Auf dem Rücken der Frau

von Wolfgang Behrens 

Schwerin, 30. Mai 2008. Der zentrale Satz der Aufführung steht nicht bei Ibsen. "Männer sind so komisch – wie die Kinder", sagt Gina Ekdal kopfschüttelnd im dritten Akt der neuen Schweriner "Wildenten"-Inszenierung und verschwindet durch die Bodenluke. Und wirklich: In diesem nur mit hohen Malerleitern möblierten Dachbodenatelier, in dem lange, schmutzigblaue Stoffbahnen so etwas wie Himmel simulieren (Bühne Stephan Fernau), haust ein großes Kind: Hjalmar Ekdal, Ginas Mann.

Es ist schon eine seltsame Musterfamilie, die der Schweriner Schauspieldirektor Peter Dehler auf diesen Dachboden verbannt hat: Da ist die unendlich langmütige Mutter Gina, hinter deren gütigem Lächeln Katrin Huke das Wissen um den Lauf der Welt verbirgt. Da ist die kreuznaive Tochter Hedvig in kariertem Schulmädchenkleid und knallroten Strümpfen: Anna Schumacher lässt sie ihre Arme so eng an den Körper anlegen, als wolle sie unter allen Umständen verhindern, über Gebühr Raum einzunehmen.

Vater als Junge, Mutter ist Langmut

Und dann ist da eben Hjalmar, der bei David Emig eher wie ein Bruder als wie der Vater Hedvigs wirkt: ein infantiler Kretin, dessen Haare in fettigen Strähnen am Kopf kleben und der wahlweise quengelt, albert, den Großsprecher gibt, seine Tochter piesackt, seinen Trotzanfällen erliegt oder einfach nur um ein paar Streicheleinheiten winselt.
Emig zieht alle Register, um dieses Porträt des Mannes als unreifen Jungen zu zeichnen: Er grimassiert und hüpft, er tobt und greint – und er pendelt unablässig zwischen Charakter und Karikatur. So schräg diese Familie auch rüberkommt: Sie konnte es sich einrichten in der Welt, nicht zuletzt weil die ruhige, lebenspraktische Art der Mutter den Laden schon irgendwie zusammenhält.

Noch ein großes Kind aber kann diese Dachbodengemeinschaft nicht vertragen – unglücklicherweise lässt es aber in der Gestalt von Gregers Werle nicht lange auf sich warten. Hagen Ritschel – Mittelscheitel, Pullunder, runde Brille, eckige Bewegungen – spielt ihn als unangenehmen Strebertyp, der sich in pubertären Anwandlungen vor seinem autoritären Vater (Gottfried Richter) beweisen muss. Gregers überzieht die Ekdals mit Aufklärung: Gina hatte ein Verhältnis mit Gregers' Vater, und Hedvig ist möglicherweise ein uneheliches Kind.

Wendung zum Despoten

Peter Dehlers Inszenierung droht vor der Pause daran zu scheitern, dass Enthüllungen dieser Art an einem nahezu idiotischen Kindskopf wie Hjalmar abprallen müssten. Doch nach der Pause – und das erweist sich als der entscheidende Dreh der Aufführung – ist Hjalmar plötzlich erwachsen geworden. Die Unarten des großen Jungen finden sich auf eine neue Stufe gehoben: aus dem vormaligen Quengler wird nun ein Despot. Die neu erworbenen moralischen Prinzipien als Waffe schwingend, entdeckt Hjalmar die Möglichkeiten der Macht über seine Familie.

Katrin Hukes Gina ist von dieser Wendung der Dinge nicht allzu überrascht: Noch immer durchschaut sie das Kind im Mann. Mit verschränkten Armen und vielsagenden Seitenblicken erträgt sie still die Anwürfe Hjalmars, nur manchmal bricht in kurzen Attacken der Zorn aus ihr heraus. Sie kann darauf vertrauen, dass ihr Mann über kurz oder lang wieder zum hilflosen Muttersöhnchen regrediert – und so kommt es schließlich auch.

Ginas Weg bis zum Vergessen

Unauffällig gerät Gina auf diese Weise in den Mittelpunkt von Peter Dehlers "Wildenten"-Sicht. Auf ihrem Rücken wird letztlich alles ausgetragen – die unbeirrte Kraft, die ihr Katrin Huke verleiht, vermag aber einfach alles zu schultern. Mag die Männerwelt um sie herum sich auch noch so kindisch, noch so debil, noch so anmaßend gerieren: Diese Gina geht ihren Weg. Dann aber erschießt sich Tochter Hedvig, die sich von Hjalmar verstoßen fühlte. Und das ist auch für Gina zuviel. Wie Katrin Huke in der Schlussszene ihre Fassung verliert, das hat tragische Wucht. Wenn im letzten Dialog Gregers und der Arzt Relling (mit abgeklärter Lakonie und ungeheuer präsent: Markus Wünsch) über die Nachhaltigkeit von Hjalmars Schmerz schwadronieren, dann ist das nur typisch: Die Männer vergessen die Frau. 

 

Die Wildente
von Henrik Ibsen
Regie: Peter Dehler, Bühne und Kostüme: Stephan Fernau, Musik: John R. Carlson. Mit: Ulrike Hanitzsch, Katrin Huke, Anna Schumacher, David Emig, Horst Rehberg, Gottfried Richter, Hagen Ritschel, Markus Wünsch, Johann Zürner.

www.theater-schwerin.de

 

Kritikenrundschau

Bei seiner Schweriner Inszenierung der Ibsen'schen "Wildente" stehe dem Regisseur Peter Dehler "ein durchweg hervorragendes Darstellerensemble zur Verfügung, das den lebensprallen Charakteren des Menschenmalers Ibsen eine wahrhaftige theatralische Figur zu geben vermag", meint Holger Kankel in der Schweriner Volkszeitung (2.6.2008). Durch "eine Fülle spielerischer, szenischer Erfindungen, Laute, Bewegungen, Aus-der-Rolle-Fallen" scheine auch "immer wieder Ibsens anspielungsreicher Subtext durch." Kankel berichtet darüber hinaus, dass nach der Premiere "im begeisterten Publikum auch diskutiert wurde, ob die [gelegentlich auf die Vorhänge projizierten] Videogesichter der Akteure entbehrlich gewesen wären."

"Eine runde Sache" sei Dehlers Inszenierung der "Wildente", schreibt Dietrich Pätzold in der Ostsee-Zeitung (2.6.2008), "mit einer deutlichen und doch behutsamen Verschiebung der Perspektive macht Regisseur Peter Dehler daraus einen interessanten und modernen Abend." Die Verschiebung betreffe "den Wechsel von Ibsens radikalem Vorwurf der Doppelmoral (der ja noch an Moral glaubt und diese nur wegen der Verstöße untergehen sieht) hin zur Diagnose einer ganz und gar falschen Moral." Gespielt werde von dem "durchweg stark agierenden Schweriner Ensemble" "überwiegend mit Mitteln der Komödie oder Groteske, erst am Ende bricht sich mit dem lange angekündigten Unheil von Hedvigs Tod Tragisches mit lautem Pathos Bahn." Zuvor aber erlebe man "eine köstliche Studie über biederes Familienleben".

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