Theater belohnt die Kämpferherzen

12. April 2023. Ulrich Khuon ist einer der großen Intendanten der letzten Jahrzehnte. Als Theaterleiter, Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Mitglied in zahllosen Findungskommissionen gestaltete er das Bild der zeitgenössischen deutschsprachigen Theaterlandschaft mit. In diesem Sommer beendet der 72jährige gebürtige Stuttgarter seine Intendanz am Deutschen Theater Berlin. Ein Gespräch über Härten, Glücksfälle und Lernprozesse.

Interview von Simone Kaempf und Christian Rakow

Ulrich Khuon © Maria Sturm

12. April 2023. Zum Ende seiner Intendanzen zieht Ulrich Khuon im Interview mit den nachtkritik.de-Redakteur:innen Simone Kaempf und Christian Rakow Bilanz.

nachtkritik.de: Herr Khuon, im Sommer gehen für Sie 35 Jahre Theaterleitung zu Ende, mit Intendanzen in Konstanz, Hannover, Hamburg und jetzt Berlin. Wie würden Sie die Stationen in kurzen Schlaglichtern fassen?

Ulrich Khuon: Konstanz war ein schwerer Anfang, in meiner Heimatstadt, in einer völlig intakten Landschaft ohne soziale Verwerfungen. Das bedeutete den Versuch, soziales Bewusstsein zu schärfen, ohne dass es in der Region vorhanden war. Hannover dagegen war eine sozial zerrissene Stadt, die Menschen waren überhaupt nicht überheblich. Dort ging es mir darum, Schönheit, Glück und Glücksfähigkeit zu kommunizieren in so eine nicht beschenkte Stadt hinein. Hamburg war ein sehr glückliches Kapitel. Mit Andreas Kriegenburg, Stephan Kimmig, Armin Petras und dem "Liliom"-Skandal um Michael Thalheimer gleich am Anfang, der auch noch gut ausging.

Bei der Premiere rief der ehemalige SPD-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi dazwischen: "Das ist ein anständiges Stück. Das könnt Ihr anständig inszenieren!"

Ich bin niemand, der sich einen Skandal herbeiwünscht. Aber manchmal hilft es, wenn die Konservativen gegen einen sind. "Liliom" war eine sehr gute Arbeit von Thalheimer. Wenn sie schlecht gewesen wäre, hätte uns keiner beschützt. Aber so wurden wir auch medial getragen von progressiven Stimmen.

Und die Berliner Zeit ab 2009?

Berlin war zunächst die Gegenerfahrung. Unser Anfang war vielleicht ein wenig arglos. Wir waren mit dem Thalia dauernd beim Theatertreffen und wurden zum Theater des Jahres gewählt. Da denkt man: Ich weiß, wie gutes Theater geht. Wilms ...

Bernd Wilms, Ihr Vorgänger am Deutschen Theater...

... war in einer starken Aufwärtsbewegung und hätte eigentlich noch drei, vier Jahre weitermachen können. Und dann kamen wir hierher mit total positiven Vorbeschreibungen. Alle dachten: "Das geht jetzt so weiter, nur noch toller!" Aber das ist gar nicht möglich, wenn man wie wir neu ansetzen möchte. Wir haben mehrere Jahre benötigt um anzukommen. Diese Veränderung war Arbeit.

Das Berliner Programm wirkte anfangs wie ein Ableger von Hamburg. Wie haben Sie sich dann davon freigemacht?

Ein Problem war, dass Bernd Wilms vieles liebte, was ich auch schon in Hamburg liebte. Dimiter Gotscheff war bei mir, Kriegenburg hat bei Wilms gearbeitet, auch Michael Thalheimer hat hier und am Thalia inszeniert. Michael Thalheimer hätte hier selbst Intendant werden können. Und er hat auch oft bemerkt, wir dürften ruhig ein bisschen kraftvoller auftreten, in Berlin müsse man laut sein. Er sagte das aber immer freundschaftlich, ich empfand Michael Thalheimer sehr zugewandt und loyal. Und trotzdem habe ich nicht so richtig funktioniert, wie er sich das wünschte. Wir haben dann zum Beispiel die Nibelungen gemacht, das war keine gute Stückwahl für einen brachialen Regisseur wie ihn. Er muss eher "Liebelei", also zerbrechliche Stoffe, umsetzen.

Wie sehr haben die anfangs schlechten Kritiken eine Rolle gespielt? Die Hauptstadtpresse gilt allgemein als sehr streng.

In einer Großstadt gibt es unglaublich viel Kommunikation und permanenten Austausch: "Kriegen die es hin? Kriegen die es nicht hin?" Die Meinungen synchronisieren sich dann auch. Zudem gab es die Ost-West-Problematik, deren Bedeutung ich als Süddeutscher zunächst unterschätzt hatte. Ich musste mich ganz anders in die Stadt reinwühlen. Der Anfang war schwer. Zwei, drei Jahre befanden wir uns wie auf einer Achterbahnfahrt, es glückte uns etwas Tolles, und dann kriegte man wieder eins auf den Deckel.

Sie haben sich über die Jahre immer stärker für den Osten interessiert, mit "Radar Ost" auch ein osteuropäisches Festival aufgebaut. In Arbeiten von Kühnel/Kuttner wurde die sozialistische Geschichte des 20. Jahrhunderts untersucht. Es scheint, Sie haben die DNA des Deutschen Theaters nach und nach kennengelernt.

Man muss lernen wollen und auch lernen dürfen. Dabei half mir, dass ich Teil von vielen Gesprächszusammenhängen bin: auf Podien, mit dem Publikum, im Jungen Theater, in Projekten, die wir in der ganzen Stadt gemacht haben. Regisseur:innen, Dramaturg:innen, Kühnel/Kuttner natürlich, aber auch die Technik und die Schauspielerinnen und Schauspieler, alle hier sind ein unendliches Reservoir an Geschichtsbewusstsein. Wenn Sie ein offener Mensch sind, können Sie sehr viel erfahren. Es war dann auch der richtige Schritt zu sagen, wir müssen über Ost- und Westdeutschland hinausgehen in den europäischen Kontext hinein, eben nach Osteuropa. Entsprechend haben wir dann "Radar Ost" entwickelt, haben mit Kirill Serebrennikov und dem Gogol Center gearbeitet und auch andere Regisseur:innen wie Timofej Kuljabin und Kamilė Gudmonaitė ans Haus geholt.

2012 trat die Bewegung Bühnenwatch gegen die Praxis des Blackfacing in Michael Thalheimers Inszenierung des Dea-Loher-Stücks Unschuld auf. Das war eine große Debatte. Wie bewerten Sie die Ereignisse im Rückblick?

Wir waren in diesen Diskursen zu unerfahren. Und es gab natürlich auch den Wunsch, unsere Autorin Dea Loher zu schützen. Man musste dann lernen, wie solche Darstellungsmittel interpretiert werden und dass in ihnen ein Verletzungspotenzial und Demütigungspotenzial steckt. Kompliziert ist die Frage der kulturellen Aneignung. Da bin ich nah bei Jens Balzers Einschätzung: Das ganze Leben ist Aneignung, aber es gibt natürlich eine Form von Aneignung, in der man jemanden ausbeutet, indem man eine ästhetische Qualität übernimmt. Aber es gibt auch Entwicklungen, die ins Extrem führen: Jeder darf nur die eigene Erfahrung bebildern oder jeder darf nur die eigene Erfahrung erzählen. So entsteht kein Theater.

DTUnschuld DavidBaltzer uAnlass einer größeren Blackfacing-Debatte: Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers "Unschuld" am Deutschen Theater 2012 © David Baltzer / Bildbühne

Eine der Folgerungen aus der Debatte damals war der Wunsch nach stärkerer Diversifizierung von Ensembles. Sind Sie da so weit gekommen, wie Sie sich das gewünscht haben?

Ich glaube, es gibt sehr viele Diversitäten. Wir haben uns verändert und sind jetzt vom Erfahrungshintergrund des Ensembles her diverser, aber es gibt trotzdem noch Luft nach oben. Mich hat die Begegnung mit Rosa von Praunheim und mit queeren Gruppen hier im Haus und der gesamte Weg des Jungen DT sehr inspiriert. Die Zusammenarbeit mit Bastian Kraft in ugly ducklin und As You Fucking Like It oder Hitlers Ziege von Rosa von Praunheim waren für mich Entdeckungen. Ein anderes Thema, das mich schon in Hamburg interessiert hat, ist das inklusive Theater. Wir haben häufiger mit dem RambaZamba Theater zusammengearbeitet. Dafür braucht es jemanden wie Lilja Rupprecht. Man muss Kontinuitäten schaffen. Das alles ist auch Diversität.

Das Stück In Stanniolpapier von Björn SC Deigner hatte 2018 in der sehr eigenmächtigen Regie von Sebastian Hartmann starke Proteste bei den Autorentheatertagen ausgelöst. Wie blicken Sie auf diese Debatte zurück?

Eher glücklich. Wenn man Autorinnen und Autoren liebt, hat man die Sehnsucht, dass man Texte auf der Bühne auch wiedererkennt. Interessanterweise ist Hartmann aus meiner Sicht dem Stück treu geblieben, gerade dadurch, dass er den Text zerschnippelt hat. Ich finde "In Stanniolpapier" eine radikale, gelungene und provozierende Arbeit, die das, was thematisch halb-dokumentarisch in dem Stück erzählt wird, unabweisbar in den Raum stellt.

Es ging damals nicht nur um den Widerspruch zwischen Autor und Regie, sondern auch um die schonungslose Darstellungsweise. Medien wie Der Spiegel empfanden das Stück als übergriffig.

Wegen der Nacktheit?

Wegen Nacktheit und allgemein wegen der abbildhaften Darstellung, mit der Gewalt gegen die Figur hier auf die Bühne gebracht wird. Denken Sie, dass mit solchen Debatten das Theater vorsichtiger wird?

Das fände ich schade. Theater braucht krasse Wege. Sein Thema ist der Abgrund. Es darf natürlich nicht in sich übergriffig werden und die Schauspielerin zu etwas bewegen, was sie nicht will. Ich finde auch Triggerwarnungen völlig legitim. Aber ich würde immer sagen, wir müssen Widersprüche sichtbar machen, erlebbar.

Sebastian Hartmann kam nach seinem Abschied vom Centraltheater 2013 mit vielen seiner Spieler:innen. Seine expressive Ästhetik unterscheidet sich stark von den behutsameren Regien bei Kriegenburg oder Stephan Kimmig, die am Anfang das Haus definierten. Anne Lenk hat sich hier entwickelt. Stehen diese Positionen für die Neuausrichtung in der zweiten Hälfte Ihrer Intendanz?

Sebastian Hartmann hatte ich schon in Hamburg kennengelernt und dann in Leipzig. "Eines langen Tages Reise in die Nacht" fand ich sensationell. Und dachte: Ja, das will ich, wenn er Lust hat. Er ist ein Verweigerer von Narrativen, das finde ich interessant. Kriegenburgs Ästhetik würde ich anders beschreiben als Sie. Lange Zeit hat er richtig krude Sachen gemacht, in assoziativer Wildheit, und ist über die Jahre eher strenger geworden. Ich glaube, er hatte in Berlin irgendwann das Gefühl, hier könne er es nicht richtig machen. Das macht natürlich nicht freier. Sebastian Hartmann dagegen ist total frei und irgendwie unverletzbar. Er ist als Intendant verletzbar gewesen, aber als Regisseur nicht. Anne Lenk hat bei uns mit Hiob begonnen. Ich bin stolz darauf, dass wir lange Wege miteinander gehen. Ähnlich war es bei Jette Steckel und Daniela Löffner. Manche Wege wiederum gingen nicht weiter.

Die Zusammenarbeit mit Michael Thalheimer endete, Andreas Kriegenburg inszenierte immer weniger, beides langjährige Verbündete. Waren das schmerzliche Verluste?

Ja, total. Ich habe irgendwann gesagt: Du, Michael, das mit der Schaubühne ist doch blöd. Du bist bei uns und bei denen, in einer Stadt. Vielleicht war ich da auch ein bisschen zu penetrant oder zu verletzt. Und Andreas Kriegenburg schmerzte die negative Stimmung in den Berliner Medien. Für mich bleibt er einer der wichtigsten Begleiter.

Mit den Regisseur:innen hat sich auch das Ensemble stark verändert.

Ich bin niemand, der ein Ensemble austauscht, wenn er neu an ein Haus kommt. Man bringt einige Leute mit, einige kommen woanders her und man wünscht sich einige von vor Ort. Dadurch, dass die Hamburger Gruppe annähernd so groß wie die Berliner Gruppe war, gab es zwei Blöcke, und die dritte Gruppe war zu klein, die ganz Frischen, die unbeschwert sind und sich freuen, dass etwas losgeht. Die sind erst später mehr geworden. Für mich am schmerzlichsten war das Ausscheiden der großen Frauen: Margit Bendokat, Gabi Heinz, Simone von Zglinicki, Katrin Klein, die entweder aus Alters- oder Krankheitsgründen gingen. Sie haben gut verstanden, was ich wollte und wie sehr ich sie suchte. Bis Männer eine Offenheit wahrnehmen, dauert es manchmal.

DTKammerStanniolpapier DavidBaltzer uSebastian Hartmanns Inszenierung von "In Stanniolpapier" © David Baltzer / Bildbühne

Waren die unterschiedlichen Biografien und Ost-West-Unterschiede im Ensemble ein größeres Thema, als Sie anfangs dachten?

Im Haus, ja. Mein Schlüsseltext zum Deutschen Theater ist Michael Eberths Tagebuch "Einheit", weil es absolut ehrlich ist. Eberth sagt: Ich habe fünf Mal gekündigt und bin doch geblieben. Das finde ich sehr sympathisch, weil man merkt, er ist nicht von Langhoff weggekommen, obwohl er es hier schwer hatte und auch selbst Fehler gemacht hat. Über solche Texte oder über lange Gespräche mit dem Ensemble, Besucher:innen oder mit den verschiedenen Gewerken, habe ich gelernt.

Als wir 2011 miteinander sprachen, redeten Sie über das Problem der Theaterfamilien, Truppen die sich um einen Regisseur scharren und sich schlecht mit dem Rest des Ensembles verbinden. Damals lebte Dimiter Gotscheff noch, der die wohl berühmteste Theaterfamilie formte. Haben sich die Verhältnisse über die Jahre verändert?

Ich glaube nicht so recht an die Familie als isoliertes Ereignis. Sie muss durchlässig werden, sonst wird es zu selbstbezüglich. Wolfram Koch zum Beispiel ist ein totaler Mitko-Gotscheff-Schauspieler, aber natürlich auch offen für Jan Bosse und andere Regisseur:innen. Ich glaube, als Intendant, der nicht selbst inszeniert, konnte ich leichter Verbindungen stiften.

Was bedeutet es, wenn in dieses ausgeklügelte System und mit dem Glauben an die Gruppe, von dem Sie anfangs sprachen, neue Regisseur:innen kommen und eigene Spieler:innen mitbringen?

Das ist eher gut. Deswegen bin ich ja ein Gegner einer Nichtverlängerungsdebatte, die zum Ergebnis hat: Alle bleiben. Ich glaube, wenn alle bleiben, ist das in einer Stadt wie Berlin, wo ja keiner weg will, das Ende der Lebendigkeit. Zugleich ist es auch verheerend, wenn alle nicht verlängert werden. Mein Versuch, obwohl er komisch ausbalanciert klingt, war: für Bewegung zu sorgen, aber nicht für umfassende Vertreibung.

Sie sind in Ihrer Karriere nicht nur Intendant gewesen, sondern lange auch im Vorstand der Intendantengruppe des Bühnenvereins. 2017 wurden Sie Bühnenvereins-Präsident. Was konnten Sie beim Bühnenverein bewirken?

Ich bin ja ein Gruppenmensch. Und damit war der Bühnenverein erst einmal ein Biotop für mich: Man trifft sich und muss nicht jedem hinterherfahren. Auch wenn es sich komisch anhört, ich habe nie ein Amt gesucht. In meiner Zeit als Präsident haben wir einige Dinge bewegt. Die Metoo-Debatte hatten wir unterschätzt. In den Tischgesprächen mit dem ensemble netzwerk habe ich Sachen gehört, die ich als Intendant nicht erzählt bekam. All die Fragen: Was sind zufällige Berührungen oder scheinbar zufällige? Was passiert da alles, diese ganzen Formen von Übergriffigkeit, von denen ich auf diesem Weg erfuhr.

Was konnte in die Entwicklung des Verhaltenskodex im Bühnenverein aus Ihren eigenen Erfahrungen als Theaterintendant einfließen?

Darum ging es gar nicht, sondern darum, anderen Perspektiven Raum zu geben. Für mich war faires Führen immer wichtig. Ich habe ja erzählt, ich will eine Gruppe bilden, aber nicht autoritär. Natürlich habe ich mich auch mit dem weiblichen Ensemble ausgetauscht und nachgefragt: Habe ich da was übersehen? Aber vielleicht gibt es auch eine Skepsis, mir etwas zu sagen. Deswegen ist übrigens Themis so wichtig als Vertrauensstelle, die außerhalb der Theater liegt.

Man hat sich dennoch gefragt, warum es so lang dauerte, bis der Kodex veröffentlicht wurde.

Den Kodex haben wir ein Jahr lang besprochen. Das ist nicht lange. Immerhin ging es darum, ein komplexes Beziehungs-, Verantwortungs- und Machtsystem neu auszurichten. Die Intendant:innengruppe war damals sehr männerlastig und es gab sehr unterschiedliche Haltungen zu dem Thema. Wir hatten einen Text aus London, von dem wir zunächst dachten, wir können ihn als Vorlage direkt übernehmen. Unser Kodex sah am Schluss tatsächlich ziemlich ähnlich aus. Aber wir sind durch diese Mühle der Bearbeitung und der endlosen Gespräche hindurchgegangen. Wir wussten: Wir brauchen einen Maßstab, an dem wir uns messen müssen. Der Kodex ist ein Riesenschritt, aber es bleiben die zwei Ebenen: Man muss schon gut führen wollen als Mensch. Gleichzeitig brauchen wir eine Systematik, die uns als Gruppe weiterbringt.

Zerbrochner Krug 2 ArnoDeclair uAuseinandersetzung mit #metoo: Anne Lenks Inszenierung von Heinrich von Kleists "Der zerbrochene Krug" am Deutschen Theater 2021 © Arno Declair

Sie sind über Jahre auch ein wichtiger und viel gefragter Ratgeber in Findungskommissionen für neue Intendanzen gewesen. Welche Maximen haben Sie in dieser Rolle geleitet?

Im Grunde muss man herausfinden, was die Entscheidungsträger selber wollen. Ersan Mondtag hat mal gesagt, es drohe die "Khuonisierung" der deutschen Theaterlandschaft. Er unterschätzt völlig, wie so eine Findungskommission zusammenarbeitet. Man ist Teil der Gruppe, und ich komme nie dazu, um jemand bestimmtes durchzusetzen. Das wäre Unsinn. Ich versuche eher zu beraten. Wenn es heißt, wir müssen sparen, dann muss ich sagen: Das solltet Ihr transparent machen, oder vielleicht trotzdem jemanden wählen, der oder die sich für mehr Geld einsetzt. Denn das Theater braucht Kämpferherzen. Interessanterweise sind viele Findungskommissionen, auch Politiker und Politikerinnen, viel nachdenklicher, souveräner und instinktsicherer als man denkt.

Gleichwohl sitzt man in diesen Kommissionen auch als Intendant mit einem Netzwerk an Leuten im Hintergrund. Besteht da nicht das Problem einer Macht-Häufung?

Ja, es gibt sicher eine Einfluss-Möglichkeit. Aber ich glaube, ich bin in diesem Fall nicht der Richtige, das zu beantworten. Sie müssten mir als kritischer Begleiter sagen, der war Mitglied in zu vielen Kommissionen, und ich müsste dann damit leben. Ich habe nur dann zu tollkühnen Entscheidungen geraten, wenn die Politik dauerhaft und verlässlich bereit war, zu diesen Entscheidungen zu stehen. Und ich helfe natürlich immer beim Reflektieren.

Jetzt stehen die hohen Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst bevor. Sind es gerade harte Zeiten für die Theater?

Die Politik sollte natürlich die Erhöhungen übernehmen und wir müssen wahrscheinlich wegen der ganzen Preissteigerungen auch etwas einsparen. Diese Diskussionen begleiten einen. Ich kenne sie schon seit den Achtzigerjahren in Konstanz. Das Tolle am Theater ist sein Beharrungsvermögen und das hängt von den handelnden Personen ab. Die Politik will natürlich auch Energien spüren und nicht nur die defensive Haltung: "Lasst uns am Leben, bitte lasst uns weiterspielen". Für diese Auseinandersetzung braucht es auch Erfindungsreichtum. Das Menetekel ist die Schließung des Schillertheaters. Das war für die Politik sehr lehrreich. Der damalige Senator sagt selbst: Ich bin jetzt der, der das Schillertheater zugemacht hat. Das will man nicht sein. Ich bin überhaupt nicht pessimistisch, was die Zukunft der Theaterlandschaft betrifft.

Zum Ende Ihrer Ägide kam die pandemiebedingte Schließung der Theater. Wie verhielt sich das im Verhältnis zu dem, was Sie in den Jahrzehnten vorher zu meistern hatten?

Die Pandemie hat mich überhaupt nicht gebremst, ich war nicht mutlos, sondern habe einfach weitergearbeitet und die Verbindungen aufrechterhalten. Aber im Nachhinein, das würde ich auch über mich selbst sagen, hat sie uns viel mehr beschädigt, als ich wahrhaben wollte, auch psychisch. Bei vielen Künstler:innen herrscht viel Nachdenklichkeit: Was mache ich? Warum mache ich's? Wohin will ich? Ist es das wert? Ich habe eine Zeit gebraucht, um das zu verstehen.

Zum Abschluss des Gesprächs noch einmal kurze Schlaglichter: Was war das schönste Erlebnis Ihrer Intendanzen?

Na ja. Das Top-Erlebnis war in Hamburg. Damals kamen die Einladungen zum Theatertreffen noch als Fax. Ich war zufällig im Büro und es kam "Liebelei", glaube ich. Und dann ratterte es wieder. "Nora". Ich sagte: "Hey, Wahnsinn, zwei!" Und schließlich kam noch "Zeit zu lieben, Zeit zu sterben" und ich bin fast umgefallen. Das Tolle an so einer Einladung ist, dass Sie unglaubliche Ruhe zum Arbeiten gewinnen. Sie haben den Rücken frei. Man merkt, es wächst ein Vertrauen um einen herum.

Und das schlechteste Erlebnis?

Das Schlimmste sind die Todesfälle. Dimiter Gotscheff. Oder Christoph Schlingensief. Wir waren mitten in einem gemeinsamen Projekt. Und wir telefonierten immer mal wieder. Er war ja Ex-Ministrant wie ich. Wir redeten auch über das Beten als Botschaften an ein unbekanntes Gegenüber. So ist es. Das war im Grunde das Schrecklichste. Daran gewöhnt man sich nicht.

Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin am Deutschen Theater: Iris Laufenberg?

Mut. Und Gespür für die Menschen und die Gruppen, mit denen sie arbeitet. Bei beidem kann man optimistisch sein.

 

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