Die Hundekot-Attacke - Theaterhaus Jena
Mitten ins Gesicht
28. Oktober 2023. Das Theater im Theater – und der Eklat aus der Realität: Im Februar dieses Jahres beschmierte der damalige Ballettchef Marco Goecke Kritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot. Am Theaterhaus Jena versucht ein fiktives Theaterkollektiv, den Fall auf die Bühne zu bringen – und gerät dabei schnell in Schleifen der Selbstbefragung.
Von Marlene Drexler

28. Oktober 2023. "Wir sind leider zu keinem Ergebnis gekommen", gesteht Leon Pfannenmüller ohne Umschweife, aber mit leicht gequältem Gesichtsausdruck gleich zu Beginn des Abends. Worte, die direkt ans Publikum gerichtet sind und die erklären, warum es weder Kostüme noch ein wirkliches Bühnenbild zu geben scheint. Eine Leinwand verdeckt den schwarzen Bühnenraum. Davor aufgereiht stehen sechs Stühle und Mikrofonständer.
Eine mega gute Idee
Wenn es schon nichts zu zeigen gibt, will das Ensemble wenigstens die Mails vorlesen, die sie sich während der Probenzeit geschrieben haben, erläutert Leon Pfannenmüller das Notfall-Prozedere. Die vier Spielerinnen und zwei Spieler schlagen also den ausgedruckten Mailverkehr auf – ein dickes Manuskript. "Liebe Leute, Ich habe eine mega gute Idee für unser Ensemblestück", trägt Pina Bergemann die erste Mail vor. Ihr Vorschlag ist, ein Stück über den Hundekot-Eklat an der Staatsoper in Hannover zu machen. Der damalige, später suspendierte Ballettdirektor hatte einer Kritikerin im Februar aus Ärger über ihre Texte Hundekot ins Gesicht geschmiert – wir erinnern uns. Ein Ereignis, das mit Schlagzeilen wie "Eine Verrohung im öffentlichen Diskurs" oder "Das geht nicht mehr ab: Jetzt klebt Hundekot an der Theaterkritik" internationales Aufsehen erregt und Diskussionen über Pressefreiheit und die demokratische Kultur ausgelöst hatte.
Weil nicht alle im Ensemble die Themenidee auf Anhieb "mega gut" finden, entspinnt sich in den folgenden Minuten des Stücks ein munterer Diskurs, in Form des besagten Mailverkehrs. Argumente gegen das Thema: Der Abend darf die Tat nicht reproduzieren; auch sollte die Geschichte nicht auf Kosten des Opfers komödiantisch ausgeschlachtet werden. Argumente für das Thema: Was damals riesigen Wirbel erzeugt hat, könnte auch als Theaterstück noch mal riesigen Wirbel erzeugen. Und das wäre für das Theaterhaus Jena doch gut. Finden zumindest einige der Beteiligten. Zumal es die letzte Spielzeit für das Ensemble ist. Und das nicht nur im Spiel, sondern auch in echt.
Das Theater im Theater: Leon Pfannenmüller, Henrike Commichau, Anna K. Seidel, Pina Bergemann,, Nikita Buldyrski, Linde Dercon (v. l .) © Joachim Dette
Dieses In-die-Realität-Reingrätschen, Echtes mit Fiktion verschmelzen – das ist von Anfang an fester Bestandteil des Abends. Denn all das, was da auf der Bühne über die Probenzeit berichtet wird, könnte sich tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen haben. Das Theaterhaus Jena entwickelt seine Stücke immer selbst und zwar im Kollektiv. Das Kokettieren mit Elementen der Echtheit in den Bühnen-Geschichten ist dabei eine Spezialität des Ensembles, die an diesem Abend perfektioniert wird. Die Spielerinnen und Spieler sprechen sich zum Beispiel mit ihren privaten Namen an; wenn sie sich dann untereinander vielsagende Blicke zuwerfen, über jemanden die Augen verdrehen, wirkt das Miteinander-Spielen luftig, leicht und unaufgesetzt – allein das besitzt schon hohen Unterhaltungswert.
Die Medienlogik entlarven
Inhaltlich geht es schon bald nicht mehr nur um einen gekränkten Mann, der verblendet genug war, sich von seiner eigenen Hybris ein Bein stellen zu lassen. Sondern um die dahinter liegenden, größeren Strukturen und Mechanismen, die in der Kunstszene wie auch der Gesellschaft im Allgemeinen wirken. Was das heißt, zeigt der Abend als Experiment an sich. Das Stück "Die Hundekot-Attacke" hat schon vor der Premiere eine für Jena unvergleichliche Medienaufmerksamkeit bekommen. Etwas dramatisch ausgedrückt könnte man sagen: Das Projekt hat die Medienlogik entlarvt.
Das Jenaer Ensemble fühlt sich durch seine Erkenntnis jedenfalls zu einer kleinen Abrechnung mit dem Establishment der Theater-Szene ermuntert, in dieser für sie letzten Spielzeit: "Wir haben hier fünf Jahre gute Stücke gemacht, aber es kommt trotzdem niemand", lautet zum Beispiel ein Satz. Die Jenaer beschweren sich nicht über negative Kritik, sondern verlangen, überhaupt mal die Chance zu bekommen, neben Berlin, Hamburg, Bochum und München wahrgenommen zu werden.
Zeigt her, Eure Wunden: Leon Pfannenmüller, Linde Dercon, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Anna K. Seidel © Joachim Dette
Dennoch wird der Ton nicht bitter und das macht den Abend am Ende aus. Dass der Stinkefinger irgendwie charmant mit Küsschen rüberkommt, liegt auch daran, dass sich die Spielerinnen und Spieler Ventile für den Unmut schaffen. Und damit die Lust am Spiel und für das Publikum – egal wer genau da gerade sitzt – immer das Zentrale bleibt. Mit am einprägsamsten Nikita Buldyrski, der sich den Ärger von der Seele rappt. Oder Pina Bergemann, die kurz vorm Ende gefühlt minutenlang japsend, keuchend und sich völlig verausgabend spielt, dass sie stirbt. Eine Todesszene aus einer vergangenen Produktion, die offenbar damals von der Kritik als komplett unglaubwürdig zerrissen worden war.
Keine Abrechnung
Gemeinhin sagt man ja, ärgern und verletzen kann einen nur jemand, der einem auch irgendwas bedeutet. "Die Hundekot-Attacke" ist keineswegs nur Abrechnung mit oder Abgesang auf die Kritik. Sondern vielmehr eine Aufforderung an sie, differenzierter hinzuschauen. Vor allem aber zeigt dieser derart emotional und inhaltlich dichte Abend – ganz unabhängig von Hundekot-Attacken –, welches Potenzial Theater hat. Obwohl über lange Strecken äußerlich wenig auf der Bühne geschieht, ist da durchweg eine Spannung, die fesselt. Weil das, was da verhandelt wird, die Spielerinnen und Spieler tatsächlich etwas angeht. So wird der Kontakt mit dem Publikum fundamental. Von der Idee bis zur letzten Minute der Umsetzung ist das große Kunst.
Die Hundekot-Attacke
Konzept / Regie: Walter Bart (Wunderbaum), Bühne: Maarten van Otterdijk
Kostüm: Carolin Pflüger, Dramaturgie: Hannah Baumann, Choreografie: Edoardo Cino.
Von und mit: Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller, Anna K. Seidel.
Premiere am 27. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theaterhaus-jena.de
Kritikenrundschau
"Mit dieser Hundekot-Attacke agiert die kleine Jenaer Truppe wieder mal auf Augenhöhe mit all den großen Häusern, an denen sie sich demnächst vielleicht bewerben, weil ihre Zeit in Jena vorbei ist," so Wolfgang Schilling im MDR Kultur (28.10.2029). In der Inszenierung finden aus seiner Sicht "Ernsthaftigkeit und Witz zueinander. Man ist ergriffen und entsetzt und mittendrin in einem Theater, das die Welt nicht von der Bühne herab erklärt, sondern sich und dem Publikum einen Spiegel vorhält. Das hat Rasanz und endet mit der letzten E-Mail, die vom Morgen des Premierentags stammt und das Scheitern eingesteht."
Michael Laages findet den Abend auf Deutschlandfunk Kultur (27.10.2023) "extrem amüsant", der aber vor allem ein großes Talent zur Reflexion zeige. Es werde auch krude rumspekuliert, "aber das macht großen Spaß".
"Ausgerechnet mit einer Inszenierung, die die Mechanismen des skandalfreudigen Theater- und Kritikbetriebs auf die Schippe nimmt, hat das Ensemble dank des Kot-Wortes als Köder die Aufmerksamkeit, die es verdient", berichtet Kornelius Luther in der taz (30.10.23). "Alle Erwartungen werden lustvoll unterlaufen", so der Kritiker. "Ausgestellt wird ein Prozess, der Ängste auslöst, Konflikte im Ensemble zutage bringt und Machtstrukturen sichtbar macht."
Von einem "Geniestreich" berichtet Ulrike Kern in der Thüringischen Landeszeitung (30.10.23, €). Der Abend beinhalte "eine vielschichtige, brandaktuelle Stückentwicklung über Kunstkritik, Mediendynamik und Kommunikation", die "durchweg sehr ehrlich, authentisch und mutig" sei. Kurzum: "Ganz große Kunst und eine Abrechnung mit Stinkefinger und Küsschen!"
Der auf den ersten Blick wenig spektakulär wirkende Ansatz erweise sich schnell als "Glücksfall", schreibt Stefan Arndt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (30.10.23). Die Texte erschienen "oft ehrlich bis zur Indiskretion", seien "wunderbar rhythmisiert, frech und witzig" und eröffneten "oft überraschende Betrachtungsweisen", so der Kritiker. "Themen wie mediale Aufmerksamkeit, Sinn und Unsinn von Theater und Gewalt gegen Frauen werden so überraschend unterhaltsam und klug verhandelt." Dem Ensemble gelinge mit diesem Abend "ein erstaunlicher Balanceakt über den Abgründen der Hundkot-Affäre, der am Ende vom Publikum ausgiebig gefeiert wird".
"Wer auch nur den kleinsten Einblick in Probenprozesse am Theater hat, lacht sich bei schlapp", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (31.10.2023). Statt Kot, Attacke, Choreograf und Kritikerin gebe es "etwas viel Besseres": die Theatralisierung eines E-Mail-Verkehrs, der einer möglichen Aufführung vorangehe, die aber nie stattfinde. Niemand spiele hier irgendwen, "auch wenn am Ende die ganzen ulkigen Ideen einer möglichen Aufführung im Schnelldurchlauf hergezeigt werden. Denn entscheidend sind die Diskussionen davor, die das Theater an sich betreffen und alle, wirklich alle Aspekte zum Fall Goecke, ungefiltert, gnadenlos, witzig und klug."
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Vielleicht sollten alle sogenannte kleineren Theatern viel mehr die Chance bekommen, neben Berlin, Hamburg, Bochum und München von der Kritik wahrgenommen zu werden...