Richtig schlimme Dinge ertragen

23. Mai 2023. Die junge Larry ist 15 und trägt eine Trauer in sich: um einen Bruder, der als Kleinkind vor ihrer Geburt starb. In Demmin auf dem Friedhof ist aber nicht nur sein Grab, sondern auch ein Massengrab mit etwa 1000 Toten aus der Stadt, die sich Anfang Mai 1945 das Leben nahmen.

Von Frank Schlößer

"Die Gespenster von Demmin" am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin © Hanni Wurm

23. Mai 2023. Solche Klassenzimmerstücke werden immer unterschätzt. Der Rahmen wird von den Bedingungen gesetzt: Sparsame Requisiten, nie länger als zwei Unterrichtseinheiten und besetzt mit jungen und flexiblen Schauspieler oder Schauspielerinnen – am besten als Einpersonenstück. Dazu Geschichten und Charaktere, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen identifizieren können.

Mit dem Kopf nach unten

So ist es auch diesmal: Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin hat das Publikum hinteren Vorhang auf die Bühne gesetzt – eben in ein Klassenzimmer. Ein Tisch, eine Leinwand, eine junge Schauspielerin. Laura Fouquet hat 2022 ihr Diplom an der HMT Rostock gemacht, jetzt hat sie Gelegenheit, sich mal so richtig übel viel Text reinzuprügeln, denn ihre Figur Larry ("Larissa" geht einfach nicht) hat viel zu erzählen. Larry ist 15 und trainiert gerade, so richtig schlimme Dinge ertragen zu können, denn sie will Kriegsreporterin werden und dafür ist es gut, so richtig lange mit dem Kopf nach unten hängen zu können, weil sie später im Job gelegentlich auch so richtig schlimm gefoltert werden könnte. Man sollte auch mit Kälte zurechtkommen und Erfahrungen in Waterboarding mitbringen.

Mit ihrer überschwänglich verliebten Mutter hat sie mehr Probleme. Mit ihrer Freundin Sarina kommt sie einigermaßen zurecht. Nur wenn Timo plötzlich im Netto steht, wo er nach seinem irgendwie nicht so durchgeplanten Abgang aus der 9. Klasse die Regale einräumt – ja, dafür hat sie noch keine Strategie entwickelt. Larry trägt eine Trauer in sich: Dort auf dem Friedhof, wo sie jede Woche ein bisschen mithilft und saubermacht, dort liegt auch ihr Bruder. Er wurde nur drei Jahre alt. Lenni starb 36 Tage vor ihrer Geburt. Ihre Mutter hat bis jetzt nicht darüber geredet.

Die Angst, die Vergewaltigugen, die Scham

Dieser Friedhof liegt in Demmin und dort gibt es auch ein Massengrab. Das ist für Larry dann doch eine Herausforderung, denn einerseits will sie sich nicht vorstellen, wie unordentlich dort unten die Toten durcheinanderliegen. Andererseits weiß sie, dass auch die Mutter und die kleine Schwester von Lore Dohlberg dort liegen. Das ist die Nachbarin, die bald ins Altersheim gehen soll – und die Urgroßtante von Timo ist. Auch sie hat nie darüber gesprochen, was damals passiert ist. In Demmin. In den ersten Tagen des Mai 45.

Gespenster von Demmin 4 HanniWurm uMit der Trauer leben: Laura Fouquet © Hanni Wurm

Die Angst. Die Vergewaltigungen. Die Scham. Der nationalsozialistische Ehrbegriff in einer Stadt, die schon sehr früh sehr braun wählte. Das Wissen darum, dass 1945 in dieser Stadt der größte Massensuizid begangen wurde, der jemals in Deutschland stattgefunden hat. Eine Zahl von um die 1000 Toten taucht immer wieder auf. In einer Stadt mit 15 000 Einwohnern.

Die Tochter des damaligen Friedhofsverwalters hat damals versucht, Buch zu führen. Dort stehen 600 Tote drin, viele von ihnen sind namenlos geblieben. Ertrunken. Erschossen. Erhängt. Vergiftet – das Zyankali wurde seinerzeit freundlich weitergereicht – mit den besten Wünschen für einen schnellen Tod. Der Historiker Florian Huber hat 2015 mit seinem Buch "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" über die Selbstmordwelle in Deutschland am Ende des Krieges berichtet, Demmin war ihr Höhepunkt.

Gedenkmarsch der NPD

In der DDR wurde nicht darüber gesprochen. Die Planwirtschaft konnte der Stadt zwischen Berlin und der Ostseeküste eine Funktion in der Landwirtschaft zuweisen, so dass alle genug zu arbeiten hatten. Aber in der Marktwirtschaft fließen die Geldströme in die Ballungszentren, vorbei an den kleinen Städten in Mecklenburg und Vorpommern. Natürlich hat Demmin heute ein schmuckes historisches Zentrum. Und seit der Wende 6000 Einwohner weniger. Die Alten sind geblieben. Die NPD veranstaltet seit 2007 jährlich am 8. Mai einen "Gedenkmarsch", die Gegendemonstration ist regelmäßig um ein Vielfaches größer.

Diese Geschichte wird in Alice Buddebergs Inszenierung auf einer zweiten Ebene rübergebracht: Videoeinspieler aus dem heutigen Demmin sind unterlegt mit dem, was die Nachbarin, Frau Dohlberg, bis heute nicht erzählt hat. Ein Zeitzeugenbericht, den die Schriftstellerin Verena Keßler aus mehreren Originalen zusammengesetzt hat. Sie hat durch die Verwandtschaft ihres Mannes von dieser Geschichte erfahren, "beim Kaffeetrinken" erzählt sie nach der Premiere der Radioreporterin ins Mikrofon. Ihr Buch "Die Gespenster von Demmin" erschien 2020 und enthielt schon diesen starken Monolog einer Jugendlichen, die natürlich weg muss aus dieser Stadt.

Gut gemacht!

Jetzt, im Theaterstück spazieren alle sicher auf dem Grat: Einerseits ein Text für Jugendliche, die – wie alle Jugendlichen – genug mit sich zu tun haben. Andererseits eine behutsame Konfrontation mit einem unvorstellbaren Geschehen. Natürlich ist so ein Klassenzimmerstück mit Pädagogik aufgeladen. Aber das kann Theater eben auch: Bildung vermitteln. Angebote machen. Probleme spiegeln. Das ist gut, vor allem dann, wenn es, wie hier, gut gemacht ist.

"Die Gespenster von Demmin" bleibt ein heiteres Teenie-Stück, eine nachdenkliche Coming-of-Age-Geschichte. Der Text trägt locker anderthalb Stunden durch und Laura Fouquet spielt pointiert, körperlich und frisch, die fünfzehnjährige Jugendliche aus Demmin mit all ihrem Frust, Augenverdrehen und der gut versteckten Sehnsucht – das alles kommt ehrlich und gerade rüber. Ja, man könnte sogar zwei Worte benutzen, die Larry natürlich niemals in den Mund nehmen würde.

Authentisch. Nachhaltig.

 

Die Gespenster von Demmin
von Verena Keßler
Regie: Alice Buddeberg, Dramaturgie: Jennifer Bischoff, Video: Vincent Heppner
Mit: Laura Fouquet
Premiere am 22. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

mecklenburgisches-staatstheater.de

Kritikenrundschau

Ein "opulenter Monolog" im "Werkstattstil", "in dem viele Diaologe stecken", sei diese Adaption des Romans von Verena Keßler, findet Manfreld Zelt in der Schweriner Volkszeitung (24.5.2023). Dank Laura Fouquet, die "von einer Person in die andere und zurück zu sich selbst" springe, gelinge "ein berührendes Porträt", das vom Publikum mit "starkem Beifall" quittiert worden sei.

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