Ödipus auf Kolonos - Jossi Wieler inszenierte Sophokles
Ein ungemütlicher Platz
von Willibald Spatz
München, 27. September 2007. Das Elend hat Platz genommen und bewegt sich nicht mehr fort; es trägt den Namen Ödipus und hat die Gestalt des Schauspielers Stephan Bissmeier. Unverrückbar sitzt er unter spastischen Zuckungen am rechten Bühnenrand, zupft an sich herum, würgt verzweifelte Worte aus sich heraus und wartet auf ein Ende.
Die Münchner Kammerspiele haben sich für ihr Eröffnungswochenende das Motto "Migration" ausgesucht. Die erste Premiere, "Ödipus auf Kolonos", die letzte Tragödie des Sophokles, ist ein echtes Migrationsstück. Ödipus, der sich einmal für unendlich schlau hielt, hat versehentlich das Dümmste verbrochen, was man sich vorstellen kann, und findet nach langem Umherirren im Athener Vorort Kolonos einen Tempel, in dem er um Asyl betteln kann. Dort sitzt er nun, bis er stirbt, wozu er dann durch die Zuschauerreihen nach draußen geht. Er will eigentlich nichts von der Welt, er glaubt an keine Erlösung mehr, an keine Vergebung der Götter, nachdem sie oder das Schicksal ihn schon einmal reich beschenkt und anschließend unsagbar betrogen haben.
Die lieben Kinder …
Der Held stirbt am Ende, so oder so, er windet sich unter seiner Seelenschuld. Der Chor, der aus dem Off gesprochen wird, bestärkt ihn in seiner Selbstpeinigung: "Nicht geboren zu werden, ist das größte Glück." Bei einem einzigen Satz nur steht er auf. "Unfreiwillig nahm ich sie." Er redet von seiner Mutter Iokaste, die er geheiratet hat und mit der er Kinder hatte. Die Töchter sind bei ihrem Vater. Antigone begleitet ihn. Annette Paulmann steht züchtig und verlegen hinter ihrem Vaterbruder. Ismene treffen sie wieder. Auch sie kümmert sich um den Vater oder gibt vor, es zu tun, sein Bestes zu wollen. Caroline Ebner hält noch größere Distanz zum Alten, sie dreht ihm den Rücken zu, was der Blinde wohl nicht bemerkt, aber trotzdem ein deutliches Zeichen ist: Die beiden Schwestern hätten den Ödipus, die Sorge um ihn, gern los. Schnell und, wenn’s irgendwie möglich wäre, zu seinen Gunsten.
… und die verlogenen Verwandten
Dann umringen sie ihn. Die verlogenen Verwandten, weil sie noch mal was wollen. Das Verhängnisorakel von Delphi hat gesprochen. Jetzt heißt es, wer Ödipus bei seinem Tod beherberge, dem blühe großes Glück. Der Polyneikes von Edmund Telgenkämper und der Kreon Hans Kremers verstellen sich nicht großartig. Sie fordern unverhohlen ihr Recht. Ödipus ist dem Tod geweiht, jetzt soll er sich nicht anstellen und wenigstens mit seinem Fortscheiden aus der Welt noch zu etwas nützlich sein.
Kreon grapscht schamlos an Antigone herum und entführt sie sogar mit Ismene. Wenn sich der Alte auch noch so anstellt, wird er doch immerhin noch ein bisschen Vaterliebe in seiner verdorrenden Brust tragen. Polyneikes, Ödipus' Sohn, will gegen Theben und gegen den Bruder ziehen, er will auf den Thron um jeden Preis. Er umtänzelt seinen Vater in der Hocke, eine schmierige Person, die es eigentlich nicht verdient hat, dass ihretwegen eine Antigone ins Verderben gerissen wird. Einzig Theseus, Herrscher von Athen, dargestellt von Sylvana Krappatsch, versucht, Ödipus zu verführen. Sie schleicht sich von hinten an ihn ran und fasst ihn bei der Schulter. Am Schluss wird sie gewinnen und Ödipus allein in den Tod begleiten dürfen als ein Triumph für die Demokratie.
Dunkel, hart und unbarmherzig
Jossi Wieler versucht in seiner Inszenierung ebenfalls nicht, seine Zuschauer zu verführen. Es handelt sich hier um eine umbarmherzige, harte Angelegenheit. Der Tempel ist ein strenger Kasten an der Seite, durch die Mitte schlängelt sich ein zaghaftes Bächlein; aus dem dunklen und dämmrigen Hintergrund schälen sich die Schauspieler aus ihrer Warteposition nach vorne, um einen statischen Besuch am Sterbestuhl des Ödipus abzustatten. Dieser Ort des Exils ist kein Ort der Hoffnung. Hier wird es auf jeden Fall ungemütlich, wenn man bleibt. Ratlos und verlassen stehen Ismene und Antigone am Rand nach dem Tod des Vaters, nach dem sich auch der schwarz gekleidete Chor zum ersten Mal zeigt. Ein schwerer Spielzeitauftakt, der umso stärker wirkt im Kontrast zu dem, was sich auf Münchens Straßen abspielt, wo gerade der prall-dumpfe Oktoberfesttaumel tobt.
Ödipus auf Kolonos
des Sophokles
Regie: Jossi Wieler; Bühne: Barbara Ehnes; Kostüme: Nadine Grellinger; Musik: Wolfgang Siuda, Charlotte Hug. Mit: Stephan Bissmeier, Annette Paulmann, Caroline Ebner, Hans Kremer, Edmund Telgenkämper, Sylvana Krappatsch.
www.muenchner-kammerspiele.de
Kritikenrundschau
Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (29.9.2007) findet Jossi Wielers Inszenierung beeindruckend: Es gebe weder Auflehnung, noch Reinigung, sondern nur "ewiges Erinnern", wobei Stephan Bissmeier den Ödipus so zögernd spreche, "als sei er mit dem Blindenstock auch in der Welt der Wörter unterwegs". "Die Aufführung ist mutig, weil sie allen Versuchungen, sich aufzublähen, widersteht, sie ist konzentriert und von emotionaler Präzision." Aber: Das politische Thema, um das es in diesem "Stück gedichteter Weisheit" gehe, werde "nicht berührt". Dass der Rechtsstaat "die wahre Heimat" des Menschen sei, "nicht die Polis, von deren Boden man stammt", werde bei Wieler nicht deutlich.
Auch Gerhard Stadelmaier hält die politische Dimension des Stückes in der Inszenierung für unterbelichtet. "Im 'Ödipus auf Kolonos' wird nicht mehr die Schuld des Ödipus verhandelt, sondern seine Unschuld erwiesen: als eine von Göttern auferlegte Schuld", schreibt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2007). Bissmeier spiele nun aber allenfalls einen "zu Unrecht gekündigten Angestelltenschnösel", und von wem sei "so ein Schnödipus" denn heutzutage zu erlösen? In der Antwort findet er gleichzeitig die Erklärung dafür, dass Theseus von einer Frau (Sylvana Krappatsch) gespielt wird. Auch dass alle sich immerzu kratzen würden, helfe der Sache nicht: "Es juckt uns nicht."
Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2007) stellt, etwas trivialer, ebenfalls eine Entpolitisierung dieser Ödipus-Tragödie durch Jossi Wieler fest (nicht verhandelte Asylproblematik) und zieht nur geringen Nutzen daraus: "Diese Subjektivierung hat den Vorzug, viele Dialogschleifen abzukürzen (...), entwertet aber auch die übrigen Figuren zu Trabanten des Zentralgestirns Bissmeier." In der "hochdiskreten Inszenierung der kleinen Gefühlsexplosionen" sei Ödipus als Beckett-Figur entworfen: "Bissmeier spielt – überragend – die Palliativphantasien eines alten Mannes, den jede Bewegung schmerzt, und der doch von diesem Schmerz lebt wie von den Zinsen eines unermesslichen Vermögens. Ein Unglücks-Millionär."
An ein "Endspiel" war auch Alexander Altmann von der lokalen tz (29.9.2007) erinnert, allerdings an ein "seltsam unverbindliches", was ihn dann aber doch nicht stört, weil das Unterspielte, Vernuschelte, Geklitterte zeige, dass die Figuren sich und ihrer Welt so fremd geworden seien, "dass ihre Worte und Gesten nicht mehr übereinstimmen". Die Details habe Wieler "gewohnt meisterlich durchgearbeitet". "Eigentlich" sei auch das Konzept interessant, die Heimatlosigkeit als eine innere zu begreifen, und "irgendwie" passe das ganze zum neuen Spielzeitmotto. Dennoch springe der Funke nicht über. Der "gespenstisch-kühle Talkshow-Klassizismus dieser Inszenierung" sei nur mit "kurzem, höflichem Applaus" bedacht worden.
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