Am kapitalistischen Lack kratzen

von Andreas Klaeui

Zürich, 18. September 2009. Gottfried Kellers Roman "Martin Salander" erzählt das Erwachen aus einem Traum: dem Traum der jungen Schweiz von einem Staat, der vom bürgerlichen Gemeinsinn regiert ist, kein hässlicher Steuereintreiber ist, sondern eine Sache aller mit allen. Knapp vierzig Jahre nach der Gründung des Bundesstaats, die Keller 1848 in "vaterländisch" hochgestimmten Liedern gefeiert hatte, erzählt er in "Martin Salander" die Ernüchterung.

Martin Salander kehrt aus Brasilien nach "Münsterburg" zurück, einer Stadt, die unweit von Kellers Seldwyla liegen muss und einige Ähnlichkeit mit Zürich hat. Der ehemalige Lehrer hat in Südamerika mit Geschäftsgeschick sein Vermögen wiedergewonnen, das er durch einen windigen Jugendfreund mit dem sprechenden Namen Wohlwend verloren hatte. Und mehr als das, er kehrt als reicher Mann zurück – um zu erfahren, dass er erneut ruiniert ist, durch eine betrügerische Transaktion, hinter der wiederum Wohlwend steckt.

Skrupellos auf den eigenen Vorteil bedacht
Zum zweiten Mal arbeitet sich Salander hoch, die Familie darbt tapfer, abermals kann er als erfolgreicher Geschäftsmann aus Brasilien heimkehren, wohlsituiert und respektabel, und sich endlich seiner alten Lehrerleidenschaft widmen: der Politik und dem Aufbau des neuen Gemeinwesens. Hier folgt die Ernüchterung. Die Schweiz, die der Heimkehrer real antrifft, ist weit entfernt von seinen Idealen. Zum Beispiel seine Schwiegersöhne Julian und Isidor Weidelich: Zwillinge und Jungpolitiker, die sich als seelenlose Parvenus entpuppen, skrupellos auf den eigenen Vorteil bedacht. Sie lassen sich nicht voneinander unterscheiden (eigentlich eine gruselige Diagnose für die Schweiz!), ihre Parteizugehörigkeit würfeln sie aus. Am Ende landen sie im Zuchthaus.

Auch Wohlwend stellt dem alternden Salander wieder Fallen, so in Person einer schwachsinnigen Femme fatale, fast macht der treuherzige Idealist sich vollends zum Narren – Desillusionierung auf der ganzen Linie. Einzig Sohn Arnold ist ein Hoffnungsträger. Er verkörpert den verantwortungsvollen, mündigen Citoyen. Allein, ihn und seine Freunde zeichnet Keller am Romanende derart gespenstisch brav und anstansdrall, dass man es nicht recht glauben mag.

Zeitgeistige Motivation und moderne Direktheit
Thomas Jonigk bearbeitet den Roman mit Sensibilität dem Thema und Skepsis dem Traum gegenüber. Er putzt Kellers Stoff munter durch und strafft ihn hier, gibt ihm da eine neue Falte. So wenn er als quintessentielles Beispiel einer neuen Reglementierwut in Münsterburg das "allgemeine Tabakverbot" anführt. Auch die Zwillinge lassen sich bei ihm unterscheiden, anhand der "gespaltenen Zunge" des einen, das ist eine Anspielung auf die neue Indianer-Metaphorik in der Schweiz, die Keller hätte goutieren können. Gelegentlich plättet Jonigk Kellers Stoff auch ein wenig, gibt den Figuren zeitgeistige Motivationen oder eine moderne Direktheit.

Vor allem misstraut er dem allzu plakativen Frieden in Salanders redlicher Familie. Die Töchter Netti und Setti maulen wie heutige Teenies; Salanders späten Liebesfrühling, von Keller trocken als "pedantische Liebelei" taxiert, staffiert er nach der heute aktuellen Beziehungsmode aus. Er verrät aber den trockenen Kellerschen Tonfall nicht, diesen alten Schweizer Ton, mit seinem kaustischen Witz, dem kauzigen Understatement – es gibt einem ja einen Stich ins Herz, wenn man Kellers Roman liest: uneingelöste Utopien.

Tolle Spielvorlage
Jonigk kratzt am kapitalistischen Lack des geradezu unheimlich rechtschaffenen Kaufmanns Salander, der nüchtern betrachtet doch auch einigermaßen selbstgerecht auftritt – was waren das überhaupt für Geschäfte in Brasilien? Dies ist allerdings ein Aspekt, über den Keller kein Wort verliert. Vor allem sieht Thomas Jonigk Salanders Sohn Arnold wesentlich zynischer als Keller. Der nicht unsympathisch gezeichnete Bildungsbürger, in dessen Anständigkeit Keller noch einige Hoffnung setzte, entpuppt sich in seinen Augen als humorloser, glatter Streber: auch keine Alternative zu den ununterscheidbaren Zwillingen und gesellschaftlich gesehen eine Bankrotterklärung.

Das ist als Bearbeitung sehr geschickt und eine tolle Spielvorlage. Stefan Bachmann nutzt sie äußerst spielerisch. Er situiert die Erzählung im Raum von Hugo Gretler und mit den Kostümen von Esther Geremus in den Schweizer fünfziger Jahren. Auch dies war ja eine Zeit, in der – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ein Neubeginn möglich schien.

Wunderbare Konkretisierung
Die Bühne ist breit und wenig hoch, wie ein Filmstreifen, in einer Beleuchtung mit Schwarz-Weiß-Effekt wirken die Figuren, als kämen sie direkt aus einem der legendären Schweizer Filme dieser Zeit, "Oberstadtgass", "Bäckerei Zürrer", "Polizischt Wäckerli" und wie sie alle hießen, ihre Titel decken das übersichtlich bürgerliche Spektrum schon ab.

Stefan Bachmann schaut milde darauf. Auch er ist ja ein Heimkehrer, in die Schweiz und nach Zürich. Er nähert sich Kellers Stoff mit offensichtlicher Sympathie, und behält dann auch eine liebevolle Distance. Sie zeigt sich in szenischem Humor – wenn sich etwa urplötzlich die Besucher einer Ratsversammlung in die Kühe aus Vater Weidelichs Stall verwandeln, das ist ein Muhen und Wiederkäuen, Glockenläuten, Mistgabelführen, dass jedem Heimatfilmer das Herz höher schlüge.

Dann wieder gibt es auch Platz für ganz zarten Volksliedgesang oder die wunderbare Konkretisierung von drei Jahren Abwesenheit und Monotonie nur in der repetierten Folge der Kalendermonate. Im Augenblick, da sich die beiden Familien verbinden, die idealtypische von Salander und die neureiche der Weidelichs, wechselt das Licht: Von nun an spielt die Geschichte in Farbe, die Fiktion ist zu Ende, nun ist Salander in der Realität angelangt.

Talmi-Glanz der neuen Gesellschaft

Stefan Bachmann führt die Erzählung sehr linear zu Ende, mit seiner immer aufs neue überraschenden szenischen Phantasie und Verspieltheit im Detail. Es geht von den Maggi-Ménagèren beim demokratischen Hochzeitsfest bis zum Talmiglanz der neuen Gesellschaft, dem falschen Schein von Blondhaarperücken und gefärbten Schnurrbärten, und ist etwas kauzig und ungemein treffsicher, unterspielt und zugleich durchaus deutlich.

Daran haben natürlich auch die Schauspieler ihren Anteil – Gottfried Breitfuss, der seinem Salander den redlichsten Biedersinn gibt, Susanne-Marie Wrage als seine brave Frau, ganz holdes Bescheiden, Friederike Wagner in der Rolle der aufstrebenden Amalie Weidelich mit vulgärem Mutterwitz. Und Jean-Pierre Cornu als honoriger Möni Wighart, und die Jungen, und und und: Es hat sich ja ein äußerst vielversprechendes Ensemble in diesen ersten Inszenierungen am Schauspielhaus vorgestellt.

Zürich scheint wieder ein gutes Pflaster für Theater zu werden, auch übers Schauspielhaus hinaus gesehen. Und wer etwas über die Schweiz und Zürich erfahren will, der sollte sich diesen "Martin Salander" anschauen.

 

Martin Salander
nach dem Roman von Gottfried Keller
Theaterfassung von Thomas Jonigk (UA)
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Esther Geremus, Licht: Ginster Eheberg. Mit: Gottfried Breitfuss, Susanne-Marie Wrage, Franziska Machens, Miriam Maertens, Niklas Kohrt, Jean-Pierre Cornu, Miguel Abrantes Ostrowski, Friederike Wagner, Patrick Güldenberg, Sean McDonagh, Nicolas Rosat.

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr lesen? Am Wiener Burgtheater inszenierte Stefan Bachmann im März 2009 Botho Strauß' Trilogie des Wiedersehens. Im September 2008 brachte Bachmann im Berliner Maxim Gorki Theater Thomas Manns Roman Der Zauberberg auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

Es sei ein schönes, souverän spielendes Ensemble, "was uns die neue Schauspielhaus-Leitung da präsentiert", schreibt Simone Meier im Zürcher Tagesanzeiger (21.9.). Trotzdem hätte sie sich einen "packenderen Zugriff" auf den Stoff gewünscht, wird ihr nicht klar, "wo genau denn jetzt der Fokus in der Bearbeitung von Thomas Jonigk liegen soll. Am gelungensten sind aus ihrer Sicht "alle ironischen und besonders die musiktheatralischen Einlagen" und der Höhepunkt des Abends sei, "als alle gedämpft zum traurigschönen 'Guggisberg'-Lied ansetzen und dann der Bauer Jakob Weidelich (Miguel Abrantes Ostrowski) mit einer Mistgabel voller Kuhglocken vorbeigeht, sie an die anderen verteilt und diese sich in dumpf muhende Kühe verwandeln."

In einen "putzig karikierten Schweizerspiegel" hingegen hat Barbara Villiger-Heilig für die Neue Zürcher Zeitung (21.9.) geblickt. Am Schauspielhaus Zürich schrumpften die zwei Jahrzehnte, durch die sich der Roman ziehe, auf zweieinviertel meist unterhaltsame Stunden. Jonigks Adaptation arbeite auch griffige Handlungsstränge heraus, die Stefan Bachmann auf Hugo Gretlers Bühne "in wunderhübsch choreografierte Tableaus" umsetze. Allerdings modelt Bachmann aus Sicht der Kritikerin "die Vorlage reichlich billig um, indem er Kellers zeitkritisches Sittengemälde manchmal liebevoll, manchmal blödelnd ironisiert." Der Tonfall des Abendds sei zwar "milde und sanft" aber "unverkennbar mokant". Boshafte Schlaumeier seien eben theatertauglicher sind als aufrechte Gutmenschen.

"Schmunzeltheater zweier Besserwisser" erkennt Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.9.) in Stefan Bachmanns Inszenierung von Thomas Jonigks Keller-Bearbeitung. "Man hat nichts von einer Krise. Sondern Oberflächenaufsagerei. Keiner verwandelt sich. Alle stehen nur neben sich, berichten, was sie gerade tun - und haben nichts zu nagen und zu beißen." Offensichtlich würden Bachmann und Jonigk "niemanden für wert erachten, irgend ein Schicksal, einen Traum noch im Scheitern erleben zu dürfen. Und alle beiseitewischen im Gefühl, wie herrlich weit sie es doch gegenüber den Deppen von damals gebracht haben." Dabei sei 'Martin Salander' Kellers Abrechnung mit der Welt (seiner Welt) als Krise und Zerfall. Und zwar "schärfer, bitterer, ungemütlicher", als es Thomas Manns ein Jahrzehnt später in Angriff genommene gemütsironische 'Buddenbrooks' fertigebracht hätten. In Zürich sehe man "nur einen Achtel-Salander" und der Schauspieler Gottfried Breitfuss zeige auch "keinen schillernden Glaubens- und Republiktraum-Tänzer, keinen mythenseligen Illusionisten, den die Realität entzaubert" sondern einen "breiig-teigigen, dumpf-braven, leicht schleimigen Gemütsspießer, dem gerade recht geschieht. Seine Träume sind allenfalls lächerliches Allotria, das er schnaubend und greinend an einem übersteuerten Mikrophon kitschig singend von sich gibt."

"Wesentlich" wiederum findet Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (21.9.) diese Adaption. Thomas Jonigk habe Gottfried Kellers Roman "in eine schlanke, von zarter Komik getragene Stückfassung überführt, eine freundliche Übernahme." Und Stefan Bachmann serviere in seiner Inszenierung auf der Pfauenbühne "die Aktualität eher unterschnitten, fast beiläufig. Im Kern betreibt er Mentalitätsforschung, also auch Schweizer Nabelschau und verlegt die Handlung in die fünfziger Jahre, jene letzte Phase vermeintlich ungebrochener Idyllik." Allerdings beginne die Inszenierung zunächst protestantisch-lustfeindlich als "sprödes Erzähltheater und großes Stühlerücken. Die Schauspieler sitzen auf Gartenstühlen in einer Reihe und spielen sich die Bälle zu. Doch Sitztheater ist ungefähr so aufregend wie Sitzfußball." Auch wolle die Inszenierung "den Moralismus der Vorlage unterlaufen und Kellers fragwürdige Unterscheidung zwischen gutem und bösem Kapitalismus aushebeln". Dabei liegt die Aktualität des Romans für Schmidt auch darin, dass "Kellers erhobener Zeigefinger auch unserer ist. Stefan Bachmanns dramaturgische Ökonomie aber "erkauft sich ihre Neigung zum Putzigen damit, dass sie dem Zuschauer das Denken abnimmt."

"Ähnlich desaströs" wie Barbara Freys "Maria Stuart" verlaufe die Adaption von Gottfried Kellers "Martin Salander" auf der Pfauenbühne, so Wilhelm Hindemith in der Frankfurter Rundschau (22.9.). Jonigk, der den Roman für die Bühne bearbeitet hat, "kratzt nur ein wenig an der Kellerschen Moral", und seine dürre Sprache reiche nicht aus, dem Schweizer Populärstoff Aktualität zu geben. "So entwächst den steifen Dialogen und der schulmäßigen Inszenierung Stefan Bachmanns ein harmloses Geschichtchen, eher für eine Vorabendserie als für große Bühne."

 

 

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