberwitzigen, tragikomischen, verspielten Anlagen nachzuspüren: Der Dieb, glücklicherweise Katholik, bandelt mit seiner Seele an und gemeinsam vollziehen sie die Auferstehung des Fleisches. Der wieder auferstandene "Spender" trifft noch einmal seinen Mörder – denn der soll ihm gut auf sein Herz aufpassen.
Nacht / Noc
von Andrzej Stasiuk
Regie: Jan Jochymski, Bühnen- und Kostümbild: Sophie Lenglachner, Dramaturgie: Martin Ortega.
Mit: Fabian Ranglack, Udo Schneider, Adele Schlichter, Ines Venus Heinrich, Bernhard Schnepf.
Premiere am 18. Februar 2022
Dauer: 70 Minuten
www.theater-schwedt.de
Eine absurde Geschichte um klischeehafte Vorurteile – von Polen, die klauen, und Deutschen als Geldverdienern ohne Gefühl – erzählten Jan Jochymski und sein Team, schreibt Eva-Martina Weyer in der Märkischen Oderzeitung (21.2.2022). "Vorurteile nur so aufeinander prasseln" lasse der Chor, der die dramatische Handlung als "Stimme der Straße“ kommentiere. Den Schauspielern gelinge es in dem kaum 70-minütigen Assoziationen weckenden Bilderreigen, dem Publikum den Spiegel vorzuhalten. Die Debatte mit den Ärzten spielten Udo Schneider als Juwelier sowie Ines Venus Heinrich und Bernhard Schnepf "hervorragend". Und den Dialog zwischen dem Dieb und seiner Seele gestalteten Adele Schlichter und Fabian Ranglack "als Balanceakt zwischen Trauer und Lebenslust".
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