Werther - Das Zürcher Theater Neumarkt lädt Goethes Briefroman mit Texten von Roland Barthes auf
"Ich habe – ich weiss nicht"
von Claude Bühler
Zürich, 11. Januar 2014. Wer nach der Aufführung durch das nahe gelegene Vergnügungsviertel Niederdorf spaziert, fühlt sich auf Schritt und Tritt an die eben vergangenen 90 Minuten erinnert, sieht, wie sehr es Regisseurin Laura Koerfer und Dramaturgin Fadrina Arpagaus gelungen ist, das Aufwühlende jugendlichen Liebeswahns in heutige Bilder zu packen. Könnte mancher der jungen, aufgeladenen Typen vor den Diskotheken, die in Winterskälte im T-Shirt ihre Muskeln zeigen, nicht ebenso wie Maximilian Kraus mit glänzenden Augen den Werther zitieren und hervorstoßen: "Ich werde sie sehen! und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter." Und lassen die jungen Girls in den Diskotheken nicht zu "What is love" von Haddaway im Taumel ihre Haarpracht fliegen wie es Yanna Rüger tut, den Glitzerschmuck im Gesicht? Oder stammeln: "Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiss nicht."
Und wohl manche würden wie die drei Werther-Figuren (Janet Rothe, Maxilimilian Kraus, Yanna Rüger) ihre Faust gegen Himmel recken und beteuern: "So unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz". Oder delirieren: "Ich weiß weder, dass Tag noch dass Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her." Ganz zum Nennwert werden aber im Neumarkttheater die Empfindungen nicht ausgespielt, in der Tiefe lächelt glättend die Ironie. Das Publikum lacht ausgiebig über das Typische: verliebte Albernheiten, pubertäre Verzweiflungen oder verstohlene Wutausbrüche aus Eifersucht.
Typisches nur, nichts Einzelnes
Dabei wurde dem jungen Werther, der sich unglücklich in Lotte verliebt, die sich bereits Albert versprochen hatte, ein Anwalt des Unverhältnismäßigen zur Seite gestellt. Der französische Philosoph Roland Barthes schrieb 1977 mit "Fragmente einer Sprache der Liebe" ein radikales Plädoyer für das unglücklich liebende Subjekt, ein alphabetisch geordnetes Glossar zu Typen der Liebe: das Warten auf den Anruf, die Eifersucht, das Zugrundegehen etc. Erstaunlich, wie gut die ausgewählten Ich-Reden Barthes wie etwa: "Ich komme zu dem Entschluss, künftig vom Anderen nichts mehr haben zu wollen" in Goethes Briefroman von 1774 sprachlich passen, sich befruchtend als Werthers Subtext eignen.
Daraus wird ein Monolog, aufgeteilt auf das Ensemble, der also nicht den psychologischen Einzelfall verhandelt, sondern eben eine Typologie Werthers. Dieser Ansatz verlängert sich in extra steril Typisiertes im Bühnenraum (Dominic Huber): ein riesiger Mund, ähnlich dem Rolling Stones-Label, der seine Zunge auslädt, und durch den das Ensemble auf die Bühnefläche kollert. Eine Kanzel aus Aluminium, die bald zur Bar mit Hawai-Schnürlvorhang oder bald eben das DJ-Pult wird.
Der DJ, Philippe Graber im blauen Werther-Frack und mit tiefem Seitenscheitel, verkörpert so etwas wie die Melancholie aus Besessenheit. Nicht bloß als Titelheld, als der er sich am Ende umbringt, sondern auch als Autor und Taktgeber. Das Steuerungsgerät in der Hand wirft er die Synthie-Pop-Songs an, zu dem die anderen Werthers hüpfen und zucken. Immer wieder verschwindet er sich isolierend in ein kleines Tickethäuschen, spricht dort einsam unhörbar die Texte der andern nach. Wütend verstampft er dort seine Schreibmaschine, Napoleon zitierend, dass es ebenso viel wahren Mut wie im Kriegsgefecht erfordere, mit Standhaftigkeit die Leiden der Seele zu ertragen. Und mit brüchigem Duktus führt er den Abend ein mit Barthes' Satz: "Dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist."
Am Ende "geile Stille"
"Wer bringt sich denn heute noch aus Liebe um?", fragt das Neumarkttheater im Programmtext. Ein Blick in die Statistik sagt, dass Suizid bei den Jugendlichen in der Schweiz die zweithäufigste Todesursache ist. Barthes schrieb, und das kommt nicht vor in der Aufführung, Werther töte sich (nach eineinhalbjähriger Krise) erschöpft aus Ermattung. Er sieht im unglücklichen Liebessubjekt generell, aber auch bei Werther, etwas, das völlig unzeitgemäß ist, das quer zur Gesellschaft steht, die sich vor der Irritation schütze, in dem sie vorschiebt, die Liebe müsse vernünftig sein. Auf dieses subversive Potential, auch auf den Aspekt der Einsamkeit, geht die Aufführung nicht näher ein.
Stattdessen beschwört das Ensemble in einem längeren Gedicht einen Dämon herauf, in dem das Bild der Geliebten vor dem inneren Auge nicht weichen will. Ein symbolisch überhöhtes Maschinengewehrgeratter macht damit ein Ende. Danach kichert Graber, wie "geil" diese Stille jetzt sei, und fragt: "Was jetzt?". Gute Frage! Heftiger Applaus, Bravorufe.
Werther
Gesang an die Nacht, Gebrüll gegen Kummer
nach Johann Wolfgang von Goethe mit Roland Barthes
Regie: Laura Koerfer, Raum: Dominic Huber, Kostüme: Sabina Winkler, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus.
Mit: Philippe Graber, Maximilian Kraus, Janet Rothe, Yanna Rüger.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, ohne Pause
www.theaterneumarkt.ch
Mehrere Glücksfälle hat Claudio Steiger für die Neue Zürcher Zeitung (13.1.2014) bei diesem "Werther" der Regisseurin Laura Koerfer ausgemacht: die Texte von Roland Barthes, "Dominic Hubers facettenreiche Bühne" und die Schauspieler. "Beeindruckend sind auch die Visualisierungen von Freud und Leid: Da wird athletisch getanzt und sich gewälzt, gerannt und kollabiert, und alle Verbildlichung des Wertherschen Innenlebens scheint darstellerisch zwingend aufgefächert in männliche und weibliche Gestik." Was freilich fehle, sei "ein Quentchen Mut – zum 'Werther', den das Stück ja doch im Titel trägt, bekennt Laura Koerfer keine Farbe."
Die im Zürcher Tages-Anzeiger (13.1.2013) erschienene Blitzkritik von Knöden von Gnadenschneck können Sie hier nachsehen und nachhören.
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