Die Katastrophe kommt bestimmt

von Martin Krumbholz

Recklinghausen, 12.Juni 2016. Schauplatz sind die Dolomiten. Vier Menschen haben eine Bergtour gebucht, mit Risiken, sie wollen sich etwas beweisen. Sie haben Verluste erlitten, eine Lebensgefährtin oder einen Job verloren. Oder sie wissen einfach nicht, wo sich ihre Zukunft abspielen soll, in Zürich, Berlin oder Moskau. Oder sie fühlen sich zum Schriftsteller berufen, schreiben gern was in ihr kleines Notizbuch, sind sich aber nicht sicher. Im Hochgebirge, unter Extrembedingungen ist das Gefühl der Unsicherheit elementar. Man könnte abstürzen, zum Beispiel auf einer Hängebrücke, die Wolf, einer der beiden Guides, angeblich selbst zusammengesteckt hat. Wandern und klettern im Hochgebirge, das heißt: Man muss Vertrauen haben, sich auf den anderen verlassen können. Ob man das aber tatsächlich kann, ist fraglich, die Vier kennen einander kaum. Während Wolf und Marie, die beiden Guides, vertraut miteinander zu sein scheinen, sind Emmy, Joe, Hans und Caspar alles andere als das.

Defizitäre Extremsport-Fans

In der Laborsituation, die der junge österreichische Autor Thomas Arzt sich für sein Stück "Der nackte Felsen" ausgedacht hat, liegt der unheilvolle Ausgang von Anfang an in der Luft. "Das Problem ist, dass die Menschen sich überschätzen", sagt einer. Sie glauben, sich unter Extremsportbedingungen fit machen zu können für ihren Alltag, aber am Ende spiegeln die Konflikte in den Bergen, die Egoismen, die Verklemmtheiten, die Muskelspiele, nur ihre Defizite im Privat- oder Berufsleben. Und den berufsmäßigen Guides geht es nicht anders. Einmal überredet Marie die idealistische Emmy – das ist die, die aus ihrer Wohnung geflogen ist und sich zwischen Zürich, Berlin und Moskau nicht entscheiden kann – sich kopfüber an einem Seil, von den anderen Dreien gehalten, in eine Schlucht fallen zu lassen. Sie überlebt es gerade so. Man weiß nicht recht, ob Marie hier bewusst ein diabolisches Spiel treibt und ein Opfer sucht, oder ob sie die Übung für einen normalen Teil des Programms hält.

Der nackte Felsen 01 560 c Hans Juergen Seufert uDas Ensemble hält zusammen. © Hans-Jürgen Seufert

Auch die Darstellung der Figur durch Monke Ipsen gibt darüber keinen rechten Aufschluss. Die Regie von Harald Demmer – bei der Uraufführung des Stücks handelt es sich um eine Koproduktion mit dem Pfalztheater Kaiserslautern – versäumt es leider, die Figuren zu schärfen und gegebenenfalls zuzuspitzen; sie bleiben allesamt ein wenig blass. Die Regie versucht einen Spagat zwischen einer Art Naturalismus (Rucksäcke und Seile kommen durchaus vor) und einer vorsichtigen Abstraktion, wie sie das Bühnenbild von Oliver Kostecka vorgibt: eine ausgestanzte Gebirgslandschaft, die entfernt an Caspar David Friedrichs "Gescheiterte Hoffnung" erinnert. Die sportlichen Aktionen – Klettern, Laufen, Sichern – werden nur angedeutet. Monologische Selbstdarstellungen der Figuren ("dein schönster/schlimmster Moment") sprechen die Schauspieler frontal ins Publikum; ebenso die eingestreute lyrische Gebirgsfolklore, die im Chor dargeboten wird.

Sauber, gut gemacht ...

Aus 91 knappen Szenen und vielen Gedankenstrichen für ausbleibende Repliken besteht der Text; die Zäsuren werden nicht durch Blackouts, sondern durch Musik markiert. So plätschert das Ganze schwach strukturiert dahin und verbreitet wenig Schrecken. Die Gebirgstouristen erscheinen mal eher fragil und sensibel wie Emmy (Maike Elena Schmidt) oder Hans (Daniel Mutlu), mal eher zwanghaft-lustig wie Joseph, der Joe genannt werden möchte (Stefan Kiefer), oder pseudo-abgeklärt wie der "Professor" Caspar (Rainer Furch), dessen Frau an Krebs gestorben ist und ihrem Mann offenbar ein Bolognese-Rezept hinterlassen hat. Trauerarbeit im Gebirge, ja – aber wirklich tief dringt Thomas Arzt in die Figuren nicht ein und Volten oder Überraschungen hält er ebenso wenig bereit. "Der nackte Felsen" ist ein sauberer, gut gemachter, aber kein ganz starker Text.

Joe unternimmt einen einsamen Ausreißversuch, Caspar fällt plötzlich tot um. Am Ende, so muss man es wohl verstehen, erfrieren alle Touristen nach einem unerwarteten Wetterumschwung samt ihren Guides. "Die Katastrophe kommt bestimmt", hat Hans schon frühzeitig erkannt. Die Vorboten waren ja auch nicht zu verkennen, weder klimatisch noch dramaturgisch.

 

Der nackte Felsen
von Thomas Arzt
Uraufführung
Koproduktion Ruhrfestspiele/Pfalztheater Kaiserslautern
Regie: Harald Demmer, Bühne und Kostüme: Oliver Kostecka, Licht: Harald Zidek, Musik: Julius Richter, Dramaturgie: Melanie Pohlmann.
Mit: Monke Ipsen, Oliver Burkia, Maike Elena Schmidt, Stefan Kiefer, Daniel Mutlu, Rainer Furch.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

www.ruhrfestspiele.de
www.pfalztheater.de

 

Kritikenrundschau

Ina Fischer schreibt in der Recklinghäuser Zeitung (14.6.2016) und fast gleichlautend auch in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (14.6.2016): "Von verpfuschten Leben" wisse Arzt "erschreckend viel und detailliert zu berichten". In "lakonisch knappen Szenen mit oft klugem Wortwitz" lernten die Zuschauer "90 spannende Minuten lang" die Protagonisten und "ihre schönsten, ihre schlimmsten Momente, ihre Dämonen, ihre Träume" kennen. Arzt orientiere sich "dicht am Puls seiner Generation".

 

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