Eine Stille für Frau Schirakesch (UA) – Theresia Walsers Stück zum Osnabrücker Spielzeitauftakt von Annette Pullen uraufgeführt
Bikini, Burka, Busengewackel
von Elske Brault
Osnabrück, 2. September 2011. Noch 77 Minuten, dann wird Frau Schirakesch auf dem Marktplatz von Tschundakar gesteinigt. Bis zur Hüfte eingegraben und solange mit Steinen beworfen, bis nur noch Matsch übrig ist, präzisiert Moderatorin Hilda Ludowsky. Sie bereitet mit fünf Gästen eine Schweigeminute für Frau Schirakesch vor – und eine anschließende Gesprächssendung. Denn man müsse "ein Zeichen setzen", "nicht wegschauen". Hinschauen, sprich das Ereignis vor Ort miterleben oder die Fernsehübertragung sehen, darf man aber auch nicht.
Zu Beginn probt Frau Ludowsky mit ihren Gästen den Moment der Stille, und dabei versucht jeder, sich ins rechte Licht zu rücken: Die beiden Schönheitsköniginnen haben in Tschundakar eine Bikiniparade abgehalten, doch während die eine im Namen von Freiheit und Menschenrechten erneut das Kleid abwirft, meint die andere, es ginge hier doch nicht um sie. Kein Wunder, sie ist bei der Wahl zur Miss Bikini ausgeschieden.
Schlachtplatz Sofagarnitur
Auch Bundeswehrgeneral Gert hat auf seine Weise die Menschenrechte in Tschundakar verteidigt. Seine größte humanitäre Hilfsleistung im Krieg (Afghanistan wird nie genannt, ist aber präsent) bestand in der Einweihung zweier Klohäuschen: Vorher hätten die Frauen von Tschundakar vor den Markttagen nichts trinken dürfen, weil sie keinen Ort hatten, ihre Notdurft zu verrichten – "Männer dürfen öffentlich, Frauen nicht". Der Vater der Soldatin Rose will mit dem Trauma seiner Tochter zu Ruhm kommen – sie habe so viel zu erzählen. Doch Rose bleibt als einzige stumm. Abseits von den anderen hockt sie auf einer Kiste und starrt ins Leere, als notwendiges, weil "authentisches" Accessoire.
Zentraler Schlachtplatz des Wortgefechtes um den fernen Krieg ist eine Sofagarnitur, denn außer Rose und General Gert kennt jeder der Beteiligten diesen Krieg nur vom Fernsehsessel aus. Doch jeder hat eine Meinung dazu und will die unbedingt anbringen, sobald die Fernsehkameras eingeschaltet werden. Klug vermeidet Regisseurin Annette Pullen es, die grotesken Figuren ins Absurde zu überzeichnen.
Hinter den Sprachhülsen ist stets auch ein ehrliches Gefühl spürbar: Moderatorin Hilda Ludowsky ("Sagen sie jetzt nichts, sparen sie sich das für nachher auf") ist zwar zerfressen von Eitelkeit und Ehrgeiz, doch zugleich treibt ein journalistischer Qualitätsanspruch sie an. General Gert schwärmt von den Frauen von Tschundakar: Sie brächten sein Blut mit einem Blick durch den Schlitz der Burka mehr in Wallung als die Bikinischönheit mit Beinfreiheit und Busengewackel. So sehr Gert sich damit als schwanzgesteuerter Macho outet, in seinen Worten steckt ein Körnchen Wahrheit: Dem Enthüllungsdiktat der westlichen Welt ist die Erotik zum Opfer gefallen.
Krieg zwecks Identitätsfindung
So bringt Autorin Theresia Walser die Konflikte des Abendlandes mit dem Islam sehr komisch auf den Punkt. Ihre Figuren fassen ausufernde Feuilletondiskussionen in kurzen, schlagkräftigen Redewendungen zusammen: General Gert wolle die Menschenrechte nach Tschundakar "hineinbomben", empört sich Moderatorin Hilda, und da hat man die ganze Debatte um die Rechtmäßigkeit eines Krieges in zwei Worten. Für das Scheitern unzähliger Entwicklungshilfeprojekte stehen die Klohäuschen auf dem Marktplatz: Weil Wasseranschluss und Schlüssel fehlen, sind sie nie benutzt worden.
Die beiden Schönheitsköniginnen als Abklatsch des "Germanys next Topmodel"- Hype bilden den Gegenpart zur Soldatin Rose, von der ihr Vater behauptet, das Geschlecht spiele bei ihr keine Rolle: "Rose ist hier als Mensch". Doch in Wahrheit ist Rose natürlich in den Krieg gezogen, weil der ein anderes Rollenangebot zur weiblichen Identitätsfindung bereit hält, und ihr Geschlecht ("eine Frau unter tausend Männern") löst wilde Phantasien aus.
Anrührend und innig spielt Magdalena Helmig den größtenteils stummen Part der Kriegsheimkehrerin Rose: Ihr gelingt es, ganz bei sich und doch auf der Bühne enorm präsent zu sein. Und das angesichts eines Ensembles, das mit seinem schnellen, präzisen Schlagabtausch jeden Sprachwitz Theresia Walsers treffsicher in einen Publikumslacher verwandelt. Es ist für diese Koproduktion aus Schauspielern der Theater Osnabrück und Freiburg zusammengesetzt, sie bilden eine perfekte, gut eingespielte Einheit.
"Es geht nicht um Krieg oder Nichtkrieg. Eigentlich geht es nur um Selbstrechtfertigung", sagt Theresia Walser im Programmheft-Interview. In ihrer wunderbar leichten, bissigen, bitterbösen Komödie enttarnt sie die Wortwaffen in der Kriegsdebatte der vergangenen Jahre, macht die Taktik der Teilnehmer nachvollziehbar – und zwingt den Zuschauer, die eigene Position zu hinterfragen.
Eine Stille für Frau Schirakesch (UA)
von Theresia Walser
Regie: Annette Pullen, Ausstattung: Iris Kraft, Dramaturgie: Ruth Feindel.
Mit Franziska Arndt, Magdalena Helmig, Mathias Lodd, Jennifer Lorenz, Martin Schwartengräber, Claudia Wiedemer.
www.theater-osnabrueck.de
Alles über die Regisseurin und Osnabrücker Oberspielleiterin Anette Pullen auf nachtkritik.de im Lexikon.
Als Stück der Woche annonciert die Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.9.2011) "Eine Stille für Frau Schirakesch", das Andreas Rossmann als ebenso böse wie flotte Sprachgroteske beschreibt. Die Uraufführung in Osnabrück plaziere in der Ausstattung von Iris Kraft eine Talk-Moderatorin in einem Kugelsessel und ihre Gäste auf einer Couch. Doch die Inszenierung von Annette Pullen "hält die Figuren nicht lange auf ihren Plätzen. Das dichte Dialoggeschnatter lässt wenig Spiel-Raum, den aber nutzt die temporeiche Aufführung, in der das gut aufgelegte Ensemble pointenscharf die Kurve kriegt: vor der flachen Karikatur wie vor falscher Bedeutungsschwere. Schließlich sind dafür, die ganze Woche über, andere zuständig."
Theresia Walser könne "vorzüglich beobachten, wie in unseren Fernseh-Talkshows brisante Themen wie der Afghanistan-Krieg in hilflosen bis monströsen Verrenkungen verfehlt werden", schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (6.9.2011). "Mit staunenswerter Recherchierlust und Präzision haben Pullen und ihr Schauspielteam Walsers ohnehin schon selten groteske Sprachblütenfunde ins Mimische und Gestische übersetzt." In Präzision und Wirklichkeitsnähe stünden sich Walser und Pullen nicht nach. "Hohes Spieltempo und Körpersprache verdichten allerdings wohltuend ein Stück unerfreulicher Realität."
Jürgen Berger hat für die Süddeutsche Zeitung (8.9.2011) eine "schön unaufgeregt" inszenierte Walser-Uraufführung gesehen. Die hierin dargestellte "Show vor der Show" warte mit "aus Halbwissen geborenen Betroffengeitsgerede, das in sarkastisch-komische Dialoge mündet und aus der westlichen Werte- eine groteske Wartegemeinschaft verunsicherter Selbstdarsteller macht", auf. Die Figuren seien "mit Anflügen einer Distanz zum eigenen Tun" ausgestattet. "Dass die Schauspielerinnen Jennifer Lorenz und Claudia Wiedemer aus Heidrun und Ruth gezierte Plappermäulchen machen, kann man durchaus als störend empfinden. Auf der anderen Seite inszeniert Annette Pullen mit derart feinem Gespür für das Timing, welches Walser-Dialoge nun mal erfordern, dass man sich lieber auf die Stärken der Inszenierung und eine Schauspielerin wie Franziska Arndt konzentriert. Sie ist als Moderatorin eines jener Wesen, die immer nahe am Abgrund der Lächerlichkeit wandeln."
Unzufrieden zeigt sich dagegen Michael Laages im Rahmen des Spieltriebe-Gesamtberichts in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (5.9.2011) mit der Uraufführung des neuen Stückes von Theresia Walser: "Wer aber will denn um Himmels willen im Theater immer mehr Fernseh-Debatten vorerzählt bekommen: die Bikini-Damen vor allem, die im irgendwie afghanischen Tschundakar absurderweise bei einem Schönheitswettbewerb auftraten; der General mit den großen Worten; die vom Tod zweier Kameraden schwer traumatisierte Soldatin – von einem ihrer zerfetzten Freunde trägt sie (als letzte Erinnerung) stets ein Ohr bei sich. Der Vater ist deutscher Stammtisch pur – und das hohle Palaver all dieser Talkshow-Teilnehmer will Walser an die mörderische Wirklichkeit einer Steinigung binden ... das kann nicht gut gehen, und es geht auch nicht gut."
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