"No Borders" ist auch auch kein Ideal

11. November 2023. Wo kommst Du her? Am Theater Lübeck inszeniert Mirja Biel "Herkunft", Saša Stanišićs preisgekrönten und viel inszenierten Roman, als kluges Nachdenken über Sprache, über Gewalt, über Migration - und als Verlust politischer Unschuld.

Von Falk Schreiber

Saša Stanišić' "Herkunft" von Mirja Biel am Theater Lübeck inszeniert © Kerstin Schomburg

11. November 2023. Am Anfang steht ein Tasten. Ein Fragen: "Wo kommst du her?" Und die Überlegung, wie man darauf antworten soll, wenn das, wo man herkommt, verschwunden ist: Jugoslawien. Die eigene Familiengeschichte, als Kind eines serbischen Vaters und einer bosnischen Mutter. Die Sprache, die Erinnerungen. Die gesamte Familie, die sich gemeinsam mit dem Geburtsland pulverisierte, der Sohn lebt heute in Hamburg, die Eltern ziehen zunächst in die USA und später nach Kroatien. Und die Großmutter verschwindet in die Demenz. Saša Stanišićs 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman "Herkunft": ein Tasten in der eigenen Vergangenheit, ein Suchen nach einer Antwort.

Dafür, dass "Herkunft" weniger auf einer narrativen Ebene funktioniert denn als Nachdenken über die Fallstricke und Verwirrungen, die die Frage nach der eigenen Herkunft mit sich bringt, wird der Roman überraschend häufig fürs Theater adaptiert. Den Anfang machte Sascha Hawemann in Oberhausen, Sebastian Nübling versuchte vor gut zwei Jahren am Hamburger Thalia in der Gaußstraße die Handlung zu ordnen: als Migrationsgeschichte, die sich auf die Flucht des Teenagers Saša aus dem kriegszerstörten Višegrad nach Deutschland konzentrierte, ein spöttischer Blick zurück nach Jugoslawien aus der Heidelberger Satellitenstadt Emmertsgrund.

Aufgesplitterte Zeiten

Die Emmertsgrund-Szenen tauchen auch in Mirja Biels Fassung des Stoffs am Theater Lübeck auf, sie sind aber nebensächlich, beschreiben, wie jemand sich zurechtzufinden versucht in einem neuen Umfeld (und, das ist dann gar nicht mehr so nebensächlich: einer neuen Sprache). Ansonsten konzentriert sich Biel auf den existenziellen Charakter von "Herkunft": "Wo kommst du her?"

Was heißt, dass ihre Inszenierung erstmal abstrakt daherkommt. Die Bühne ist weitgehend leer, nur im Hintergrund steht ein Tisch, auf dem Peter Thiessen mit Computer, Keyboard und diversen Gitarren einen atmosphärischen Soundtrack erschafft, bestehend zunächst aus elektronischen Signalen, dann aber auch aus Balkan-Folklore, Hymnischem, "Hej Sloveni", zwischendurch eingängigem Pop, dem man anhört, dass Thiessen neben seinen häufigen Verpflichtungen als Theatermusiker vor allem Sänger der Hamburger Indieband Kante ist. Ansonsten: viel Nachdenken, Überlegungen zur Frage, ob es ein Wort geben könnte, das alle Worte in sich vereint und das alle drei Sekunden geändert wird, eine Interview-Situation mit dem echten Stanišić per Videobild, schließlich ein Aufsplitten der Zeiten.

Herkunft 4 KerstinSchomburg uFamilienbilder: Jan Byl, Heiner Kock, Ingrid Domann, Peter Thiessen, Michael Fuchs in "Herkunft" am Theater Lübeck © Kerstin Schomburg

Die Inszenierung bewegt sich in drei Ebenen: 1978 bis 1992, Stanišićs Geburt in Višegrad bis zur Flucht vor dem Krieg, 2018, das Jahr des Schreibprozesses, November 2023, der Moment der Aufführung. Und diese Ebenen überlagern sich, stehen sich im Weg, ergeben ein Vexierbild.

Nach einer Weile lässt Biel dann doch noch Szenen anspielen. Im Mittelpunkt steht dabei meist die Großmutter, von Ingrid Domann mit resoluter Penetranz gegeben, die sich letztlich erfolglos aber dennoch nicht ohne Charme gegen die Demenz (und am Ende sogar gegen das finale Verschwinden im Tod) zu wehren weiß.

Jugoslawe, Weiß nicht oder Fickt Euch

Jan Byl und Heiner Kock derweil doppeln die Erzählerfigur: Das ist einerseits eine kluge Entscheidung, weil sich hier ein Hinweis darauf versteckt, dass Identität ein vielgesichtiges Konzept ist, andererseits aber auch dafür sorgt, dass der, der hier spricht verhältnismäßig blass bleibt, gerade angesichts einer so prägnant gezeichneten Figur wie Domanns Großmutter.

Tatsächlich ist das für die Inszenierung aber auch egal, weil Biel noch eine andere Spur verfolgt. Die besteht darin, dass die Frage "Wo kommst du her?" nicht unschuldig ist: Als Jugoslawien im Krieg versank, war diese Frage plötzlich eine, deren Antwort über Leben und Tod entscheiden konnte. In einer Szene werden in der Schule Listen angelegt, auf denen sich die Mitschüler*innen eintragen sollen: "Serbe", "Kroate" und "Moslem" stehen zur Auswahl, und das Unbehagen, das einen bei dieser Szene beschleicht, wird nicht spürbar dadurch gemildert, dass nach und nach auch noch die Wahlmöglichkeiten "Weiß nicht", "Jugoslawe" und "Fickt euch alle!" dazukommen.

Verlust politischer Unschuld

Und dass Anna-Lena Hitzfeld später in die Gegenwartsebene wechselt und eine aktuelle Wahlumfrage zitiert, macht es nicht besser: Wenn kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, würden 21 Prozent AfD wählen. Was ein vielleicht ein allzu eindeutiger tagespolitischer Verweis ist, andererseits aber auch zeigt, wie radikal gegenwartsbezogen dieser Abend ist.

Herkunft 4 KerstinSchomburg uErinnerung an "Roter Stern Belgrad" in "Herkunft", im Jugoslawien der Achtzigerjahre eine multikulturelle Mannschaft © Kerstin Schomburg

Das ist alles sehr fein gearbeitet, vor allem aber geht es ziemlich nahe an den Grundgedanken von Stanišićs Vorlage: Wenn Sprache dazu dient, Menschen zu kategorisieren, und wenn diese Kategorien am Ende echte Gewalt zur Folge haben, dann sollte man sich genau überlegen, wie man Sprache verwendet. Dass ein "No Borders"-Ideal hübsch ist, dabei aber auch nicht weiterhilft, beschreibt eine Jugenderinnerung des Erzählers, der Fußballfan war von "Roter Stern Belgrad", im Jugoslawien der Achtzigerjahre eine multikulturelle Mannschaft, die freilich, wie in einem Halbsatz erwähnt wird, schon damals Fans aus dem serbischen Nationalistenmilleu anzog. Heute besteht die Fankurve fast durchgängig aus harten Nazis.

Dass es dieser kluge, tatsächlich sehr werktreue Zugriff dem Ensemble nur phasenweise erlaubt, sein Können auszuspielen – sei es drum. Der Abend mag vielleicht mehr Literatur als Theater sein, auf jeden Fall ist er ein Nachdenken, das sich lohnen kann. Und sei es, dass man bei der Frage nach der Herkunft des Gegenübers in Zukunft etwas intensiver überlegt, ob sie wirklich angemessen ist.

Herkunft
nach Saša Stanišić in einer Fassung von Mirja Biel
Regie und Bühne: Mirja Biel, Kostüme: Tine Becker, Live-Musik: Peter Thiessen, Licht: Daniel Thulke, Georg Marburg, Dramaturgie: Oliver Held.
Mit: Jan Byl, Ingrid Domann, Michael Fuchs, Anna-Lena Hitzfeld, Heiner Kock, Peter Thiessen.
Premiere am 10. November 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-luebeck.de


Kritikenrundschau

"Regisseurin Biel lässt zwar viel Text aus dem Buch vortragen, aber es gibt auch großartige Spielszenen", schreibt Michael Berger in den Lübecker Nachrichten (12./13.11.2023). "Die Inszenierung wurde bei der Premiere gefeiert - fast so rauschhaft wie damals der Erfolg von Roter Stern, dem letzten des Landes Jugoslawien vor dem großen Bruderkrieg. Und Autor Saša Stanišic hielt es in der dritten Reihe vor Begeisterung nicht mehr auf dem Sessel. Er staunte offenbar selbst darüber, wie aus seinem Leben Bühnenkunst wurde."

Unaufgeregt in Bild und Spiel erzählt die Inszenierung aus Sicht von Karin Lubowski in der Schlesweig-Holsteinischen Landeszeitung (14.11.2023) "über Sprache und Scham, Ankommen und Zurechtkommen, Glück und Tod." (...) Nichts wird verbogen, kein ehrgeiziges Regietheater versucht. Ein starkes Stück."

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