Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (2) - Wengenroths Schillerbefragung
Vom Regime des Pillers
von Christian Rakow
Berlin, 9. November 2009. Da sind wir also zurück, im Studio der Schaubühne beim Großzeremonienmeister des doppelbödig poppigen Serientheaters. Im schwarzen Adidas Anzug, wie beim Auftakt vor knapp zwei Monaten, eröffnet Patrick Wengenroth diesen zweiten Teil seiner Theater-und Gesellschaftstheorie-Reihe nach Schiller. Wieder mit Apple-I-Book. Doch etwas ist neu: Der Meister trägt eine Spange im Haar und gibt damit gleich einen Wink auf das Anliegen dieses Abends.
Im ersten Teil fehlten die Frauen, zitiert der betont servicefreundliche Regisseur eine Kritikerstimme. Das soll sich heute ändern. Fürwahr! Nach einer halben Stunde erscheint Judith Rosmair inmitten der siebenköpfigen Männerrunde, die der Regisseur hier um sich schart, und kokettiert hauchzart mit Schillers "Das Mädchen aus der Fremde". Später führt sie die Jungs in einer größeren Gruppenchoreographie (von Anne Retzlaff) per Moonwalk in den Popolymp: "Girl, you know it's true" lässt Wengenroth dazu erklingen und textet: "Girl, hör mir mal zu, die ich lieb bist du".
Patriarchale Selbstfeier
Fabulös und gleichzeitig des Pudels Kern. Nach den Vater-Sohn-Konflikten des ersten Teils (die im Wesentlichen entlang der Regietheaterdebatte um Daniel Kehlmann entwickelt wurden), widmet sich dieser zweite Schillerabend den Lockungen des Weibes bzw. der Übermacht des Eros. Im Anschluss an den "Handschuh" (von Franz Hartwig im Tigerkostüm herausgeschnurrt) doziert Ulrich Hoppe über die "Vagina dentata" (die bezahnte Vagina) und Freuds Theorie der Kastrationsangst. Vom Penisneid gelangt der siebenfaltige Männerbund schnell zum Geniekult: "Goethe ist Pop, Schiller ist Rock'n Roll", heißt es. Im Zeichen dieser Rivalität probt man die patriarchale Selbstfeier.
Robert Beyer schmiert zu den Klängen von Enigma/Michael Cretu einen öligen Faust übers Stehpult und prahlt "Wer nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben." Tilman Strauß lässt an einer Kletterstange seinen Franz Moor ähnlich hangeln wie Max Hopp seinen Prometheus jüngst in der Volksbühnen-Agora. Sebastian Schwarz rettet seinen tapsigen Siegfried aus Marius von Mayenburgs Nibelungen von nebenan herüber. Überall sind Selbstzitate versteckt, durchmischt von herrenwitzigen Kalauern: "Ich stehe hier am Schiller-Pult, daran ist nur mein Piller Schuld".
Es fehlt die Folie
Aber eben dieses Regime des "Pillers", dieser männliche Herrschafts- und Schöpfungsanspruch, wird in der Folge auseinander genommen. Stefan Stern besinnt sich unter der Perücke von Alice Schwarzer auf das Projekt der Emanzipation (der Frauen, der Juden, der Afroamerikaner). Von den Reizen der Sexualität befreit sich die Inszenierung in einer minutenlangen Anspielung auf den Prolog von Lars von Triers neuem Film "Antichrist": Im Schneeregen kauert da Judith Rosmair als Opfer einer inzestuösen Vergewaltigung, während Nico Selbach sie singend erhöht mit Händels Arie "Lascia ch'io pianga mia cruda sorte" (Lass mich beweinen mein grausames Schicksal). Im Finale triumphiert Rosmair dann als jungfräuliche Heldin Johanna von Orleans mit der Botschaft "Yes, we can!".
An starken Bildern und Zitaten mangelt es der Inszenierung nicht. Doch wirkt sie indirekter und verstiegener als der erste Teil. Es fehlt eine griffige Folie, wie Kehlmann sie im September abgab, um die herausfordernden Assoziationen zu ordnen. Manches, wie Sloterdijks Eros-Theorie (die den Orgasmus als durch und durch konservative "Schlüsselerfahrung der Postmoderne" apostrophiert), wird angetestet und verworfen. Lieder sprießen, wo vormals konzentrierte Szenen und Anekdoten standen. In dem umzäunten, von Diskolicht bestrahlten Lapdance-Ring (von Bühnenbildnerin Mascha Mazur) ist die Show greller und opulenter, weil dramaturgisch loser. Für Fans und/oder Kenner der Psychoanalyse ist dieser Abend nichtsdestotrotz ein Muss. Für Um-die-Ecke-Denker und Freunde raffiniert aufgepeppter Schlagermusik sowieso.
Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben in drei Teilen. (Teil 2)
von Patrick Wengenroth nach Friedrich Schiller
Realisation: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Matze Kloppe; Choreographie: Anne Retzlaff.
Mit: Robert Beyer, Franz Hartwig, Ulrich Hoppe, Judith Rosmair, Sebastian Schwarz, Nico Selbach, Stefan Stern, Tilman Strauß, Patrick Wengenroth und Matze Kloppe.
www.schaubuehne.de
Mehr zu Patrick Wengenroth: Bevor er begann, sich mit Theatertheorie zu befassen (hier geht's zum ersten Abend an der Schaubühne im September 2009), inszenierte er im Dezember 2008 Festung von Rainald Goetz am Berliner HAU.
Mehr zu Daniel Kehlmann: seine Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hat auch im nachtkritik-Forum für Diskussionen gesorgt.
Kritikenrundschau
"Die gute stehende Schaubühne sollte besseres wirken," befindet Peter Hans Göpfert im Deutschlandradio (10.11.), der "das Ganze" bei aller Liebe zu Satire und Albernheit "ziemlich zusammengeschustert" findet. Teil 1 habe Patrick Wengenroth Daniel Kehlmanns Salzburger Regietheaterrede zerfleddert. Diesmal werde "geschloterdeikt": eine transvestitische Alice Schwarzer referiere, auf dem Umweg über Börne, über den Zusammenhang von Juden- und Frauenfrage. Freund Goethe geriere sich mal als Faust und schliddere zu Mignon und den Zitronen. "Und irgendwie kommen Michael Jackson, Obama und die Jungfrau von Orleans in einen Zusammenhang." Zwischendurch eine Tuntenzote, und die Ballade mit Kunigundes Handschuh werde von einem Tiger referiert "und dann sozusagen sexualpsychologisch gedeutet."
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