Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? - Wengenroths Theatertheorie nach Schiller
Weg vom Rockzipfel des Regievaters
von Christian Rakow
15. September 2009. Man hatte sich im Sommer ja schon gefragt: Wen meinte Erfolgsautor Daniel Kehlmann eigentlich in seiner Salzburger Rede, als er gegen die Bühnen aufbegehrte, auf denen ständig "Spaghettiessen" zu sehen sei? Immerhin sind die großen Spaghettischlachten im Hause Castorf schon geraume Zeit vorüber. Und die Ekeltheaterdebatte vor bald vier Jahren hat sich auch abgeschliffen. Doch siehe! Im Studio der Schaubühne erscheint Lars Eidinger in Unterhose mit einem – Teller Spaghetti.
Clubsounds grooven sanft. Eidinger zieht seinen Hintern blank, hockt sich rücklings zum Publikum, mitten auf den Pastahaufen, und spricht privatim den Selbstekelmonolog von Franz Moor, Schillers Schurke mit den Hottentottenaugen. Vom Essnapf oder Nachttopf begehrte der Knabe Franz auf: Liebt euren After und stülpt diese gottvatergegebene Welt gegen ihren rechten Sinn! Euer Spiel soll schmutzig sein!
Selbstvergewisserung entlang des Kanons
Diese kleine Szene gegen Ende der Aufführung ist ein Glanzlicht eines an Glanzlichtern reichen Theatertheorie- und Trashabends, den Patrick Wengenroth mit Friedrich Schiller der Schaubühne entfacht. Es ist eine Selbstvergewisserung entlang der kanonischen Rede "Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?" Mit Augenzwinkern befragt sich das Haus am Lehniner Platz, wenn Wengenroth eingangs das politische Manifest verliest, mit dem die Schaubühne anno 2000 den Amtsantritt von Intendant Thomas Ostermeier beging.
Voll Understatement hebt die Runde an. An einem langen Tisch, der mit Stechäpfeln (Schillers Ersatzdroge), einem Schädel (vermutlich der Schillers, von Goethes Schreibtisch entwendet) sowie Dunkin' Donuts und Red Bull (eher unklassisch) bedeckt ist, nehmen Wengenroths fünf Mannen Platz: Thomas Bading, Niels Bormann, Lars Eidinger, Ulrich Hoppe, Felix Römer. Spröde eröffnen sie den Schaubühnen-Aufsatz. Es knarrt beträchtlich im Gebälk der Schillerschen Perioden. Soll man langsamer lesen, kommen auch alle mit? Immerhin hat das Publikum einen Textausdruck auf dem Schoß.
Satirisch und durchaus mit Schillers Einverständnis
Als erster befreit sich Ulrich Hoppe aus dieser Lesung und improvisiert eine Erinnerung an seine Schauspielschulzeit: Wie ich einmal Karl Moor als Ente anlegte – mit sanft wiegendem Gang, die Ellenbogen angezogen. Die ersten Lacher kullern. Von da an wechseln sich Schiller-Passagen, angeschrägte Performanceeinlagen und gelegentliche Schlagerlieder (von Elektroorganist Matze Kloppe untermalt) ab. Und die zweite Stimme verschafft sich Gehör: Niels Bormann ist Daniel Kehlmann und steuert mit der besagten Salzburger Rede seinen Part zur hiesigen Berlinerischen Dramaturgie bei.
Aus Kehlmanns Sommerpetitesse bezieht Wengenroths Theater jene Art von Glutkern, der es schon zu Zeiten seiner "Planet Porno"-Reihe stets entzündete. Wengenroth lebt vom feuilletonistischen Anlass, er braucht konservative Eiferer, um sein satirisches Potential vollends entfalten zu können. In diesem Fall tritt die genussvolle Dekonstruktion durchaus mit Schillers Einverständnis auf: "Mein Verzeichnis von Bösewichtern wird mit jedem Tage, den ich älter werde, kürzer, und mein Register von Toren vollzähliger und länger."
Und der Kristallluster liegt auf halb Acht
Bormann gibt den Toren Kehlmann verzärtelt und zögernd, am Rande der Weinerlichkeit. Er hängt am Rockzipfel seines Regievaters – und einiger anderer. Immer wieder muss er sich von seinem vermeintlichen Gewährsmann Max Reinhard (Thomas Bading) mit Thesen zum Schauspielertheater bevormunden lassen. In Anlehnung an Kehlmanns Traditionalismus gibt Lars Eidinger einen Franz Moor im historischen Kostüm: gespenstisch, mit künstlichem Gebiss und hohem Gutturalton. Wenn Eidinger später auf dem Spaghetti-Nachttopf seine anale Phase wiedererweckt, rundet sich die Kehlmannkritik vollends zur Psychosatire auf einen verspannten Sohn ab.
Wie betrüblich für den Hüter deutscher Geisteskultur, gerade mit Schillers Dramaturgie widerlegt zu werden! Wengenroths schnelle Theatereingreiftruppe feiert das kindlich-kindische Spiel und hält es dem Epigonen einer falsch verstandenen Klassik entgegen. Der Spott gilt einem, in den Worten Schillers (und in Wengenroths Deutung), "unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung". Entsprechend kläglich auf halb Acht liegt ein riesiger Kristallluster auf der Bühne von Mascha Mazur, ein Kristallluster wie der, der dem Romancier, laut eigenem Bekunden, sein erstes und bis heute intensivstes Theatererlebnis bescherte – in einem menschenleeren Bühnenraum.
Nicht Leere, sondern Fülle feiert Wengenroths Theater. Es ist trashig, bunt, schnulzig, komisch, auch hämisch. Und es assoziiert geistreich, entlang der dünnen Scheidelinie zum Insiderwitz. Für November und Dezember sind zwei weitere Teile dieser Schaubühnen-Serie angekündigt, noch ohne nähere Spezifikationen. Wer immer also in der Zwischenzeit eine Feuilletondebatte anstößt, darf hoffen (oder befürchten!) bei Wengenroth zum theatralen Ereignis aufzusteigen.
Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?
von Patrick Wengenroth nach Friedrich Schiller
Realisation: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Matze Kloppe.
Mit: Thomas Bading, Niels Bormann, Lars Eidinger, Ulrich Hoppe, Felix Römer, Patrick Wengenroth und Matze Kloppe (Musik).
www.schaubuehne.de
Mehr zu Patrick Wengenroth: Am Berliner HAU hat er sich im Dezember 2008 mit Rainald Goetz befasst und dessen Festung inszeniert. Und im November 2009 kam an der Schaubühne der zweite Teil seiner Schiller-Erkundung heraus.
Mehr zu Daniel Kehlmann: seine Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hat auch im nachtkritik-Forum für Diskussionen gesorgt.
Kritikenrundschau
Was im Format der Leseprobe daherkommt, entpuppt sich als locker-flockige Fingerübung in permanenter Dekonstruktion, schreibt Anne Peter in der taz Berlin (17.9.2009). "Der Abend nimmt en passant auch den Furor aufs Korn, mit der Kritiker und Theaterwelt auf die Rede Kehlmanns reagierten." Den Widerspruch etwa, dass Kehlmann als Kronzeugen seiner Kritik am Regietheater ausgerechnet dessen ersten Protagonisten Max Reinhardt ins Feld führt, "macht Thomas Bading einleuchtender anschaulich als jeder Kritiker, indem er dem Bormann-Daniel beständig mit Reinhardt-Reden dazwischenquatscht." Indem die Schaubühne jetzt den zuverlässig respektlos Texte mixenden Wengenroth mit der Schiller-, Schaubühnen-, und also Selbstverwurstungsserie betraut, zeigt sie bemerkenswerten Mut zur Selbstironie. "Endlich mal eine Bewusstwerdungsarbeit der erfrischend anderen Art."
Wengenroth tut etwas so Einfaches wie Entlarvendes, findet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (17.9.2009). "Er wendet Schiller gegen Kehlmann, indem er Schiller ernst und Kehlmann beim Wort nimmt: Kehlmann schwärmt von Inszenierungen in historischen Kostümen, also tritt Lars Eidinger in Schiller-Original-Outfit auf und trägt den Franz-Moor-Monolog aus den 'Räubern' vor. Im hohen Ton, mit angeklebten Ohren und Topfperücke. Zum Niederknien." Dieser kurzweilige Unterricht über das Gegenwartstheater, Teil eins eines dreiteiligen Wegweisers durch das bürgerliche Leben, reiße allem Ernst und jeder Theaterdebatte die Maske herunter. "Und er nimmt sich nicht aus: sitzt selbst mit auf der Bühne, veralbert auch sein eigenes Theater der Edel-Blödelei. Die Inszenierung bezieht keine Position und kann sich deshalb über alles lustig machen. Schiller in Kostüm, Schiller mit Spaghetti, Schiller bei Wengenroth: Es ist immer herrlich doof und pfiffig zugleich, voller Anspielungen, Insider- und Running Gags. Eine leichthändische Bühnen-Comedy wie sie vergnüglicher nicht sein könnte."
"Lässt man die Virtuosität mal beiseite, springt doch ein gehöriges Stück Eitelkeit aus Wengenroths Inszenierung heraus: ein satirisches Geplänkel über hohen Anspruch und theatrale Wahrnehmung", so Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (17.9.2009). Die heutige Schaubühne präsentiere sich hier als höherer Ideale entkleidetes Institut. "Dieses szenische Capriccio, bei dem sich die Spieler mitunter selbst am besten amüsieren, zielt dann doch mehr auf den schnellen Spaß, ohne dass sich Kurzweil mit Bildung gatten würde. Das Vergnügen geht hier auf Kosten des Ganzen. Und ob das Konzept noch weitere Folgen tragen wird, bleibt abzuwarten."
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bin mal gespannt, wie oft der spaghettiteller in 2009/10 noch zitiert werden wird!
Troilus und Cressida von Marc Günther inszeniert. 2003 oder 2004 am Schauspiel Köln. Da wurde auch mit Spaghetti geworfen und eine Schlacht betrieben...
MfG
langweilig
Von Goldoni an einer riesengroßen Schüssel Spaghetti.
Inszenierung:Uwe-Dag Berlin 2001 in Aachen
glückwunsch.
hat das vielleicht etwas mit der zahl 23 zu tun?
@27. die übrigen berliner auftaktpremieren angeschaut, einigen wir uns auf: einstweilen tabellenführung? in welcher liga können sie bestimmen.
Trotzdem, was ich an diesem Abend als spannend empfunden habe, war Folgendes: Hier wurde aufgezeigt, dass man sich als Schauspieler (und natürlich auch im Alltagsleben) der eigenen Scham aussetzen und mit ihr arbeiten kann, indem man die Schamgrenze AKTIV und lustvoll (Arsch im Spaghettiteller ;-) überschreitet und sich danach wieder davon zurückzieht. Das Ganze war für mich ein Experiment, mit welchem die Bedingungen von Scham und Beschämung sozial verhandelt werden, und das im Kontext der Widerlegung der Kehlmann-Rede durch die theoretische und praktische Aneignung und Anwendung der Gedanken zum Nationaltheater von Schiller. Hier setzen sich doch alle Beteiligten/Performer irgendwie aufs Spiel, schon allein durch diese peinlich verkitschten und gerade deswegen so liebenswerten Gesangseinlagen. Ja, die Würde des Menschen ist antastbar. Und gerade darin liegt auch eine unsagbare Schönheit. Es kommt drauf an, mit der Schamlosigkeit zu SPIELEN.
"Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen und ewig auf der Folter der Geschäfte zu liegen, die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung. Der Mensch, überladen von tierischem Genuss, der langen Anstrengung müde, vom ewigen Triebe nach Tätigkeit gequält, dürstet nach besseren auserleseneren Vergnügungen, oder stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß. [...] Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird."
Die Kehlmann-Rede zeigt für mich andererseits aber einen seltsamen Hang zum Konservativismus mancher heute 20 bis 30jähriger auf, was sich darin zeigt, dass diese "Kinder" sich nicht mehr kritisch-politisch von ihren "Eltern" abgrenzen, sondern deren Ansichten in der Art des autoritären Charakters nach Adorno völlig unhinterfragt übernehmen. Gerade diese "Opfer" einer falsch verstandenen und praktizierten Erziehung könnten sich möglicherweise als "tickende Zeitbomben" erweisen. Wer für seine angeblichen Verfehlungen hart bestraft wird, wer in einer Atmosphäre von Angst und Haß aufwächst, der könnte irgendwann den einzigen Ausweg der nicht in das eigene Selbstbild integrierten "bösen" Triebe in einer obszönen und perversen Grenzüberschreitung aller Tabus und Verbote sehen - mit verheerenden Auswirkungen für die politische Gemeinschaft. Im Theaterraum dagegen können diese Triebe stellvertretend ausgelebt werden, Stichwort Katharsis. Und niemand wird zu Schaden an Leib und Seele kommen. Soweit die Utopie.
"Von seinem Vater zu lernen ist ja immer eine zweischneidige Sache. Man möchte doch eigenständig sein, instinktiv lehnt man Lektionen des Elternhauses ab und sucht seine Lehrer so fern davon wie möglich. Als mich vor kurzem ein Germanist darauf hinwies, dass die Hauptfigur meines ersten Romans vaterlos ist, ein Mann ohne Herkunft und Abstammung, so verblüffte es mich selbst, wie sehr man das, was ich damals für spielerische Erfindung hielt, als Absichtserklärung des beginnenden Autors lesen kann: niemandem verpflichtet und von keinem überschattet sein, von nirgendwo herkommen. Aber in Wirklichkeit ist es bekanntlich nie so, und Stunden, ja Tage würden nicht ausreichen, um auch nur einen Teil der Schuld zu umreißen, die ich Michael Kehlmann nicht nur als Mensch - das ist selbstverständlich und braucht hier nicht erklärt zu werden -, sondern als Künstler, als Gestalter, als Erzähler in Bildern und Szenen, zurückzuzahlen hätte [...]."
Wie bereits Alice Miller wusste, ist genau das das "Drama des begabten Kindes", welches sich, um weiterhin von den Eltern geliebt zu werden, denn ein Kind ist ja zunächst einmal hilflos und abhängig, der Autorität der Eltern unterwirft und seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt. In einem solchen Kontext muss schon der Versuch der Abgrenzung zu Schuldgefühlen führen. Zudem ging es mir auch nicht um "Übertrumpfung", wie Sie schreiben, sondern um eine respektvolle kritische Auseinandersetzung. Bei Kehlmann hat letztlich doch immer nur der Vater Recht. Ob das so erstrebenswert ist, wagte ich zu bezweifeln.
Mir ging es eher um die Frage des "Toren" nach Schiller. Bei mir entstand nach dem Besuch dieser Aufführung nämlich die Frage, wer hier eigentlich der größere Tor ist, die Figur des Oldschoolkostüm-Schillers oder des Spaghettitelleraussitzers, übrigens beides gespielt von Lars Eidinger. Und noch dazu spricht er in beiden Rollen den Monolog des Franz Moor aus Schillers "Räuber". Na, wenn das mal kein Paradox ist. Vielleicht gehts mit Schiller um den "mittleren Zustand". Und übrigens, ich hatte seltsamerweise sogar Mitleid mit der Figur des Kehlmann, wie ihn Niels Bormann so wunderbar verklemmt performt hat. Komisch, oder? Das alles kann Theater.
http://www.youtube.com/watch?v=PRwqyIQUoz8
und castorfs heringssalatschlachten sind ja auch zu lange her für den jungen...hm..
man merkt, daß sie vergangenheit nicht zu schätzen wissen. und eine entwicklung. außerdem keinen sehr ausgeprägten humor haben, so scheint es jedenfalls aus ihrem betont gewollt lustigen kommentar ersichtlich zu sein. ich denke, sie halten nichts von requisiten - und schon gar nicht, wenn sie eßbar sind. sie tun mir leid...die spaghettisierung begann übrigens kurz nach den italienreisen der siebziger - als importiertes sehnsuchtsgefühl sozusagen - und wenn man dann den bogen bis zu goethes italiensehnsuchtsmusenanregungsreisen schlägt - schließt sich der kreis - und spaghetti bekommen eine direkt poetische, symbolhafte bedeutung auf deutschen bühnen der vergangenheit..daß sich das fernsehen dies aneignet, ist im zuge der vereinahmung durch den kommmerz in unsere konsumgesellschaft eine ganz normale, banalisierende entwicklung dieses versuchs, ein lebensgefühl einer gesamten (westlichen, später nach dem mauerfall auch östlichen) nostalgiebetupften, den süden verklärenden lebensgefühls auszudrücken....
außerdem trage ich niemals trainingsanzug, die sind seit den neunzigern doch völlig out, genauso wie schwarze brillen für regisseure...- und außerdem: bin ich viiieeeel älter als 36, und echt stolz drauf...weil ich auch noch viiieeeel jünger als 36 aussehe..
und immer noch und trotzallem spaghettis liebe..auch in menschlicher form..wenn sie wissen, was ich meine!! (auch letzteres - achtung - ist ironisch, das lasse ichmir dann doch nicht nehmen!)