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Sachen, die wir belachen, weil wir sie nicht sehn

von Georg Kasch

Schwerin, 20. Oktober 2011. Wie ist die Welt so stille? Eben noch war es ziemlich laut im Schweriner E-Werk, hatten die Pointen gezündet und das Publikum getobt, jetzt zieht Klaus Bieligk den Vorhang aus Maler-Abdeckfolie wieder vor die Bühne, während die anderen als zweite Zugabe "Seht ihr den Mond dort stehen" singen, "er ist nur halb zu sehen". John R. Carlson tröpfelt bittersüß die Klavierbegleitung des Matthias-Claudius-Liedes hin, jeder Schauspieler übernimmt einen Vers mit verhaltener Innigkeit, brüchig, wahr. Nur vage schimmern sie noch durch die Folie: "So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn."

In den eineinhalb Stunden zuvor (also im handlichen Fernsehspiel-Format) ging es genau darum, was unsere Augen täglich sehn: "Deutschland sucht das Suppenhuhn oder Ich bin kein Star, lasst mich hier drin" dreht den TV-Wahnsinn durch den musikalischen Fleischwolf. "Ein Schauspiel" nennt sich vollmundig, was genauso gut "ein Liederabend" heißen könnte. Kaum ein Wort fällt, stattdessen reihen sich die Hits zwischen Queens "Bohemian Rhapsody" und Aretha Franklins "Think" mit neuem Text (von "Mama, der Kühlschrank brennt“ bis "Trink").

Fernsehen aufs Maul geschaut

In der Nebenspielstätte des Staatstheaters Schwerin wirkt das, als träfe Christoph Marthaler auf Little Britain und paare sich rheinischer Karneval mit Monty Python: Zwischen Tief- und Nichtsinn reihen sich die Nummern der Freak-Truppe, die sich, säuberlich durchnummeriert, dazu eingefunden hat, ins Fernsehen zu kommen. Dabei sind sie längst TV-Kultur (der in den 90ern fernsehsozialisierte und seitdem meist abstinente Verfasser dieser Zeilen kann nur Peggy Bundy und Opa Hoppenstedt benennen).

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Alles live in "Deutschland sucht das Suppenhuhn" © Silke Winkler

Niemand ist, was er scheint, sondern trägt Perücke, Make up oder gleich ein anderes Geschlecht, bis am Ende die Masken fallen, wenn sich die Aufmerksamkeitssucht als Schrei nach Liebe entpuppt. Einmal sagen sie die absurdesten Nachmittags-Talkshow-Phrasen auf ("Halt doch einfach mal die Klappe zu", "Guck dich nicht an, wenn ich mit dir spreche"), ausgestellt zunächst, bis Regisseur Bieligk mehr Action fordert. Am Ende sind die sechs nur noch ein Prügelknäuel. Live-TV? Alles nur Theater...

Spontane Massenumarmungen (wie in diesen "Superstar"-Talentwettbewerben) münden im Ratequiz als Mischung aus Scharade und "Wer wird Millionär?", eine Stöhn-Rap-Fuge wirbt für Sex, einmal variiert Bernhard Meindl sämtliche Talkshow-Überschriften mit dem Begriffen Vaterschaftstest, Sex, schwul und fett – schlimmer geht’s immer.

Ein fantastisches Ensemble und seine Fetische

Diese (durchaus naheliegenden) Parodien entwickeln deshalb eine oft schwebende Leichtigkeit, weil Schauspieldirektor Peter Dehler den Abend mit skurrilen Running Gags und Charakteren würzt. Da ist der hagere Pianist (Schwerins musikalischer Alleskönner Carlson), oben Zauberer, unten Ballerina, der zu Beginn ein erstes kopfloses Gummihuhn im Flügel findet, um es herumtanzt wie um einen Fetisch und dabei spinnert träumerisch singt: "So-So-Suppenhuhn, Germany is looking für das Suppenhuhn, and I am dabei". An den (un)möglichsten Orten finden sich die kopflosen Gummitiere. Ihre Häupter zieren die Notenständer, und immer, wenn Bieligk ein weiteres in den Suppentopf wirft, kreischt Carlson auf, als ginge es um sein Leben.

Außerdem besitzt Schwerin ein fantastisches Ensemble, das hier auch ohne Herbert Fritsch aufspielt, als sei es frisch gedopt. Dirk Audehms mürrische Riesentranse überlebt nur dank regelmäßiger Sahneshots aus der Sprühdose, Karin Hellers kleiner dicker Mann verbeißt sich regelmäßig in seinem Busen, Christoph Bornmüllers rostroter Nerd versucht sich so talentfrei wie verzweifelt an Zaubertricks, Özgür Platte macht auf dicke Rap-Hose, ist aber eigentlich ein ganz Lieber, Bernhard Meindl kriegt als Opa den rechten Arm nicht unter Kontrolle und Brit Claudia Dehler piepst ein Manga-Girl auf Shakrensuche hin.

Die Sensationsgier der Tagesschau

Natürlich lässt sich fragen: Ist das Lachen des Kulturbürgers über die Dummheit des dauerglotzenden Pöbels nicht arg wohlfeil? Aber das "Suppenhuhn" ist kein Liederabend der Marke Wittenbrink. Manchmal tut er weh: Einmal dirigiert Carlson die Tagesschau als Sprechchor, der sich ulkig durch die ärgsten Fukushima-Nachrichten blödelt.

Man tappt in die Falle, lacht übers Unsägliche, hält inne, während der Text zur Werbung zappt und  zurück und stellt sich die Frage, ob das Fernsehen mit seiner Zerstreuung, seiner Bilderflut und Plapperwut überhaupt das richtige Medium für Nachrichten ist, und seien sie so seriös wie die der Tagesschau. Oder ob nicht vielleicht die Tagesschau auch nur unsere Sensationsgier befriedigt, eine Angstlustshow für Bildungsbürger. Ja, man lacht viel und gut an diesem Abend. Aber man lacht nicht nur über die anderen.


Deutschland sucht das Suppenhuhn (UA)
Regie: Peter Dehler, Bühne und Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Musik: John R. Carlson.
Mit: Brit Claudia Dehler, Katrin Heller, Dirk Audehm, Klaus Bieligk, Christoph Bornmüller, Bernhard Meindl, Özgür Platte.

www.theater-schwerin.de

 

Mehr zum Schwerpunkt Nord auf nachtkritik.de: Georg Kasch gab zum Auftakt einen Überblick über die Lage in den Küstentheatern. Und zuletzt sahen wir Bernarda Albas Haus inszeniert von Dedi Baron am Theater Kiel.

 

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Kritikenrundschau

Philip Schroeder schreibt für die Schweriner Volkszeitung (22.10.2011). Der Abend sei ein "typisches Peter-Dehler-Singspiel geworden, das Hoch- und Tiefsinn des Fernsehens durch den musikalischen Fleischwolf dreht und zur grellen Collage klebt". Ausgiebig würdigt der Kritiker die schauspielerische Energie, durch die "eine skurrile Nummer der nächsten" folge. Allerdings entfalte der Abend auch kritisch die Erkenntnis, wie "auch der selbstgewisse Bildungsbürger längst infiziert" sei "mit der kulturellen Fäulnis des Null-Mediums Fernsehen". Mit Matthias Claudius' Versen "Der Mond ist aufgegangen" zum Schluss münde der Abend in ein memento mori. Dehlers Singspiele seien "eine Art Markenprodukt des Schweriner Theaters", und so funktioniere auch dieses: "Man kann sich prächtig amüsieren" und erhalte zugleich etwas "zum Nachdenken auf dem Nachhauseweg", dieses Mal die "Erkenntnis, dass es möglich ist, in einer wilden Trash-Revue eine bedeutende Frage der Zeit zu verhandeln."

Als (beabsichtigt) "trashig" empfindet Thorsten Czarkowski in der Ostseezeitung (22.10.2011) diesen Abend, der durchaus auch mal auf "billige Lacher" abziele und mit "Let it be" von den Beatles etwas "rührselig" werde und mit "Der Mond ist aufgegangen" am Schluss ein "Gegenstück zu all dem Gesehenen", quasi als "Trostpflaster", biete. Die Inszenierung sei als "TV-Puzzle" nach "dem Zapping-Prinzip" angelegt: "All der Wahnsinn aus dem Fernsehen kommt in einer höheren Verarbeitungsstufe zum Zuschauer." Als anspielungsreich empfindet der Rezensent den Abend, lobt die breite Musikauswahl, die reduzierte Bühne und das angemessen "Quietschbunte" im Kostümbild und würdigt "eine gute Ensemble-Leistung aller sieben Darsteller".

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