Debatte um die Zukunft des Stadttheaters - Christian Rakow widerspricht Dieter Haselbachs Forderung nach einem Ende des Stadttheatersystems
Heimvorteil
von Christian Rakow
9. Februar 2017. Das also soll die Generalmobilmachung des Theaters werden: Schluss mit den stationären Ensembletheatern, Schluss mit dem kostenintensiven Repertoiresystem mit wenigen Aufführungen pro Produktion. Schluss also mit dem traditionsreichen, luxuriösen Stadttheatermodell in deutschsprachigen Landen. Stattdessen Gastspieltheater, tourende Compagnien in Häusern mit einem Minimum an technischem Personal; weniger Produktionsstätten, mehr Aufführungen je Produktion, landauf, landab. So lauten im Kern die Verbesserungsvorschläge, die Dieter Haselbach auf nachtkritik.de mit dem ganzen Stolz des Reißbrett-Strategen der Kulturpolitik unterbreitet. Ein fröhliches back to the roots wäre das: zurück zu den vorshakespeareschen Zeiten der lustigen Wanderbühnen. Und heute drohen nicht einmal die Wegelagerer. Es droht einzig der tagelange Leerstand von Immobilien, wenn die Gaukler weitergezogen sind.
Verfügbarkeit
In der vornehmlich von Produzenten und Theatermanagern geführten Stadttheaterdebatte der Januartage kommt mir die Perspektive des Publikums zu kurz. Wodurch entsteht überhaupt so etwas wie eine Theaterkultur vor Ort? Vor allem doch: durch die Verfügbarkeit von Inszenierungen. Große Inszenierungen können sich per Mund zu Mund-Propaganda und übers Feuilleton ins Herz der Stadt einpflanzen. Aber nur, wenn sie sich auch auf dem Spielplan finden lassen.
Hier haben freie Produktionsformen gravierende Nachteile gegenüber dem Repertoire-System. Ich erinnere mich, wie schwierig es war, eine bahnbrechende Arbeit wie Gob Squads Before Your Very Eyes im Bekanntenkreis zu vermitteln, schlicht weil die Produktion kurz nach der Berliner Premiere weiterzog und dann für Monate verschwunden war. Mit Milo Raus Five Easy Pieces, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, sieht es nicht anders aus. Man kann darüber lesen, aber ohne direkte Anschauung verebbt das Theatergespräch doch recht schnell.
Aus Kostengründen stehen die Zeichen auf Abspeckung des Repertoire-Systems, da muss man sich nichts vormachen. Der Organisationstheoretiker und Reformer Thomas Schmidt weist den Weg in Richtung Semi-Stagione-Programm, wie es an Opern praktiziert wird (Produktionen bleiben mehrere Tage am Stück auf der Bühne, um Umbaukosten zu minimieren). Entscheidend aber wird die Frequenz der Ansetzungen sein. Wer prägende Arbeiten nicht monatlich präsentiert, darf kaum darauf hoffen, dass sich ein andauerndes Gespräch über Theaterkunst am Ort entfaltet.
Warum aber überhaupt ein solches Gespräch? Die Relevanz scheint bei Dieter Haselbach grundsätzlich infrage zu stehen, er witzelt über espressotrinkende Zuschauer im Foyer. Der zivilgesellschaftliche Nutzen wird allenfalls angetippt. Dabei wäre die Liste an Beispielen lang, die Theater als Zentren der stadtkulturellen Verständigung ausweisen. Sie zeigt Bühnenarbeit, die sich konkreten regionalen Anlässen wie Stuttgart 21, Pegida (Dresden) oder Atommülllager Gorleben (Hannover) verdankt, Arbeit an globalen Fragen der Stadtentwicklung (Gentrifizierung; aktuell am stärksten in München und Berlin verhandelt) und vor allem Arbeit an Fragen des interkulturellen Miteinanders (man rufe sich auch die Partizipationsangebote im Zuge der #refugeeswelcome-Bewegung 2015/2016 in Erinnerung). In all diesen Diskursen hat sich Theater als flexible, weil spontanste darstellende Kunstform am Ort behaupten können.
Am Ort, das ist der Punkt. Prägendes Theater entsteht aus einer spezifischen Situation, für ein Publikum, das sich mit seinen Künstlern findet, reibt, weiterentwickelt. Eine Binse eigentlich, aber man muss sie offenbar gegen Advokaten der kulturpolitischen Finanzrechnung in Erinnerung rufen. Wo anders als in Berlin (und vielleicht noch Köln) könnte ein von queeren und postmigrantischen Positionen geprägtes Ensemble-Theater wie das Maxim Gorki sein einzigartiges Profil entwickeln? Ich wünsche einer Arbeit wie Falk Richters schwuler Gesellschaftsanalyse Small Town Boy jeden erdenklichen Tournee-Erfolg dieser Welt. Aber ich zweifle daran, dass eine solche Produktion hätte entstehen können, wenn sie ursprünglich für Gastspielzwecke angelegt worden wäre.
Das Momentum vieler Theaterabende liegt geradezu in dem, was sich der Transportabilität entzieht. Ich denke an den Wutbürger-Chorabend Graf Öderland von Volker Lösch am Staatsschauspiel Dresden 2015. Aus dem angespannten Klima der Stadt erhob er sich, wenige hundert Meter vom Vorplatz der Semperoper, wo sich montäglich die Pegida-Demonstranten versammeln. Man sah ein Ensemble im Widerstreit mit dem Zorn der Straße, mit der Lokalpolitik, im Aushalten der Widersprüche im eigenen Haus. Der Widerstreit wurde nicht nur in dieser Arbeit ausgetragen. Nahezu jede größere Dresdner Produktion seit dem Aufkommen von Pegida reflektierte das Bestreben des Hauses, eine zivilgesellschaftliche Position zu behaupten und von der hauseigenen Bürgerbühne bis ins diskursive Rahmenprogramm des Schauspiels hinein Kräfte der bürgerlichen Mitte zu bündeln.
Wer, wie Dieter Haselbach, das Theater allein von der Einzelproduktion her definiert, der versäumt eine Reflexion auf genau diese institutionelle Arbeit, die ein stehendes Haus im besten Falle als Kulturzentrum der Stadt modelliert. Das idealtypische Ensemble-Theater entfaltet einen Diskurs nicht nur auf der Bühne, sondern ebenso im literarischen Rahmenprogramm über Popkonzerte und Diskussionsabende. Auch über soziale Intervention (vgl. nochmals die #refugeeswelcome-Bewegung 2015/2016). Und dieser Diskurs durchzieht als "Geist" die jeweiligen Einzelproduktionen.
Ans Limit
Die Berliner Volksbühne war über Jahre ein solches prägendes Haus. Das Dortmunder Schauspiel, das sich gezielt über die netz- und new-media-affine Szene der Region ein Publikum aufbaut, wäre zu nennen. Herausragende Produktionen solcher Theater werden nicht nur von ihrem spezifischen Publikum getragen. Sie testen auch den Apparat auf sein Limit hin. Eine Inszenierung wie die Borderline Prozession vom Dortmunder Schauspieldirektor Kay Voges wäre mit ihrer opulenten Bühne für jeden Gastspielbetrieb eine Zumutung. Mit Ulrich Rasches überdimensionierter Galeerenchor-Inszenierung von Schillers Die Räuber steht es nicht anders. Die passt auf kaum eine deutsche Bühne außerhalb des Münchner Residenztheaters. Aber beide Arbeiten passen in unsere Zeit, bündeln ästhetische Kräfte, sind Ausdruck tiefgründiger gesellschaftlicher Analysen. Wer das System, das ihre Entstehung ermöglicht, rodet, kürzt zugleich das Ausdrucks- und Reflexionspotenzial, das Bühnen in ihren besten Abenden bereithalten.
Ich bin mit Mobilitätserwägungen vor allem inhaltlicher Natur in diesem Jahr vermehrt befasst, weil ich seit Februar 2016 als Juror im Auftrag des Berliner Theatertreffens durch die deutschsprachigen Lande reise. Es ist ein prima Job, kann man ruhig mal sagen, mit voller Reisekostenunterstützung des Festivals zu touren, von Bern bis Stralsund, von Graz bis Essen, auf der Suche nach zehn bemerkenswerten Arbeiten der Saison, in enger Abstimmung, im Argumentaustausch, im Streit mit sechs Kritikerkolleg*innen in der Jury.
Das Reisen zeigt manch Kompatibles über die Regionen hinweg, aber doch auch die Unterschiedlichkeit von Kontexten. Das Gerichtsstück "Terror" von Ferdinand von Schirach, das bei der Berliner Uraufführung vom tendenziell kritischen Berliner Diskurs (ebenso wie von den Kritiker*innenjurys aus Mülheim und Berlin) abgewunken wurde, entpuppt sich in Stralsund nicht erst bei der finalen Publikumsabstimmung als spektakuläres Partizipationsevent, in dem sich die Zuschauer, als "Schöffen" angesprochen, tatsächlich auch wie Schöffen verhielten und also munter die fiktiven Zeugen auf der Bühne vom Zuschauerraum aus befragten.
Nicht alles funktioniert überall
Der weniger direkte Zugang zum Geschehen in Berlin erklärt sich aus der höheren Dichte an Inszenierungen, die einen Diskurs reflexiver und formenorientierter macht. Wer regelmäßig zwei, drei "Hamlet"-Inszenierungen, teils parallel, auf den Bühnen seiner Stadt erleben kann, für den rücken regietheatrale Umsetzungsfragen in den Vordergrund, für den wird das einzelne Erlebnis im Vergleich mit anderen dialektisch aufgehoben. Mehr Seherfahrung, mehr Meta – das gilt für Kritiker wie für Aficionados. Entsprechend funktioniert nicht alles aus dem weiten Land in Berlin, wie umgekehrt auch herausragende Arbeiten, die ganz und gar aus einer Berliner Ästhetik hervorgehen, wie, sagen wir, Frank Castorfs Die Brüder Karamasow schwerlich in jeden erdenklichen Kontext hinein vermittelbar sind (sie war ja offensichtlich nicht einmal in der Jury des Berliner Theatertreffens 2016 mehrheitsfähig).
Kurzum: Wer über die deutschsprachige Theaterlandschaft nachdenkt, denkt über ortsspezifische Gegebenheiten nach, über Ensembles, die für ihr Publikum ein veritables Identifikationsangebot bereithalten. Am Theater Bautzen erlebte ich in dieser Spielzeit mit Christian Lollikes "Träume werden Wirklichkeit – Ein Disneydrama" ein verschlungenes Zwei-Personenstück, das fragt, wie Mainstream-Ästhetiken à la Disney Gender-Rollenbilder vorformatieren. Der Abend hatte nicht die Entschiedenheit eines René Pollesch oder einer Ann Liv Young, die ähnliche Themen beackern. Aber er führte seine Gesellschaftsanalyse mit Verve und in herausfordernder, sprunghafter Dramaturgie durch.
Ich behaupte, dass ein solches Wagnis – denn es scheint mir ein Wagnis für ein Haus, das sein Publikum vielfach mit leichteren Stoffen locken muss – auch deshalb glückt, weil eine wunderbare Ensemblespielerin wie Fiona Piekarek-Jung hier einen Glaubwürdigkeitstransfer leisten kann. Das repertoiregeschulte Publikum, das sie aus geradlinigeren Stoffen wie Lutz Hübners "Frau Müller muss weg" kennt, folgt einer solchen Akteurin auch in verästeltere Unternehmungen. Es ist eine These, die weiterer Überprüfung harrt: Der Ensemblespieler garantiert symbolischen Transfer und Credibility zwischen potenziell höchst unterschiedlichen Kunstformen. Obendrein ist seine Glaubwürdigkeit auch außerkünstlerisch induziert. Ensemblespieler sind Mitbürger, die den gleichen Beat der Stadt spüren und ihn idealerweise in Bühnensprache übersetzen können (über das Identifikationspotenzial von Ensembles war aus der Theaterreise von Monika Grütters viel zu erfahren).
Training für die Welt
Im Nebeneinander unterschiedlicher, auch experimenteller Kunstformen, wie es der Repertoire- und Ensemblespielplan ermöglicht, strahlen Häuser aber nicht nur kommunal aus, bleiben nicht nur auf die jeweilige Kultur am Ort verwiesen. Sie leisten darüber hinaus auch eine Einübung in plurale Wissensbildung, in die Wahrnehmung unterschiedlicher (ästhetischer und kultureller) Wertsysteme. Heute ein Hübner, morgen ein Lollike. Wer solche divergenten Ästhetiken in ihrer Eigenlogik auffasst, der erfährt ästhetisch, was Diversität meint, der lernt, Reichweiten und Begrenzungen unterschiedlicher Wirklichkeitszuschreibungen besser einzuschätzen. Kurzum: Die lebendige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen künstlerischen Erfahrungen trainiert für die pluralistische Disposition einer offenen Gesellschaft – ein kollektives, ortsspezifisches Fitnessprogramm fürs globale Demokratieverständnis.
Bezeichnenderweise feiert bei Dieter Haselbach die Idee des Livestreamings von Theaterveranstaltungen eine Renaissance. Dieses Heilsverspechen des digitalen Abbilds schien mir schon beim mobilisierungsfreudigen Berliner Ex-Staatssekretär Tim Renner der schwächste, weil theaterrealitätsfernste Vorschlag auf der Agenda zu sein. Zumindest dort, wo er sich als Alternativangebot zur Präsenz im Theater gerierte. Ich finde bei den Advokaten der massenmedialen Beglückung kein Nachdenken darüber, warum sich Musiktheater schon zu Omas Zeiten auch ohne Bild wunderbar in die Konserve pressen ließ (das primär auf die Musik abgestellte ästhetische System macht's möglich), während das Sprechtheater vor allem dort übertragbar wird, wo es mimische, gestische, allgemein nonverbale performative Qualitäten minimiert und sich quasi dem Hörspiel annähert (siehe die Auswertung des Livestream-Experiments "Shakespeares Complete Works" von Forced Entertainment).
Der letzte Livestream, den ich erlebte, war die Internet-Übertragung von Cellar Door, dem düsteren Keller-Spiel von Ex-Signa-Mitstreiter Thomas Bo Nilsson am Schauspielhaus Wien. Wackelige Bilder aus dem finsteren Bühnenraum, stark verpixelt, immer wieder riss die Leitung ab. Eine Aura hatte das Ganze trotzdem. Weil ich zuvor in vier Stunden durch ebendiese Räume gestreift war, dubiose Fantasiegeburten aus der S/M-Bilderschleuder angetroffen hatte. Signa-Style eben. Die Präsenzerfahrung hat das Digi-Bild aufgewertet, ja eigentlich erst erträglich gemacht.
Vor Ort entscheidet es sich also. Und man kann Kombattanten wie Dieter Haselbach nur wünschen, dass sie den Schritt vom Bilanzwesen zurück ins Theater finden. Effizienzkalküle sind nur dort sinnvoll, wo man den Zweck im Blick behält. Der Zweck ist der lebendige ästhetische Austausch über die Belange der Stadtkultur und der gesellschaftlichen Disposition, in der sie sich entfaltet. Eine kontextfreie Ressourcenberechnung à la Haselbach wirkt wie der Stolz des Hauswarts, der glaubt, er habe Kosten minimiert, wenn er die Heizung im Winter komplett ausstellt. Die externen Effekte übergeht er, die grundsätzliche Nutzenerwägung ebenso. Ein leeres Zahlenspiel, vor leeren Rängen.
Christian Rakow, geboren 1976 in Rostock, ist nachtkritik.de-Redakteur und Mitkurator der Konferenz Theater & Netz. Er studierte Germanistik und Philosophie in Rostock, Sheffield und Berlin und promovierte in Literaturwissenschaft (Deutsche Philologie) in Münster. Er schreibt u.a. für die Berliner Zeitung und Theater heute. Seit 2016 ist er Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens.
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Sehr freut mich hier der Absatz zum Livestreaming, unterschreibe ich voll: die Präsenzerfahrung ist der Schlüssel. Ergänzend: die gemeinsame Präsenzerfahrung.
Drei Dinge würde ich gern ergänzen:
#2: Ja, auch dieser Absatz freut mich, aber er steht m.E. noch auf den wackligsten Füßen des Rakow'schen Überlegungsgebildes. Wenn man die Arbeiten untersucht, die sich mit livestreaming befassen oder es ästhetisch als einzige Möglichkeit des Zuschauerzuganges zum Theater nutzen, fällt auf, dass sie eigentlich immer mit der Beschämung des Zuschauers zu tun haben. Entweder durch ihre angebotenen Inhalte, oder dadruch, dass er vereinzelt und dadurch zum Voyeur gemacht wird, ob er das ist oder nicht... Hier hat Kai Voges in der Tat durch die Herausarbeitung des Prozessionscharakters wieder Theatralität in Livestreaming gebracht. Eine die der selbstbestimmten Unterhaltung des Zuschauers dient.
2. Dieser Beitrag von Rakow zeichnet sich m.E. nicht nur durch seine stringente Argumentation entlang der Angriffspunkte von Haselbach gegen das stehende Stadttheater aus, sondern durch die präzise, treffsichere Wahl der Beispiele, die er als Belege für seine Argumentation heranzieht.
3. Als Zuschauer kann ich nur bestätigen, wie wichtig längere Spieldauern einzelner Inszenierungen und Repertoireangebot sein können, die einzig taugen, ästhetische Positionen zu wandeln und vor Ort Menschen für Ästhetiken zu öffnen. Auch mit Hilfe des Feuilletons. Und durch die Möglichkeit, ein anschwellendes Stadtgespräch über eine Inszenierung überhaupt erst einmal zu ermöglichen.
Aber sie betrachten den Apparat wirklich nur an der Schnittstelle zwischen Zuschauerraum und Bühne und pochen darauf, dass das Sortiment bitte ständig im monatlichen Spielplan vorhanden sein soll, um den stadtspezifischen Diskurs am Leben zu erhalten. Die damit verbundenen Zwänge und Überlastungen im Inneren lassen Sie dabei bewusst außer acht, obwohl Sie ihnen bekannt sein müssten. Das ist nicht fein.
Wenn Sie vom Geist des Hauses reden, reflektieren Sie nicht kritisch die Eingrenzungen, welche damit auch einhergehen und ebenso am Spielplan durch Auslassungen ablesbar werden.
Und einen Widerspruch versuchen Sie erst gar nicht zu klären. Die „Nicht-Verfügbarkeit“ von einigen frei produzierten, performativen Veranstaltungen hat ihre Ursache ja hauptsächlich im stehenden Stadttheaterbetrieb, der keine ausreichenden Kapazitäten für Gastspiele mit kontinuierlicher, auch monatlicher Präsenz bereit hält und hauptsächlich nur eigene Produktionen fördert und ansetzt.
Und an dieser Stelle spätestens wird deutlich, dass dieses Modell modifiziert werden sollte, auch im Sinne Ihrer Ansprüche. Aber hinter Ihrem akademischen Schleier stellen Sie das Stadttheater in seiner jetzigen Form nur ein weiteres Mal als alternativ los dar, was es keinesfalls ist. Hierfür erhalten Sie naturgemäß viel Zuspruch aus den Reihen der Beharrer. In dem Sinne ist ihr Text natürlich in der Tat ein Heimspiel, mit allen Vorteilen, aber auch Nachteilen, dass Sie drängende Strukturprobleme weitgehend unterschlagen, nur um eine weitere Bresche zu schlagen für ein Betriebssystem, welches begründet ermaßen in der Kritik steht.
Kunst entsteht im Theater m.E. dann statt, wenn die Handelnden und die Zuschauer die gleiche Luft atmen.
Streaming wird nicht funktionieren, nicht einmal die aufwändige neue Ästhetik der Theaterkanal-Verfilmung hat denselben am Leben erhalten können. TV und Kino leben von einer Überwältigungsästhetik, die mit dem Theater wenig bis nichts mehr gemein hat.
Statistik: 1.Etat des Verteidigungsministeriums
"Acht Prozent mehr für die Verteidigung
Der Verteidigungshaushalt steigt 2017 auf 37 Milliarden Euro. Das sind acht Prozent mehr als noch in 2016. Verteidigungsministerin von der Leyen bedankte sich ich im Deutschen Bundestag für diesen großen Vertrauensbeweis für die Bundeswehr."...
Quelle:https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/09/2016-09-07-etat-bmvg.html
2.Statistische Ämter des Bundes und der
Länder – Kulturfinanzbericht 2014
Öffentliche Kulturausgaben entsprechen 0,36 % des BIP
In Relation zur Wirtschaftskraft Deutschlands erreichten 2011 die öffentlichen Ausgaben für Kultur einen Anteil von 0,36 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Insgesamt stellten die öffentliche Haushalte 1,69 % ihres Gesamtetats für Kultur
zur Verfügung. Die öffentlichen Kulturausgaben je Einwohner lagen in 2011 bei 115,03 Euro (Zensus 2011: 117,11 Euro je Einwohner).
Quelle:http://www.miz.org/dokumente/2015_Kulturfinanzbericht.pdf
Zum langsam Mitlesen hier noch einmal die Fakten.
1. So wie das System öffentlicher Theater derzeit organisiert ist, leidet es vielerorts unter massiver Unterfinanzierung. Statt einer langen Ableitung berufe ich mich der Einfachheit halber auf Titus Georgi von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er sagte der Berliner Zeitung am 30.8.2016 in einem Interview: „Die Politik wird die Theater nicht besser finanzieren, fürchte ich. Wie es weitergeht, wenn erst die Schuldenbremse greift in den Ländern, vermag ich gar nicht abzuschätzen. ... Viele Theater sind am Limit, halten dem Spardruck kaum mehr stand.“
2. Das Theatersystem verliert an Relevanz und Verankerung beim Publikum. Man vergleiche die Entwicklung der Besuchszahlen in der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins.
3. Das Life-Prinzip wird durch neue technische Entwicklungen an einigen Stellen infrage gestellt: Inzwischen könne Theateraufführungen in akzeptabler Qualität aufgenommen und woanders zeitgleich gezeigt werden. Die Metropolitan Oper New York zum Beispiel legt in diesem Segment zu – und verliert Zuschauer für ihre Life-Performances: die Digitalisierung ist nicht nur eine Erweiterung, sie wird zum akzeptierten Ersatz.
4. Das Ensemble- und Repertoiretheater ist eine heilige Kuh. In der Theaterdiskussion geht es mehr darum, diese Heiligkeit zu erhalten als darum, über mögliche strukturverändernde Reformen nachzudenken, die eben beschriebene Bedingungen gerecht werden. Der Deutsche Bühnenverein betreibt schon lange mit heiligem Ernst das Vorhaben, das Theatersystem in Deutschland unter Schutz zu stellen. Zum Stand der Dinge ein Zitat aus der FAZ vom 20.12.2016: „Neben der deutschen Brotkultur und der Flößerei, dem Spitzenklöppeln im Oberpfälzer Wald und der Schlachttradition in Ströbeck (Sachsen-Anhalt) steht auch der hessische Kratzputz im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland, dazu – seit 2014 – die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft. Dabei soll es nicht bleiben. Denn Deutschland möchte ebendiese Landschaft von der nationalen in die internationale UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes übertragen lassen.“ Selbst der so seriösen Zeitung gelang es nicht ganz, einen satirischen Unterton zu vermeiden: „Welche Folgen solch ein Listeneintrag hätte, wüsste man zu gern. Wären damit Theaterschließungen und Orchesterfusionen künftig nur noch zum Preis der Aberkennung des Welterbe-Status zu haben, ähnlich wie bei Brückenbauten an Sichtachsenstörstellen der Landschaft? Wird der Bestandserhalt künftig von einer freiwilligen zu einer Pflichtaufgabe?“
5. Trotz aller jüngst gemeldeten Überschüsse in öffentlichen Haushalten ist in nicht wenigen Kommunen und einigen Ländern die Haushaltslage angespannt, sind Verteilungsspielräume gering, herrscht ein hoher Konsolidierungsdruck.
Alles dies sind Umstände, die eine kulturpolitische Antwort verlangen. Es ist für die Sache gleichgültig, ob man diese Umstände mag oder ob man lieber in einer anderen Welt leben möchte: Diese Welt ist es, mit der wir umzugehen haben. Auch wenn sie neuerdings eine „postfaktische“ Fassade haben mag.
Vor diesem Hintergrund stellte ich die Frage, ob weiter die Form des Ensembletheaters der alleinige Gegenstand kulturpolitischen Strebens in der Theaterförderung sein soll oder ob dort, wo die Krise am härtesten greift, institutionelle Alternativen gedacht werden können (oder müssen), um weiterhin Theater an den entsprechenden Orten möglich zu machen. Es schloss sich eine Darstellung an, wie das System öffentlicher Theater und wie die Kulturpolitik mit dem Veränderungsdruck umgeht. Und diese Darstellung macht deutlich, dass Veränderung ein voraussetzungsreiches und anspruchsvolles Geschehen ist.
Mein Aufsatz enthält keine kulturpolitische Forderung, sondern den Hinweis darauf, dass Kulturpolitik gefordert ist und worin die Herausforderungen bestehen. Er enthält kein zynisches Plädoyer, die Verelendung von Künstlern zu betreiben (die findet ohnehin statt), keine moralische Bewertung der Digitalisierung, auch keinen Wunsch, dass nun ein anderes Modell das Ensembletheater ablösen solle. Solche Entscheidungen zu treffen, bleibt Sache der Kulturpolitik. Sie soll wissen, welche Alternativen denkbar und machbar sind.
Der Aufsatz von Christian Rakow erörtert einige Argumente, warum man kulturpolitisch das Ensembletheater weiter als Form favorisieren kann. Das sind gute Argumente, aber noch keine Antworten, wie mit den oben genannten Herausforderungen umzugehen wäre. Am liebsten wäre ihm, würden die kulturpolitischen Fragen nicht gestellt: „… man kann Kombattanten wie Dieter Haselbach nur wünschen, dass sie den Schritt vom Bilanzwesen zurück ins Theater finden.“ --- Gut geschnurrt, Kätzchen!
Und dann war da noch die Sache mit dem „espressotrinkende[n] Zuschauer im Foyer“, über den Haselbach „witzelt“: Zugegeben, ein Scherz. Dass Kultur eigentlich gar nichts koste, weil Umwegrentabilität die „Investitionen“ in den Sektor immer wieder in die öffentlichen Kassen zurückspüle, ist nicht meine Erfindung, sondern wird mit heiligem Ernst in den Lobbys der Kulturpolitik gebetet. Wo geglaubt wird, ist Ironie nicht angebracht. Das hatte ich nicht bedacht.
Falls Sie aber diese Interessen einem Gegenversuch auszusetzen bereit sind, lade ich Sie hiermit sehr ernsthaft und aufrichtig zu einem zweiwöchigen Praktikum im Thalia Theater ein. Eine schöne Chance, mit einem einzigen Nachteil: es wäre nicht bezahlt. Ansonsten: herzlich willkommen.
Joachim lux
Der zitierte Kulturfinanzbericht setzt im Jahr 2011 auf. Die Gesamtausgaben für Kultur von Bund, Ländern, Gemeinden wird mit 9,4 Mrd. EUR angegeben, das BIP 2011 waren 2570 Mrd., der Prozentsatz 0,36% des BIP stimmt also.
Der Verteidigungsetat für 2011 war 31,55 Mrd. EUR (wikipedia), und damit 1,23% des BIP. Hört sich gleich nach nicht mehr soviel an. Da Sie aber von 'Krieg und Frieden. erschreckend, aber wahr' sprechen, und ich jetzt mal mal verwegen behaupte, daß sonstige Leistungen Deutschlands, vom Sozialetat über öffentliche Investition bis hin zur privaten Wirtschaftsleistung, was halt so im BIP steckt, eher im Bereich 'Frieden' anzuordnen ist, haben wir doch immerhin 98,7% Frieden. Freude!
Unerfreulich wird's, wenn man die Personalkosten ansieht: im Bericht wird die Zahl der Kulturschaffenden mit 492.000 angegeben, das Durchsschnittsjahreseinkommen (der KSK-Versicherten) mit 14.992 EUR. Hochgerechnet ergibt das auf alle Kulturschaffenden in Summe 7,38 Mrd., das wäre dann allerdings Arbeitnehmerbrutto, der Gesamtbetrag müsste also eigentlich deutlich höher liegen, weil ja festangestellte Mitarbeiter (z.B. in Theatern) nicht über KSK versichert sind und vermutlich im Schnitt auch über 15 TEUR im Jahr verdienen.
Die Personalausgaben im Verteidigungsetat 2011 betragen 16,53 Mrd. (also ungefähr die Hälfte des Etats), zivile und militärische Mitarbeiter waren 296.000. Das ergibt dann grob 56 TEUR pro Nase (inkl. damals noch Wehrpflichtige), Arbeitgeberbrutto vermutlich, aber wer weiß, was da an Pensionen noch fehlt.
Etwas zugespitzt: fast alles Geld im Kulturbereich geht ins Personal, und wenn man gut verdienen möchte, geht man besser zur Armee.
@8, 15: hier ist m.E. der Begriff von Livestreaming zu beschränkt gefasst. Wenn man Theater-livestream allein mit Theaterfernsehen oder, noch schlimmer, mit Theater-Youtubing gleichsetzt, würde ich ja zustimmen: grässlich. Deshalb finde ich ja die Analyse wichtig: welche Komponenten braucht es? Gemeinsames Luftatmen oder gemeinsames Erleben? Live oder Konserve? Feedback? Wenn man an diesen Komplexen arbeitet, muß Livestreaming keine Sackgasse sein oder bleiben.
Letztlich also auch @12: interessante Entwicklung, und es gibt immerhin die Punkte des Livespiels und gemeinsamen Rezipierens. Aber dann doch Theaterfernsehen de luxe, und soweit ich weiß auch vor allem (von den Zuschauerzahlen her) Oper/ette und Balett, Musiktheater also, das sich, siehe Rakow, schon lange gut konservieren lässt.
Daher hilft ein Beitrag wie #4, der sich damit auseinandersetzt, was es braucht und was nicht klappt. Ich stimme bezüglich der Einschätzung der Arbeit von Voges in Dortmund zu, 'selbstbestimmte Unterhaltung des Zuschauers': gefällt mir.
Um die Zukunft der Bundeswehr müssen wir, wie Sie darlegen, nicht mehr Sorge tragen:
"Die Rekruten." Webserie. Herstellungskosten:8 Mio.€. Quelle:https://www.youtube.com/watch?v=PTaTJezeuDo Offizieller Trailer 2016.
Um die Zukunftsfähigkeit der Stadttheater zu bewerben, könnte der Deutsche Bühnenverein in dieser Richtung ruhig einmal tätig werden, oder?
ich muss und möchte herrn rakows klugen essay verteidigen. und mir ist sehr daran gelegen ist, Ihre argumentation zu entkräften, zumal Sie eben nicht nur bestandsaufnahmen publizieren, sondern sehr unwirtliche vorschläge machen.
zum ensembletheater gibt es tatsächlich keine alternative. das ist der kern unseres theatersystems. mit Ihrem vorschlag, dieses abzuschaffen, schlagen Sie auch vor, das theatersystem im kern abzuschaffen und aus den bestehenden theatern bespielhäuser zu machen, die lediglich dem abspielen vorproduzierter aufführungen dienen.
mit dem derzeitigen theatersystem hat dies aus mehreren gründen nichts zu tun. der triftigste: der produktionsprozess von stücken ist einer der beiden wesentlichen kerne des theaters - neben den aufführungen.
es wäre so, als müssten museen auf eigene sammlungen und ankäufe verzichten, und sich nur noch auf das zeigen von ausstellungen kaprizieren. wanderausstellungen sozusagen, die Ihrem liberalen verständnis zu folge, über den globus streunen, und nicht mehr verankert sind.
theater benötigen ihre ensembles aber nicht nur zum produzieren von neuen stücken, opern, tanzabenden, sondern auch zur entwicklung der künstlerischen arbeit und der formensprache. hinzu kommt die verankerung in einer community. sei es das ensemble der volksbühne oder des gorkitheaters, die in berlin ein bestimmtes publikum fest an ein haus binden, oder seien es die theater in den regionen, in denen die künstler leben, ihre kinder in schulen bringen, in denen sie einkaufen und zum arzt gehen, in denen sie leben.
ein ensemble hat auch ein kulturelles gedächtnis. es transportiert die erfahrungen aller in einer intendanzperdiode und darüber hinaus gemachten künstlerischen entwicklungen. das repertoire ist, wenn Sie mir den vergleich erlauben, teil der sammlung, oder teil des archives, über das ein theater verfügt. christian rakow erinnert an meinen vorschlag, das repertoire-system zu überdenken und aufführungen, zum beispiel mit vielen gästen oder langen auf- und umbauten, einige wenige tage (4-5) im stagione system zu spielen. aber ich schlage lediglich vor, klassisches repertoire mit einzelnen dieser stagione-aufführungen zu mischen. was nicht heissen soll, das sehr kostbare repertoire-system abzuschaffen.
aber dort - und jetzt komme ich zu den vorschlägen, wo die überproduktion überhand nimmt, muss man über solche veränderungen nachdenken, jedoch ohne das ensemble in frage zu stellen.
und ja, es gibt die unterfinanzierung, aber das ist kein problem der theater, sondern der kulturpolitik, die aus legitimationsgründen nicht in der lage ist, sich gegen die anderen ressorts durchzusetzen. oder die nicht ausreichend informiert ist über die minderfinanzierung der personalhaushälte und die schlechte bezahlung vor allem der schauspieler und assistenten, wie zuletzt mehrfach deutlich wurde in den gesprächen zwischen schauspielern und ihren abgeordneten vor ort (im rahmen der initiative des ensemble-netzwerkes).
lieber Herr haselbach, wenn Sie schreiben, es gibt keine vorschläge, dann halten Sie die leser zum narren. natürlich gibt es vorschläge. zuletzt auf dem symposium in der akademie der künste haben wir darüber gesprochen, wie wichtig es ist, über eine verbesserte mitbestimmung der schauspieler, sänger und tänzer nachzudenken, wie auch über neue leitungssysteme, weil ein kopf an der spitze eines so diversifizierten institutes, wie es ein theater ist, nicht mehr ausreicht, und dessen verantwortung auf viele schultern, am besten auf ein direktorium verteilt werden muss. und, und, und...
ich möchte Sie an Ihre mitverantwortung erinnern, die Sie als wissenschaftler und berater auch für das theatersystem haben. eine landschaft aus mehrheitlich bespieltheatern und wenigen häusern, die noch produzieren und ein eigenes ensemble haben, wäre eine sehr düstere dystopie.
könnten sie mich jetzt sehen, sähen sie einen tief bekümmerten Menschen. Niemand, der ernsthaft über das Theater nachdenkt, will einfach das Ensemble zerschlagen. Aber man muss sich der drängenden Frage stellen, ob die Ensemble, in ihrer heutigen Verfasstheit, die Stadtgesellschaft überhaupt noch repräsentieren können?
Der Begriff stammt, Ihnen muss ich das nicht sagen, aus einer Zeit vor dem Naturalismus, als es noch feste Rollenfächer für Schauspieler gab. Und tatsächlich konnten diese Rollenfächer Familien- und Menschenbilder beinahe komplett repräsentieren. Heute, in einer globalisierten und sehr stark ausdifferenzierten Gesellschaft ist dies ungleich schwerer.
Sie selber nennen das Beispiel Gorki. Da hat sich eine gesellschaftliche Gruppe ihre Repräsentanz im Ensemble erstritten. Jedoch kam der Impuls wiederum aus der freien Szene aus Kreuzberg. Die Ensemble selber waren wieder einmal nicht in der Lage sich aus sich selber heraus zu reformieren.
Aber was denken sie denn, wie viele gesellschaftliche Gruppen es noch gibt, die in den Stadttheaterensemble kaum oder gar nicht abgebildet werden?! Und würde ein Ensemble denn wirklich reichen, um eine gesamte Stadtgesellschaft abbilden zu können? Zumal die Ensemble im allgemeinen mittlerweile so arg reduziert sind, sie können an sich nicht einmal mehr ihren eigenen Berufsstand repräsentieren, denken wir beispielsweise an die acht verbliebenen Schauspieler in Wuppertal.
Wie groß muss ein Ensemble eigentlich sein, um eine Stadtgesellschaft repräsentieren zu können? Und reicht es überhaupt aus nur eine „Stadtgesellschaft“ zu repräsentieren, in Zeiten des Internets? Gehen die Bedürfnisse Darsteller zu sehen nicht weit über die Stadtgesellschaft hinaus?
Wie wollen sie mit dem jetzigen Status von Ensembles Gesellschaft vollständig abbilden, wie es zu Zeiten der Rollenfächer und des traditionellen Repertoires noch einigermaßen möglich war? - Da kommt man dann recht schnell zu der Überlegung, dass ein Ensemble in einer Stadt nicht ausreicht. Und, dass man stattdessen verschieden diversifizierte Theatertruppen benötigt, um eine offene Gesellschaft in ihrer Komplexität in einem Stadttheater abzubilden.
sofern Theater Ihre Produktion (Werkstätten) nicht schon ausgelagert haben, sind sie etwas ganz Gängiges: ein Produktionsbetrieb. Ein Blick darauf, wie viele ständige Beschäftigte die Theater durchschnittlich in Abhängigkeit von Ihrer Größe und der Anzahl der Sparten haben, würde genügen, um zu wissen, dass die Theater vielfach große Arbeitgeber in ihren jeweiligen Region sind. Und dies nicht zum Hauptteil in der "Kunst", sondern zum Hauptteil in Technik und Verwaltung. Ja genau, hier, im personalkostenintensiven Teil, soll eingespart werden. Dann würde ich mich aber freuen, wenn die Diskussion so geführt werden könnte, wie in anderen Bereichen der verarbeitenden Industrie auch - Theater stellen auch Güter her, sie haben nur keinen Gebrauchswert - nämlich: kann die Produktion gehalten werden oder müssen Arbeitsplätze abgebaut werden. Denn genau darum geht es. Die Entlassungen, die dann ja vor allem in der Technik zum tragen kämen, schau ich mir gerne an. Hier vor allem die Reaktion darauf aus den machtvollen Gewerkschaften in diesem Bereich. Die Diskussion lässt sich unheimlich leicht führen, wenn die verwendeten Begriffe aus der Kunst kommen: Ensemble, Repertoire, Ensuite etc.. Das Kunstgut ohne Gebrauchswert ist immer in Rechtfertigungsnot. Dahinter steht aber schlicht und einfach der Abbau von Stellen. Die im Bestfall andernorts aufgefangen werden müssen. Was ich beim besten Willen in Ihren angeführten Punkten nicht finden kann, sind betriebswirtschaftliche Argumente. Denn da dürfte die Fixkostendegression als Proargument für Ensemble- und Repertoirebetrieb nicht fehlen. Und es müssten tatsächliche Auslastungsvergleiche zwischen Repertoire- und Ensuitesystem gemacht werden. Es ist ja nicht so, dass es Zweiteres nicht gäbe. Ich glaube, dass das Repertoire-System zu besseren durchschnittlichen Auslastungen führt. Aus mehrerlei Gründen. Die Erwähnung ausgerechnet der MET für den Bereich der digitalisierten Übertragung ist ein gezielt populistisches Argument. Wenn es Ihnen ernsthaft wäre, würden Sie die wahren Gründe nennen: die exorbitanten Kartenpreise.
@12. Sehr geehrter Dieter Haselbach, nun sagen Sie, dass Sie gar keine kulturpolitischen Überlegungen anstellen wollen, sondern lediglich den Rechenschieber bedienen. Das sei Ihnen unbenommen. Allerdings halte ich die Botschaft, dass ein Gastspielsystem kostengünstiger als ein Ensemble-und Repertoiresystem ist, dann doch für etwas schlank. Ich schlage die Gegenfrage vor: Was gewinnen wir mit diesem fraglos teureren System? Eine Menge, würde ich behaupten (siehe oben). Mein Aufsatz wurde geschrieben, weil ich Ihre Ausführungen bei kulturpolitischem Lichte betrachtet – und das scheint mir der einzige relevante Blickwinkel für eine öffentliche Auseinandersetzung über Kulturgüter – für defizitär halte. Denn sie verschließen sich den Nutzenerwägungen, die einer jeden Rechnung doch vorangehen sollten.
@7, @12, @22. Zum Reformbedarf des Systems: Nun hat sich Thomas Schmidt schon selbst zu Wort gemeldet, und es wirkt ein wenig klein, auf diese Frage jetzt mit dem Verweis auf Schmidts Studie "Theater, Krise und Reform" zu antworten. Ich mache es aber trotzdem. Denn mir scheint, dass hierin tatsächlich kultur-politische Überlegungen angestellt werden, die ökonomische Fragen nach dem Preis mit kulturalistischen Fragen nach dem Wert der künstlerischen Produktionsweisen zusammenbringen.
Das liest sich jetzt vielleicht etwas polemisch, aber mal ganz ehrlich liebe Redaktion und Leser, Kommentiere und so, dieses ganze Positionieren und von Außen beschreiben instrumentalisiert diese Kommentierfunktion doch sehr.
nach meiner Kenntnis liegt das Ballhaus in Kreuzberg und ist der freien Szene zuzuordnen, und nichts anderes sagte ich, außer, dass der entscheidende Impuls für diese Art der Ensemblefindung aus der freien Szene kam. Nicht wahr ist, dass lediglich die Leitung aus dem Ballhaus kam, denn Jens Hilje kam bekanntlich von der Schaubühne. Wie weit Schauspieler übernommen wurden, ich nenne nur einmal Sezede Terziyan, können sie ja gerne noch einmal überprüfen. Vielleicht recherchieren und denken sie erst einmal ein wenig nach, bevor sie hier schreiben. Mir ist dann meine Zeit doch ein wenig zu schade, um auf eine solch unbegründete Polemik wirklich einzugehen. Wahlweise können sie ja auch einmal erklären, wie sich Gesellschaft im Ensemble abbilden sollte, oder einfach mal darstellen, was sich historisch im Übergang zum Naturalismus im Ensemble veränderte.
Ich habe Ihre Antwort auf Entlassungen schon in einem Interview mit der WZ vom 14.03.12 gefunden.
Kürzungen führen zu Massenentlassungen etwa in Theatern, warnt der Bühnenverein. Haben Sie das bedacht?
Haselbach: Man darf nicht davon ausgehen, dass Kulturangebote schon dadurch gerechtfertigt sind, dass sie Beschäftigung schaffen. Da gibt es möglicherweise effizientere Programme. Kultur ist kein Beschäftigungsprogramm.
So. Kultur ist kein Beschäftigungsprogramm. Wenn jetzt einige der deutschen "Industrieflaggschiffe", suchen Sie sich welche aus, in Bereichen ihre Produktion einstellen müssten - sie ist unrentabel, durch den Automatisierungsprozess können Stellen abgebaut werden - und adhoc 10.000 Stellen abgebaut würden, was wäre dann los?? Kein einziger Arbeitgebervertreter könnte es sich leisten zu sagen: Industrie ist kein Beschäftigungsprogramm. Aber in der Kultur geht das natürlich. Weil? Sie ist verbliebenes Steckpferd für das Bürgertum? Ein Wahnwitz linker Weltverbesserungsbildungsauftragsfanatiker? Und weil das so ist, kann man auf die Menschen dahinter, die ihren Lebensunterhalt verlieren, so quasi verzichten. Weil ein Schauspieler ist weniger Wert, als ein Industriearbeiter? Sein Beruf ist kein Beruf, sondern abgehobenes Hobby? Da ist ja schon fast schön, dass das Berufshobbyparadigma dann auch für die Techniker und die Verwaltung im Theater gilt. Die Zahl 10.0000 kommt übrigens raus, wenn ich 50 Theater hernehme a 200 Beschäftigter. Wobei es wären ja dann mehr als 50 Theater von Schließungen betroffen oder? Dass massenhaft Theater "unrentabel" geworden sind, weil ihre Auslastung gegen Null geht oder zumindest die 50% Prozentmarke nicht erreicht - ich weiß nicht, was hierfür Ihr Maßstab ist - , müssen Sie erst belegen. Und kommen Sie bei der Rentabiltätsfrage bitte nicht mit Eigenmitteldeckung. Wir wissen, dass sie maximal bei 30% liegt. Oder sollen wir 400 pro Karte zahlen? Wollen Sie das. Theater für einige wenige?
"Die heutige Forschung geht davon aus, dass der Ursprung schauspielerischer Betätigung in Riten liegt, mit denen die vorgeschichtlichen Menschen überlebenswichtige Handlungen (z. B. bei der Jagd) und erwünschte soziale Verhaltensweisen nachahmend einübten oder als unbeherrschbar erlebte Naturkräfte durch Verkörperungen (Dämonen, Götter) zu beschwören versuchten. Auch Fundstücke wie Masken und Zeichnungen sowie ethnologische Beobachtungen weisen auf Zusammenhänge zu Tieren bzw. essentiellen Naturvorgängen (Sonnenlauf, Niederschlag, Fruchtbarkeit usw.) hin. Auf dieser Grundlage lässt sich Schauspielen als eine anthropologische Grundkonstante begreifen."
Quelle:https://de.wikipedia.org/wiki/Schauspieler
Was gilt davon heute noch und in Zukunft?
in den Jahren von 1962 bis 1973 arbeiteten in Bremen über zweihundert Schauspieler. Heute werden im festen Ensemble noch neunzehn Darsteller genannt. Hinzu kommen etwa elf Gäste.
Wenn eine Struktur Schauspieler und Schauspielerinnen systematisch in das Prekariat entlassen hat, dann war es das Intendantensystem der Stadttheater in den letzten zwei Jahrzehnten. Geht man davon aus, dass die hundertfünfzig staatlich finanzierten Theater alle ihre Ensembles halbiert haben und im Schnitt etwa zwanzig Schauspieler entlassen haben, dann kommt man auf die beachtliche Zahl von dreitausend entlassenen Darstellern und Darstellerinnen. Ich gehe davon aus, dass die Zahl noch höher liegt.
Tausende Künstler wurden in die Arbeitslosigkeit entlassen. Zahlen nennt keiner.
Die Situation, die sie herauf beschwören, ist längst erreicht. Und verantwortlich hierfür ist auch das stehende Stadttheater, weil es diesen schleichenden Schwund mit getragen hat. Jetzt, meint man, sei eine Situation erreicht, die keine weiteren Einsparungen mehr zu ließe. Bis dahin hat man Tausende Opfer akzeptiert, über die heute keiner mehr redet.
Und ja, Herr Rakow, die jetzige Mitbestimmungsbewegung möchte die Struktur lediglich reformieren und nicht überwinden, die Struktur, welche schon die Mehrheit der Künstler ins Prekariat gedrängt hat.
Ebenso hinterfragt diese Bewegung das Intendantensystem und will es verantwortlich machen.
Es ist nun müßig die Verantwortung ständig zwischen Kulturpolitik und Leitung hin und her zu schieben, letztendlich hat man immer zu „gemeinsam“ diesen Abbau beschlossen. Und, diese Ensemble wurden von Intendanten zusammengestellt. Es war keine emanzipierte Ensemblebildung. Wenn man also das Intendantensystem in Frage stellt, muss man auch die Ensembles kritisch befragen dürfen, die von Intendanten und Intendantinnen gebildet wurden. Das eine geht nicht ohne das andere. Denn diese Ensembles sind noch weit davon entfernt auch die Interessen der Kollegen mit zu vertreten, die schon längst vom Stadttheater ausgeschlossen wurden.
Viele Fragen bleiben auch bei dem Modell eines Direktoriums völlig offen. Werden demnächst Ensembles von fünf Direktoren engagiert? Und welche Kriterien bringt ein Geschäftsführer oder technischer Leiter ein, wenn er Künstler engagiert? Stimmt das Direktorium über Engagements ab? Und wie sieht es mit Kündigungen aus? Wer spricht die aus? Bin ich gekündigt, wenn ich zwei von fünf Direktoren gegen mich habe?
Ich könnte den Fragenkatalog erweitern. Aber ich möchte hier zunächst inne halten. Denn meine Hauptfrage bleibt: Welches Modell ist in der Lage wieder möglichst viele Künstler in die Theater zurückzuholen?!
Und da finde ich auch bei dem Direktoren-Modell zunächst keine Antworten. Es ist natürlich legitim, dass Darsteller, die unter Vertrag stehen, ihren Arbeitsplatz schützen wollen und für mehr Planungssicherheit und Gerechtigkeit kämpfen. Vor einer prekären Situation schützen kann es aber nur die Kollegen, die noch im Engagement sind. Und die sind eventuell schon in der Minderzahl.
Die Situation, die alle befürchten, sie ist längst Alltag für viele.
3000 Schauspieler. Vielleicht hat sich einfach gesellschaftliches Interesse, ein Kulturbegriff verändert? Wieviele Arbeitsplätze, auch für Schauspieler, denken Sie sind dann gegenüber 1970 beim Fernsehen geschaffen worden? Zu dem Zeitpunkt gab es noch drei Programme, keine Daily Soaps, keine 24h Dauerprogramm.
Herr Rakow hat in seinem Artikel ganz gut den Facettenreichtum und auch die Innovationsfähigkeit und den Lokalbezug, damit die Relevanz des Stadttheaters beschrieben. Wenn wir die Zahlen- und Effizienzdiskussion führen (die Gesellschaft und Politik natürlich auch führen muß!), sind wir schnell auch bei den Themen von Herrn Haselbach, und da bringt die Erinnerung an die 70er Jahre NICHTS, ist sogar kontraproduktiv.
3000 Schauspieler. Wo sind die Gewerkschaften, wo ist der sit-, der die-in des ensemble netzwerks?
Nee, anders: wer ist eigentlich die gewerkschaftliche Vertretung der deutschen Youtuber? Gibt es ein snapchat-Netzwerk zur Durchsetzung von geregelten Arbeitszeiten (und Rechtschreibregeln...)?
Reden wir hier (im Internet, verdammich) ernsthaft darüber, wo man vor 40 Jahren hätte anders steuern müssen?
ich habe tatsächlich soweit in die Geschichte zurückgeschaut, fast bis zu meinem Geburtsjahrs?! Danke das Sie mich darauf aufmerksam machen! Das hätte mir wirklich nicht passieren dürfen. Ich entschuldige mich bei Ihnen!
Das Theater wird also ganz natürlich fortgesetzt in Daily Soaps, bei Snapchat und Youtube?! Wie konnte mir das entgehen?! Hoppla ich schreibe ja gerade im Internet! Gibt es da tatsächlich auch noch andere Plattformen als diese?!
Doch. Gibt es. Und sie ersetzen das analoge Theater nicht. Dummerweise habe ich persönlich Arbeitserfahrungen im Bereich Telenovela und im Theater. Und ich kann Ihnen persönlich versichern, das Eine kann das Andere nicht ersetzen.
Und ja, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, hier wird eigentlich schon seit Jahren über den Abbau im Theater geredet. Was hat Sie nur auf eine so langweilige Seite wie Nachtkritik getrieben, wo so öde „Nostalgiker“ wie ich schreiben.
Schauen Sie doch einfach mal rechts und links. Da gibt es so schöne andere Dinge. Da kann man sich Katzenohren aufsetzen und ein wenig mit einer Fipsestimme selber Theater machen, mit seinem Smartphone und es direkt ins Netz setzen, wie uns Frau Slevogt heute versichern kann. Das sind also wirklich Ihre wahren Alternativen zum Theater?! Nutzen Sie sie. Und lassen Sie andere ernsthaft darüber reden, wie man die Lage dieser analogen Apparate, wie Theater verbessern könnte.
Sie haben ja so recht: Was sind schon 300 000tausend Textilarbeiter gegen nur 3000tausend Schauspieler?! Nichts! Sollen Sie doch alle untergehen und snapchatten. Dann ist die Welt doch wieder in Ordnung!!!
welches Modell ist in der Lage, wieder möglichst viele Künstler in die Theater zurückzuholen? Das Geld-Modell. Bitte nennen Sie mir einen anderen Grund als die Verminderung der staatlichen Zuschüsse, der Sparzwang, warum Ensembles verkleinert wurden. Welcher Intendant hat bitte gerne sein Ensemble verkleinert? Und die Art und Weise wie ein Direktorium organisiert ist, hat auf das Fördervolumen wirklich keinen Einfluss. Das eine hat mir der Art und Weise wie Entscheidungsfindung funktioniert zu tun und das andere damit, wie viele finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Und dass nicht jetzt schon technische Leiter Einfluss auf die Realisierbarkeit der Kunst hätten ... ha ha. Was mich am Beitrag Herrn Haselbachs stört ist, dass man ihm anmerkt, dass Halbwissen verbreitet wird und das womöglich auch noch Eingang in die politischen Entscheidungen findet. Herr Haselbach, falls Sie noch mit lesen, eine Kleinigkeit - ungern, aber es muss sein -: Abspieltermin ist am Theater die letzte Vorstellung bevor ein Stück abgesetzt wird, also vom Spielplan genommen wird. Ihre Formulierung müsste lauten "Je weniger Spieltermine/Vorstellungen pro Stück/Produktion, desto mehr Premieren.." Was so aber nicht stimmt. Was sie in ihrer Argumentation vollkommen ignorieren, ist das überaus wichtige Abo-System am Stadttheater. Überaus wichtig, weil Vorfinanzierung für's Theater und die Möglichkeit ein verfügbares Finanzvolumen (Ertragsvolumen) einzukalkulieren und zur Verfügung zu haben. Die Anzahl der Premieren richtet sich auch, mancherorts hauptsächlich, danach, wie die verschiedenen Abo-Kombinationen erfüllt und bedient werden können. Ihre Argument, dass das Theater mit seinen Vorstellungen sich am freien Markt behaupten muss, ja. Erschwerend kommt hinzu, dass der Planungshorizont sehr lange ist und man aufgrund - s. o. - der Abo-Verpflichtungen weniger Möglichkeit hat auf die tatsächliche Nachfrage des freien Verkaufes zu reagieren. Bespielhäuser bzw. Produktionshäuser gibt es schon. Sie können da gerne Rentabilitäts- Kostenvergleiche anstellen. Wenn Sie mal einen Blick auf das Theatertreffen in diesem Jahr werfen, dann sehen Sie, wie viele unterschiedliche Ko-Produzenten bei den Produktionen aus der freien Szene genannt sind. Warum? Weil dieses Produktionen wahrscheinlich einen ähnlich hohen finanziellen Aufwand haben, wie die Produktionen in einem Stadttheater. Kennzeichen der freien Szene ist aber: Produktion mit weniger finanziellen Mitteln bzw. kommunale, ländliche, städtische, staatliche Verwaltungseinheiten teilen sich den Förderaufwand - also fast schon Crowdfunding. Um dennoch aufwändiger produzieren zu können bedarf es mehrerer "Geldgeber", in diesen Fällen sogar aus unterschiedlichen Ländern. In ihrem Beispiel der Trennung von Ensemble und Theater, das eben genau auf dieses Modell hinausläuft, muss immer noch jemand produzieren und die dafür benötigten finanziellen Mittel aufbringen. Wenn alle Theater so organisiert sind, stellt das eine Kostenexplosion in der Verwaltung dar, weil die verschiedenen Förderanträge irgendwer bearbeiten muss. Herr Haselbach, ich würde Ihnen raten - ohne Ihnen oder Herrn Lux zu nahe treten zu wollen -, das Angebot von Herrn Lux anzunehmen, um einmal Einblick in den Theaterbetrieb zu bekommen. Er kann Ihnen das alles so erklären, wie es tatsächlich ist. Es ist sein tägliches Geschäft. Ich bin keine Intendantin. Nehmen Sie an, wer bekommt schon ein Angebot vom Thalia? Und, am Theater ist am Anfang immer alles unbezahlt. Mit dem Wissen können sie ihre überaus wichtige kommunale Beraterfunktion dann auch so ausführen, indem sie sich auf Tatsächlichkeiten berufen und nicht auf Annahmen und Mutmaßungen, die auf ihren Beobachtungen von außen gründen. Vieles sieht man von außen, vieles bleibt aber auch versteckt. Herzlichst.
Und noch weniger gerne bringe ich Herrn Haselbach gegen Sie in Stellung, aber in einem Punkt hat der Mann recht, ich zitiere:
1. So wie das System öffentlicher Theater derzeit organisiert ist, leidet es vielerorts unter massiver Unterfinanzierung. Statt einer langen Ableitung berufe ich mich der Einfachheit halber auf Titus Georgi von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er sagte der Berliner Zeitung am 30.8.2016 in einem Interview: "Die Politik wird die Theater nicht besser finanzieren, fürchte ich. Wie es weitergeht, wenn erst die Schuldenbremse greift in den Ländern, vermag ich gar nicht abzuschätzen. ... Viele Theater sind am Limit, halten dem Spardruck kaum mehr stand."
Das Geldmodell fällt also definitiv aus. Leider. Das ist der Stand der Diskussion. Gilt es also Modelle zu entwickeln, die mit dem verbliebenen Geld wieder mehr Schauspieler und Schauspielerinnen auf die Bühne stellen. Eines habe ich vorgeschlagen. Mir sind in der jetzigen historischen Situation zweihundert Schauspieler auf der Bühne wichtiger, als der Erhalt überholter Strukturen, und sie können so manches opulentes Bühnenbild ersetzen. Auch stören sie das Abo-System nicht, welches Sie anführen. Ich nenne jetzt mal ein paar der abendfüllenden Darsteller aus der Gruppe der zweihundert aus Bremen.
Margit Carstensen, Traugott Buhre, Bruno Ganz, Mechthild Grossmann, Vadim Glowna, Irm Herrmann, Günter Kaufmann, Hannelore Hoger, Jutta Lampe, Bernhard Minetti,...die Liste ist einfach beeindruckend, auch wenn man mal nur so quer drüber schaut. Und ich behaupte einmal, solche Talente bilden sich nur in einem großen Ensemble aus, und nicht in einem winzigen Ensemble, das tagtäglich für die Abonnenten durch das Repertoire getrieben wird, um es für die Zuschauer all zeit verfügbar zu machen.
Stellen Sie ein weiteres Modell vor, dass die Schauspieler vermehrt zurück ans Theater holen könnte. Aber pochen Sie nicht auf das „Geldmodell“. Es wird so schnell nicht wieder zurückkehren.
Christian Rakow sei die volle Reiskostenunterstützung als Theatertreffen-Juror gegönnt, zumal er sie gut angelegt hat, wie seinem Beitrag entnommen werden kann. Allerdings darf, wer als Perlentaucher durch die Lande reist, seine Zeit nicht damit vertun, die leeren Schalen zu zählen. Auch fürs Rosinenpicken steht sein Beitrag
Im Kontext des jährlichen Treffen beschäftigt sich das Theater mit sich selbst und misst sich an sich selbst, das kann eine abwechslungsreiche Wohltat sein, wenn das Künstliche im Mittelpunkt steht, und nicht die Anstrengung a la Bernd Stegemann zu „zeigen, wie kompliziert die Konflikte des Lebens sind“. Selbst wenn Stegemann meint, das Theater wolle nicht sportliche Höchstleistungen vorführen, im Wettbewerb um die Einladung werden Inszenierungen eben wie solche (künstlerisch-)sportlichen Höchstleistungen erlebt und können davon ablenken, dass auch das Theater keine Patentlösungen für die Konflikte des Lebens und der Welt weiß.
Die Theater unterliegen in der Mehrzahl nach wie vor hierarchischen Machtstrukturen, denen sich gerade Künstlerinnen ungern mehr aussetzen, die von Dramaturgen-Intendanten erdachten Spielpläne und ihre Umsetzungen gehen oft immer noch an den Zuschauern völlig vorbei - und, ja, es erhebt sich die Frage, ob die bürgerlichen Theaterkunsttempel des ausgehenden 19. Jahrhunderts wirklich die allein selig machende Theaterform sind in Deutschland.
So lange sich die Bürgerschaft (also simpel: die staatlichen Organe von Bundesstaat bis Kommune) weiterhin der Unterstützung von Kultur verpflichtet fühlen und nicht einfach das Geld weg sparen, lässt sich wenig gegen eine Überprüfung der bestehenden Strukturen sagen.
Es würde unter Umständen zu mehr Flexibilität führen, usw.
Ihre Ausführungen sind wirklich fundiert. Die Idee von Herrn Haselbach, dass freie Gruppen keine Infrastruktur brauchen um zu produzieren ist ja auch lachhaft. Alle freien Gruppen, die ich kenne, und die auf ein halbwegs professionelles künstlerischen Niveau gekommen sind, haben irgendwann eine eigene feste Infrastruktur geschaffen. (Proberäume, Studios mit Ausstattung, eigene Häuser). Das ist meine Erfahrung. Und das kostet genauso, wie an einem Stadtheater. Das zahlen dann die Koproduzenten, und die Gastspielhäuser mit.
Aber Herr Haselbach denkt da wohl an herumreisende Schauspieler-Truppen (Romantik pur!), die sommers auf der grünen Wiese proben. Und mit denen man die leerstehenden deutschen Veranstaltungs-Immobilien bespielen wird.
Und ab und zu bucht man für eine dieser verwaisten Veranstaltungs-Immobilien ein Massen-Event mit Superstar XY. Der reist dann aber auch mit seinen 10 Lastwagen Tour-Equipment an und verrechnet die ganze Chose.
Eine Ihrer vielen Gewissheiten ist: der Theaterabbau ist die Schuld der Intendanten und der Kulturpolitik. Das ist sicher nicht ganz verkehrt. Meine Frage aber ist: warum ist das so? Und da ist meine These, meine Vermutung: es liegt nicht an Böswilligkeit oder Inkompetenz, ja es liegt nicht mal an mangelndem Geld. Meiner Ansicht ist ein Grundfehler vieler derzeit, auch in der (internationalen) Politik, von der Welt als 'Nullsummenspiel' auszugehen: was der eine hat, wurde dem anderen weggenommen.
Das Geld ist da (und es kann auch jederzeit zurückkehren ins Theater!), aber es kommt aber derzeit nicht dem (Stadt-)Theater zugute, weil es a) nicht seinen eigenen Markt schafft, konsumierbar, niedrigschwellig, selbstfinanzierend ist und b) es nur von einer relativ kleinen Gruppe als gesellschaftlich relevant wahrgenommen wird und man es sich in der Nische 'Theater muss sein, wir brauchen öffentliche Förderung, anders geht's ja nicht' eingerichtet hat. Diese Nische aber ist gefährlich, weil dort Stadttheater nur reagieren kann, abhängig ist von den Entscheidungen anderer. Die Kommunalhaushalte zu verwalten haben und viele hungrige Mäuler stopfen müssen. Da kommen dann Sie und Herr Haselbach, und stellen 'Lösungen' für dieses sehr eingeschränkte Szenario vor.
Mir gefällt an dem Beitrag von Herrn Rakow, daß er einige potentielle Stärken der Stadttheater in ihrer ganzen Breite zeigt. Die Liste ist nicht vollständig. Theater als IDEE ist unverwüstlich, und natürlich ersetzt Fernsehen oder Youtube das analoge Theater nicht. Aber beides kommt aus ihm. Das Buch, als IDEE, hat den Übergang von Tontafel, Schriftrolle zum Druckerzeugnis, zum ebook überstanden. Vielleicht lesen morgen die Menschen keine Hardcoverbücher mehr. Vielleicht findet sich dann der politische Wille unter dem Label 'Buch muß sein' lediglich die Konservierung von Hardcoverbüchern öffentlich zu finanzieren.
Mir sind Theaterleute wie Herr Voges sympatisch, der gerade in einem Radiointerview erläutert hat, wie er und sein Team die Möglichkeiten von Stadttheater zum mutigen Experimentieren und Scheitern nutzt. Er hat ein Ensemble und er hat neue Leute eingestellt, Videokünstler, Programmierer. Er fährt nach vorne.
Sie hingegen leben auf dem Planeten der Gewissheiten. "Lassen Sie andere ernsthaft reden..." Wenn wir nur die ganzen Schauspieler noch in Bremen auf der Bühne hätten, dann wird theatre great again. Aber ihre Nostalgie sei Ihnen gegönnt. Jedem seinen Biermichel.
Das Geld sei also dar und könne jederzeit wiederkehren! Wie soll es bitte ihrer Ansicht nach wiederkehren. Erklären sie uns das bitte ganz genau! Denn dann ist eines der wesentlichen Probleme gelöst.
Darüber hinaus, in einer Nische wird Theater immer sein, es kann nie „niedrigschwellig“ werden, da man, um es wahrnehmen und genießen zu können, nicht voraussetzungslos an ihm teilnehmen kann.
Aber bitte, hätten sie sich auch nur ein bisschen mit meinem Modell befasst, würden sie wissen, dass auch ich nach vorne denke und versuche mit der gegebenen Situation umzugehen. Mehr aus dem noch Vorhandenem zu machen.
Aber bitte erklären Sie uns zunächst, wie das Geld im voll benötigtem Umfang wieder zurückkehrt zum Theater.
Ich will ganz unbedingt zu einem, von öffentlicher Hand finanzierten (nicht subventionierten) Stadttheater, das vor Ort produziert und sich durchaus auch als stadtaktivierendes Instrument versteht. Theater ist aus sich selbst heraus eine regionale Veranstaltung, egal, wie die Frage der Institution und Finanzierung dahinter definiert ist. Es dient der Befragung und Vergewisserung einer Gesellschaft von sich selbst, und zwar nicht von der Gesellschaft im allgemeinen, sondern ganz konkreter Stadt- und Regionalgesellschaften. Sie müssen auf allen sinnlichen Ebenen erlebbar sein. Zum Livemoment gehört eine Vertrautheit mit dem Medium und seinen Bedingungen, um ihn wirklich fruchtbar zu machen. Die Vertrauenskrise, durch die die Demokratie im Moment geht, ist hierzulande zuallererst eine Partizipations- und eine Identifikationskrise. Eine Gesellschaft, die nichts mehr von sich und ihren Teilen weiss, kann nur noch auseinanderfallen. Eine Gesellschaft, die ich nicht verstehe und die mich nicht mitmachen lässt, für die fühle ich mich nicht mehr verantwortlich. Wir brauchen mehr kommunale/regionale Strukturen, die hier Möglichkeiten der Erkenntnis, der Partizipation, der Auseinandersetzung bieten. Theater ist ganz grundsätzlich genau so eine Struktur! Das heisst für mich aber auch, dass Theater ihre Berührungsängste verlieren müssen. Der Kunstanspruch stirbt nicht automatisch, wenn er auf soziokulturelle Ideen trifft. Die Theater müssen politisch und künstlerisch auf kommunaler und übergeordneter Ebene Haltung und Aufgaben annehmen, sich öffnen für Künstler aller Art, aber auch für Stadt-/Regionalentwicklung. Kulturpolitik muss sich wieder profilieren und wissen, für welche Kommune sie welche Strukturen verhandelt. Kulturkritik muss Kriterien und eine Sprache finden, die solche Prozesse und die daraus folgenden neueren Theaterformen, auch in kleinen Kommunen, gut begleitet. Der Streit zwischen Theatern, Kulturpolitik und Gesellschaft/potentiellem Publikum darf nicht weg moderiert werden, sondern muss mit Anspruch auf Relevanz laut geführt werden, damit die ewigen Erpressbarkeiten endlich ein Ende haben. Wenn manche Intendanten bei der Theatererusion der letzten Jahre etwas vorzuwerfen ist, dann, dass sie zu lange auf Ausgleich, anstatt auf klug geführten öffentlichen Streit gesetzt haben. Darauf hat die Öffentlichkeit nämlich ein Recht: zu wissen, was geht. Und wenn sie dann nicht reagiert, dann ist das eben so. Dann müssen wir aber auch nicht mehr spekulieren und über Jahre die Glaubwürdigkeit des Theaters gegenüber seinen Mitarbeitern und dem Publikum aufs Spiel setzen.
Ich behaupte, daß für die IDEE von Theater, die sich in vielem wiederfindet, genug Geld vorhanden ist. Ich würde hier auf Produktionsbudgets für Unterhaltung verweisen, auf Erzähltechniken in Computerspielen, auf Theatergruppen, die sich in Onlinespielen gebildet haben. Es gibt viele Beispiele, mich interessiert in diesem Zusammenhang die Weiterentwicklung von livestream. Ich glaube, daß die Sehnsucht nach Theater bei vielen, vielleicht allen Menschen da ist. Sie wissen es nur nicht.
Die Debatte sollte sich meiner Meinung nach darum drehen, wie man diese Sehnsucht befriedigt, wie man sie lokal, in Stadttheatern befriedigt. Wie das gehen wird, weiß ich nicht, aber ich wohne ja auch nicht auf dem Planeten der Gewissheiten. Ich vermute, daß man dafür mutig, offen und ideenreich sein muß.
Ich bin im Übrigen mit Voxi in den Kindergarten gegangen, tut das was zur Sache? Ihr Diskussionsstil ist unlauter, 'niedrigschwellig' heißt nicht 'voraussetzungslos', z.B.
aus Sicht der Kunst ist das, was sie dort sagen leider auch Unfug. Theater ist auch eine regionale Veranstaltung, kann aber ebenso überregional agieren, denn erst dadurch, dass die Theater sich an die klammen Komunen so stark haben binden lassen, müssen sie wohl auch mit ihnen untergehen. Die Vereinnahmung durch soziokulturelle Überlegungen ist ein Teil des Problems.
In erster Linie brauchen Künstler eine Finanzierung, die sie nicht erpressbar macht.
Es hilft nicht, die Schuld immer bei den anderen zu suchen.
Erinnern wir uns bitte an die Geschichte der modernen Künste seit Rimbaud, und wagen die Negativität.
@VergleichendLESEN: Ja, mehr Ideen und weniger Denkschablonen könnten helfen!
Sich als großes Staatstheater hinter seinem Etat zu verschanzen, und wie ein Kaninchen keinen Laut zu sagen, während andere sich die Zunge verbrennen (müssen), ist übrigens eher schwach. Wer nie gelernt hat laut zu sein, wird schweigen.
Was nicht heißen soll, dass das Theater ins Soziokulturelle hinüberschwappen sollte? Warum? Das macht keinen Sinn, ist für die Weiterentwicklung der Genres eher hinderlich.
Das Theater hat die Aufgabe, der Welt eine Welt entgegenzusetzen. Das klingt nostalgisch, ist es aber nicht. Denn ich schließe in diese Aufgabe das dokumentarische, das post-dramatische und das nicht-mimetische Theater mit ein, das am Ende doch immer Theater ist, und dazu beiträgt, das Genre weiter zu entwickeln.
Denn das ist die zweite große Aufgabe.
Und die dritte ist deutlich konkreter, den Herrschenden (Verhältnissen) einen Spiegel vor die Fratze zu halten. Was das bedeutet? Lesen Sie Shakespeare, Moliere, Handke, Beckett, Lotz, Jelinek, Müller,...
Autoren, die das nicht können, haben auf dem Theater nichts verloren, ebenso wenig wie Regisseure, die nicht nach diesen Stoffen suchen.
Das ist die politische Aufgabe.
Also, niemals sollte das Theater sich unterwerfen, da gebe ich S. Ullrich recht. Zähne zeigen und Gedanken.
Wer mutig ist, dem wird weniger genommen.
Deshalb sollten sich alle zu formulierenden Reformkonzepte mit diesen drei Aufgaben/Prämissen des Theaters auseinander setzen.
Und dorthin muss das Theater so kompromisslos wie möglich zurück. Die geschlossenen Veranstaltungen der Berliner Bühnenvereine um 1900 - haben funktioniert. Das Theater Reinhardts, das Brechts und Piscators, Steins, Fassbinders, Palitzschs, Castorffs, Schlingensiefs, Polleschs und She She Pops (hat) funktioniert.
Warum sollte es jetzt nicht weiter gehen? Vielleicht entsteht gerade an einem dt. Theater oder mit einer freien Gruppe etwas Neues. Oder erst in fünf oder zehn Jahren. Das vergangene Jahrhundert war voll von Ausnahme Erscheinungen des Theaters, und wird es auch im kommenden Jahrhundert sein.
Die Vorzeichen verändern sich ständig. Gutes Theater bleibt.
Ulrike H.: Sie haben natürlich vollkommen recht, das einzige, das ich dem entgegenzusetzen habe, wäre, dass ich aus Gesprächen mit engen Politker-Mitarbeitern, die ich befragt habe danach, erfuhr, dass man, um wirklich erfolgreicher Politiker zu werden, immer gewisse Charaktereigenschaften haben müsse, zu denen unbedingte Nicht-Erpressbarkeit unter allen Umständen eben leider nicht gehören würde. Das waren zwar nichtrepräsentative Privatgespräche, aber sie gaben mir trotzdem sehrsehr viel zu denken. Weil das parteienunabhängig als gesammelte, persönliche (Lebens)Erfahrung gemeint war...
Danke an Ben für die schöne und wie ich finde, sehr realistische und gerade deshalb ermutigende Zusammenfassung.
Nachtrag @ Ulrike H.: Und was die Ideen angeht: Menschen, die häufiger und dazu sehr gute Ideen haben, sollte man aber auch dafür bezahlen, dass sie sie äußern. Und nicht versuchen, sie einfach über charmante z.B. Computer-Spielereien oder z.B. Renner-Aufrufe zum allgemeinen Input-Mittun kostenfrei abzuschöpfen. Das ist dann nämlich im Prinzip auch so etwas wie eine Aufforderung zur Selbstabschaffung. Es gibt immer Voraussetzungen für das gute-Ideen-haben, die in sehr individueller Arbeits- und Lebenskraft wie Motivation gründen. Und wenn die Digitale Revolution ein großes Risiko birgt, dann das, dass sie uns veranlasst anzunehmen, man könne gesellschaftsrelevante Ideen über den Einsatz ihrer Technik von egal wem für umsonst bekommen und müsse sie dann nur noch clever vermarkten, weil in ihrer Vermarktung ihr eigentliche Wert bestünde. Das ist zum Beispiel ein das Humane selbstabschaffender Grundirrtum, dem im Moment noch sehr viele Menschen aufsitzen. Es werden aber weniger, weil auch die neueste Technik inzwischen im Prinzip halt doch schon ziemlich alt ist - und wenn ihr noch so viele Hasenöhrchen, Glitzisternstäubchen oder Boxershorts in Nanosekundenbruchteilen angerechnet werden.
ich stimme Ihnen zu, aber wenn jeder über eine Finanzierung erpressbar werden könnte, je nach Charakter, warum wählt man dann ausgerechnet für die Theaterkunstproduktion, in anderen Bereichen ist dies schon lange nicht mehr üblich, ein Finanzierungsmodell, das seiner Struktur nach zu recht als „feudal“ beschimpft wird, und an dem die Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten geradezu schreiend nach außen abgelesen werden können?! Ich erinnere nur einmal an den Übergang von Schirmer zu Beier am Hamburger Schauspielhaus, wo plötzlich Geld da war, welches zuvor bei Schirmer absolut fehlen sollte.
Wir können so gar von außerhalb zu sehen, wie ungeliebte Intendanten von der Politik über die Finanzen abgesägt werden. Und in der Innenansicht kann jeder, mit etwas Arbeitserfahrung, die selbe Beobachtung machen. Ich erinnere nur an die Schauspielerin in Erlangen, die erst vor kurzem in der Mutterzeit gekündigt wurde.
Wieso entwickelt man nicht ein Modell, in dem diese direkten, ablesbaren Abhängigkeiten im feudalen Stil eingegrenzt werden. In einem Zwei-Kammersystem, wie ich es vorschlug, mit einem beratendem Stiftungsrat, der auf fünf Jahre gewählt wird, und einem jährlich wechselndem Entscheidungsgremium kann es so krasse direkte Abhängigkeiten gar nicht mehr geben. Und ist das Geld erst einmal bei der produzierenden Theatertruppe, bei den Künstlern angekommen, kann kein Gremium, keine Intendanz und keine Dramaturgie mehr Einfluss nehmen auf den Vorgang der Kunstproduktion. Da ist dann, trotz möglicher Charakterschwächen, schon ein Großteil der Erpressbarkeit ausgeräumt.
Lieber dabeigewesen,
martin baucks ist ein Kommentator wie jeder andere und darf daher wie jeder andere auch dieses Forum nach dessen Regeln nutzen.
Ich übersetze Ihre Bitte, dabeigewesen, nun einmalig @martin baucks im Sinne einer Aufforderung zu argumentativer Stringenz und einer Ausformulierung seines Modells.
Herzliche Grüße
Redaktion/miwo
ich habe mein Modell unter dem Gräve Aufsatz in groben Zügen vorgestellt, weil mich Thomas Schmidt dazu aufgefordert hat. Ohne diese Anfrage, wie denn mein Modell aussähe, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Denn ich weiß, wie umfangreich die Ausarbeitung eines Modells ist, was für ein Aufwand es ist, so ein Modell, wie auch immer, anschaulich zu simulieren, und um wie viel schwerer es dann ist ein solches Modell in der Praxis als Pilotprojekt zu realisieren.
Die Arbeit ist so umfangreich, dass sie bezahlt werden muss, auch die rein schriftliche Ausarbeitung. Wenn mir jemand so einen Auftrag erteilen will! Gerne! Frei Haus gibt es solche Entwürfe nicht. Das müsste ihnen beiden klar sein.
Freundlicher Gruß
Martin Baucks
ich will Sie nicht enttäuschen, aber ich bin weit davon entfernt, mich dem Glauben hinzugeben, irgendwer interessiere sich wirklich für ein alternatives Modell zum jetzigen Stadttheater. So, wie das Theater jetzt aufgestellt ist, erscheint es fast wie ein ideales Abbild unserer Gesellschaft, ein Apparat mit eingebauter Krise und man fährt auf Sicht. Eine öffentliche und bürgerliche Repräsentanz, die sich genauso verhält, wie die gesamte Gesellschaft. Zwar erlaubt es „gewisse“ demokratische Verhaltensweisen im Rahmen einer Hierarchie, aber im entscheidenden Moment greift die Autokratie, die starke Hand einer Intendantin oder eines Intendanten durch. Das letzte Machtmittel behält man den „Verantwortlichen“ vor. Dies ist der Wunschtraum aller konservativen Politiker: Man gewährt Demokratie, aber am Ende entscheidet der gewählte Repräsentant, im Theater abgebildet durch den/die IntendantenIn, direkt eingesetzt von PolitikerInnen.
Er/sie gewährleistet die Entscheidungshoheit. Auch an diesem Thread kann man es deutlich ablesen. Einmal beugt sich der Intendant Lux über die gesamte Debatte und erklärt kurzerhand den ärgsten Kritiker zu einem „unbezahlten Praktikanten“, und darf auf einen kurzen Beifall aller Mitarbeiter hoffen.
Nun möchte ich Herrn Haselbach nicht das Wort reden, aber einen Professor und Unternehmensberater, nur weil er einen hart kritisiert und etwas verspottet, gleich zum „Büttel“ und „Volltrottel“ erklären, belegt nur einmal mehr den autoritären Kommunikationsverlauf zwischen Intendanz und Kritikern. Und hierin liegt auch der Grund, warum das System sich von innen heraus kaum reformieren kann: Kritik wird weitgehend verspottet und lächerlich gemacht.
Und auch Sie wollen sich ja nur ein neues Modell vorstellen lassen, um es dann „genüsslich“ öffentlich auseinander zu nehmen. Jedoch ohne Kritikfähigkeiten keine Reformen. Zu dem kommt, wer könnte denn tatsächlich über solche Reformen entscheiden, letztendlich Politiker. Und haben die ein wirkliches Interesse daran eine bürgerliche Repräsentation, wie das Theater an ihrem Ort so zu reformieren, dass sie sich kritisch gegen sie wenden könnte?
„Kurzum: Die lebendige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen künstlerischen Erfahrungen trainiert für die pluralistische Disposition einer offenen Gesellschaft – ein kollektives, ortsspezifisches Fitnessprogramm fürs globale Demokratieverständnis.“
sagt Christian Rakow und das ist sicherlich eines der schönsten Glaubensbekenntnisse, die ich in letzter Zeit las. Aber ist es tatsächlich das, was in Altenburg/Gera stattfindet so zwischen „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“, „Jekyll und Hyde“ und Vorstellungen, wie „Ich hab`Rücken“? Oder ist es nur Rechtfertigungs- und Antragslyrik? Wortgeklingel im Reigen der Verteidigung eines Systems, dass eigentlich dringend reformiert werden müsste? Ich wähle Altenburg/Gera, weil dort gerade fünf künstlerische Mitarbeiter mit „postmigrantischem Hintergrund“ das Haus freiwillig verließen, weil sie dem „rassistischen“ Druck der Öffentlichkeit nicht mehr standhielten.
Wie überprüft Christian Rakow seinen wirklich ehrenhaften Glauben an das deutsche Stadttheatersystem? Wie belegt er, dass all das, was er in den Raum stellt auch tatsächlich so stattfindet?
hiermit kann ich viel mehr anfangen. Ich teile zwar (glaube ich) Ihre Einschätzung zum Zustand unserer Gesellschaft und der kaum verhüllten Hand der Autokratie nicht, aber ich glaube dennoch ebenfalls, daß man, daß wir Dinge anders machen müssen. Und auch, daß da Stimmen wie die von Herrn Haselbach gehört werden müssen, man sich damit auseinandersetzen und nicht in Bausch und Bogen verdammen sollte. Daß diese Stimme einen wunden Punkt trifft, kann man anhand der Reaktionen darauf ablesen. Aber es ist eine Stimme im Kampf um vorhandene Mittel.
Und meine Bitte, Ihrem Konzept einen speziellen Raum zu geben, meine ich durchaus ernst. Zum einen, da bitte richtig verstehen, um es zu kritisieren, auseinandernehmen zu können. Ganz im Popper'schen Sinne: falsifizierbar oder nicht? Ich vermute, daß Ihre Ideen schon wichtig in der Strukturdebatte sind. Zum anderen: in der Tat gehen mir die in vielen Threads ausufernden, unkonzentrierten, ideologischen Dispute mit Querverweisen sonstwohin auf den Geist. Ich trage vermutlich meinen Teil bei, aber im Zuge dieses Threads hatte ich vor allem das Ziel, dieser These Gehör zu verschaffen: wenn wir vor allem über die Strukturen, die vorhandenen Mittel (Geld), die jüngere Vergangenheit von Stadttheater sprechen, kommen wir in eine Effizienzdebatte. Wenn wir über die Möglichkeiten von, die menschliche Sehnsucht nach Theater reden, kommen wir in eine Effektivitätsdebatte. Ich halte letztere für besser, und für mich ist der Text von Herrn Rakow auch einer darin.