Maria Stuart/Don Karlos - Nicolas Stemann und Stephan Kimmig inszenieren Schiller
Abschied von den Prinzipien
von Dirk Pilz
Hamburg/Berlin, 24. Februar 2007. Als ein "dramatisches Gedicht", das "den Menschen zu rechtfertigen" versucht, wollte Schiller "Don Karlos" verstanden wissen. Nicolas Stemann hat mit seiner jüngsten Inszenierung am Berliner Deutschen Theater den Menschen nicht gerechtfertigt, sondern als unbegreiflich vorgeführt. Stemanns "Don Karlos" zeigt keinen Konflikt verschiedener Herrschaftsprinzipien, sondern unterschiedliche Spielarten des einen Menschenschlages. Alles überforderte Zeitgenossen, die auf der hell erleuchteten Drehbühne von Katrin Nottrodt zappeln. Getrieben von seelischer Unordnung sind sie, keine Träger von sicheren Idealen.
Man sieht es ihnen an. Vor dem Vorhang ist zu Beginn eine Reihe schnöder Stühle aufgestellt. Der Hofstaat nimmt Platz und sendet aufreizende Blicke in die Zuschauerreihen. Jede Figur veranstaltet ihr eigenes, stummes Blickdrama. Bis auf Don Karlos. Er hockt an der Seite, wühlt in den Haaren. Dieses in die Welt gefallene Kind wahrt nicht die Fasson und weiß nicht, wie Geheimnisse gehütet gehören. Er ist zur hemmungslosen Veröffentlichung seiner seelischen Verfasstheit verurteilt. Don Karlos taumelt vor schäumendem Herzen, schwankt unter dem Angriff der Affekte. Er ist das nervöse Zentrum eines nuancenreichen Figurenorchesters.
Und dann: Auftritt Alexander Khuon als Marquis von Posa. Jeans, T-Shirt, lässiger Gang. Die "schönen Tage in Aranjuez" sind endgültig vorüber, wenn dieser abgezockte Machtanalytiker die Bühne betritt. Ihr Ende wird im Laufe der drei Stunden mehrfach verkündet und die Inszenierung immer wieder auf diesen umgeschriebenen Anfang zurückverweisen. Der Text wurde dabei so verändert, dass nie jemand allein ist und jeder jeden zu beobachten scheint. Man könnte auch sagen: Stemann zeigt eine Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr über den Weg traut.
Tragödie des Misstrauens
Deshalb die Kameras, mit der die Bühne bespitzelt wird, deshalb der Großinquisitor zum Schluss als Überwachungsduo vor einem Fernseher. "Don Karlos" als hypermoderne Tragödie uralten Misstrauens. Dass daraus kein papiernes Thesendrama wird, ist vor allem dem hinreißend vertrottelten Affektbündel Philipp Hochmair als Karlos zu danken, der an Vater Philipp auch deshalb zerschellt, weil Ingo Hülsmann ihn mit Eitelkeit umschillert. Daneben agiert eine hochkonzentrierte Katharina Schmalenberg als Königin und eine erstaunlich transparente Constanze Becker als Prinzessin Eboli. Allesamt sind sie aber keine Prinzipienreiter, sondern Opfer jener Umstände, die sie selbst geschaffen haben.
Das verbindet diesen spielfreudigen, energiegeladenen Abend mit Stephan Kimmigs streng nüchterner "Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater. Auch er hat den Gegenwartsmenschen mit den Augen Schillers studiert. Sein Blick ist dabei wie der durch ein Mikroskop. Ein Video am Anfang zeigt graue Zellen, die sich teilen und bald den gesamten Gaze-Vorhang bedecken, hinter dem Maria Stuart auf einem Hinrichtungsstuhl thront. Dieser Einstieg hat hohen symbolischen Gehalt: Schillers Trauerspiel ist in eine Laborsituation versetzt. Entsprechend zielt die Inszenierung weder auf ein Charakter- noch auf ein Geschichtsdrama, sie prüft vielmehr eine Hypothese über das menschliche Verhalten. Die Hypothese, dass Menschen mehr Beute als Bändiger ihrer Leidenschaften sind. Kimmig macht mit "Maria Stuart" die Probe auf die Haltbarkeit von Moral, Meinungen und Bühnenästhetiken. Auch der eigenen.
Die Mechanik des Unglücks
In dem nach vier Seiten offenen Betonbunker seiner Dauerbühnenbildnerin Katja Haß begegnen sich lauter Anzugmenschen wie die Rädchen eines unerbittlichen Macht- und Liebesspiels. Gezeigt wird aber nicht der edle Kampf zweier Starkfrauen, sondern die gnadenlose Mechanik des Unglücks. Sie folgt noch denselben Regeln wie bei Schiller, Kimmig jedoch nimmt "Maria Stuart" nicht als Lehrbeispiel einer erhabenen Gesinnung, sondern als Studie über die Einsamkeit. In jeder Figur entdeckt er eine eigene Facette der Verlassenheit. Maria ist bei der großartigen Susanne Wolff ein vor Stolz zitternder Wut- und Racheengel. Gefesselt auf ihrem Hinrichtungsstuhl zelebriert sie die Würde der Missverstanden, die an der Herzensdummheit ihrer Mitmenschen leidet. Paula Dombrowski lässt ihre Elisabeth dagegen zu einer weiß geschminkten Machtstatue werden, in deren Innerem unverstandene Gefühle toben. Wenn sie sich gegenüber stehen, treffen verschiedene Seiten ein und derselben Angst vor dem Einsamsein aufeinander. Nicht anders die männlichen Mitspieler: Sie sind allesamt Versionen der einen Urangst. Burleigh wird zum bösen Komiker (Peter Jordan), Leicester zum feisten Feigling (Werner Wölbern). Kimmig bestätigt damit seine Ausgangshypothese: Er zeigt den Menschen als heillos Verwickelten.
Die Aufklärung hat nicht die Seelen, nur das Denken darüber verändert. Schiller hat das geahnt, Stemann und Kimmig haben es durchbuchstabiert. In zwei sehr verschiedenen Schiller-Vergegenwärtigungen, die sich aus einem gemeinsamen Impuls speisen: dem Abschied von haltbaren Macht- und Liebesprinzipien.
Don Karlos
von Friedrich Schiller
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Esther Bialas, Musik: Arvild Baud, Video: Claudia Lehmann.
Mit: Constanze Becker, Michael Gerber, Philipp Hochmair, Ingo Hülsmann, Stefan Kaminski, Alexander Khuon, Katharina Schmalenberg, Henning Vogt.
www.deutschestheater.de
Maria Stuart
von Friedrich Schiller
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Video: Helena Ratka.
Mit: Christoph Bantzer, Paula Dombrowski, Daniel Hoevels, Peter Jordan, Helmut Mooshammer, Christoph Rinke, Asad Schwarz-Msesilamba, Werner Wölbern, Susanne Wolff.
www.thalia-theater.de
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Grüße, Mignon
Die Maria Stuart von Kimmig scheint mir aber auch nach wie vor etwas überbewertet. Diese typische Kimmig-Ästhetik so merkwürdig farblos. Er reduziert das Stück auf seine rein politische Aussage. Aalglatte Bürotypen versuchen ihren Arsch an die Wand zu kriegen, keine Brüche, nur überall Karrieredenken. Susanne Wolf ist aber ein klaren Zugewinn fürs Deutsche Theater. Diese Inszenierung aus Hamburg in Berlin noch mal aufzuwärmen, zeugt dennoch wieder von der Armut an echten Alternativen zur Zeit.
Ihr Kommentar, Kimmig reduziere das Stück auf das Politische überrascht mich ein wenig. In meiner Empfindung tut er genau das Gegenteil: Er entpositisiert es und reduziert den Konflikt auf eine persönliche, ja psychologische Ebene. Ich empfand es als Diskurs über Angst und Einsamkeit, während Schillers Themen - Macht und Freiheit - außen vor blieben. Eine sehr konzentrierte und stimmige Inszenierung, die ich gern in Berlin sehe. Ganz nach dem Motto: Besser gut "aufgewärmt" als schlecht neu gekocht.
http://stage-and-screen.blogspot.com/
Vom Problem der Einsamkeit ist weit eher König Philipp geschlagen, der, damals von Hülsmann gespielt, sogar in Unterhose auf der Bühne auftauchte und sich in einer Selbstanalyse weit ab von seiner Gefolgschaft wähnte.
Aber wo findet sich das Problem der Einsamkeit wirklich konkret in „Maria Stuart“? Innerlich einsam fühlt sich jeder einmal, auch wenn er hundert Freunde um sich weiß. Weitaus gravierender ist das Gefühl der Angst – die Angst vor dem Macht- und Gesichtsverlust. Elisabeth ist es vor allem um den Machterhalt zu schaffen, genauso geht es auch ihrer Kamarilla, die die einmal erreichte Machtstufe erhalten möchte, um darauf weiter aufstufen zu können. In jeder Interaktion, in jeder Selbstanalyse steckt etwas Psychologie, wenn auch nur ein Hauch, ein zarter Anflug – Kimmig treibt die Psychologisierung bestimmt nicht auf die Spitze. Natürlich geht es um den Konflikt zweier Kontrahentinnen: Elisabeth kontrastiert absichtlich ihren enthaltsamen, nüchternen Lebensstil mit dem zu Ausschweifungen neigenden Lebenswandel Marias, die als Rivalin ausgeschaltet werden muss. Sicherlich ist das nicht nur ein politischer, sondern auch ein privater Machtkampf.
Nach Pilz hat also Schiller geahnt, dass die Aufklärung die Seelen nicht verändern kann. Für diese Erkenntnis muss man nicht das Ahnungsvermögen Schillers heranziehen. Die vordringlichste Aufgabe der Aufklärung war es, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entlassen. Die Seelen waren damals für die Kirche reserviert. Heute bleibt als letztes Reservat für verirrte Seelen vielleicht nur noch die Liebe.
Trotz Kimmigs offensichtlicher Modernisierungsleidenschaft passt das leicht futuristische Bühnenbild nicht zum Stück. Die durch Paravents geteilten Zimmer verströmen eine sterile, aseptische Atmosphäre, die an eine kalte Zukunftsgesellschaft gemahnt. Dann noch die vielen Anzüge, wie herausmontiert aus der Geschäftswelt, und Maria in Hauskleidung mit billigen Schlappen. Ich weiß nicht...
Ansonsten war das eine einigermaßen gelungene Inszenierung. Prospero sollte trotzdem nicht so sehr von aufgewärmter Küche schwärmen, die Nährstoffe gehen dabei verloren.
abgesehen von Susanne Wolf und Peter Jordan, die um ihr Schiller-Leben spielen, nur Behauptung und schmerzfreies Aneinandervorbeispielen.
Welch langweilige Gegenüberstellung zweier Welten, zweier Frauen, die sich laut Regie nicht im Ansatz auf Augenhöhe begegnen! Es geht um nichts, wo es um vieles, wenn nicht um alles gehen müsste! Wer bitte kann diese Elisabeth ernst nehmen, wenn deren Darstellerin und ihr Regisseur dazu schon nicht in der Lage ist? Keine Spur von Politik und Liebe, geschweige denn von deren Enttäuschungen.
Machen Sie sich mal um die Nährstoffe keine Sorgen, den geht es in dieser sehr schonend aufgewärmten Mahlzeit sehr gut. Ich stimme Ihnen soweit zu, dass Angst ein (vielleicht das) bestimmende(s) Motiv der Inszenierung ist, wobei ich wiederum Dirk Pilz' Analyse in Bezug auf die Einsamkeit teile, beides geht m. E. Hand in Hand. Ich empfinde das Bühnenbild als sehr gelungen, da es in seiner Kargheit, Schlichtheit und Kälte einen Raum zur Entfaltung dieser beiden Motive bietet.
@Stefan
Ich teile Ihre Einschätzung, Kimming mache Maria zur "Märtyrerin des reinen Gewissens", ganz und gar nicht. Er stellt vielmehr zwei einsame, von Angst getriebene Frauen auf die Bühne, die Auswege aus ihrer Einsamkeit und Mittel zur Überwindung ihrer Angst suchen, aufgrund ihrer unterschiedlichen Situation jedoch völlig verschiedene Optionen haben. Elisabeth hat die Gewalt, Maria die Resignation. Eine Idealisierung der Maria auf Kosten Elisabeths, wie sie ja bei schiller durchaus angelegt ist, vermag ich in Kimmigs Inszenierung nicht zu erkennen.
Susanne Wolff zeigt Maria Stuart als eine Frau, welche unbeeirrbar am katholischen Glauben festhält, allerdings ohne die liturgischen Rituale der katholischen Kirche zu akzeptieren. Sie betrachtet sich nicht als die sich demütig unterwerfende Frau, sondern sie kämpft allein für ihren Glauben. Am Ende verwirft sie in verächtlichem Ton die (männlich dominierte) Dreifaltigkeitslehre der Kirche ("des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes"). Sie verwirft die Erhebung der Hostie durch den Priester, welcher hier dann konsequenterweise auch gar nicht als Figur/Person auftritt/anwesend ist. Das spricht für die Freiheit des Glaubens, welcher allein aus dem radikalen Zweifel erwächst.
Katharina Marie Schubert dagegen verweist auf Elisabeth als eine Frau, welche gegenüber Maria Stuart ohne innere Überzeugung/Haltung/Entscheidungsfähigkeit ist. Das zeigt sich darin, dass Körper/Gestik/Mimik und Sprache auseinanderfallen, das heisst, ihre Bewegungen wirken abgehackt bzw. scheinhaft aufgesetzt und die Worte kommen ihr nur schwer über die Lippen. Letztlich ist es dann auch nicht Elisabeth, welche für den Tod von Maria Stuart die Verantwortung übernhemen will. Sondern sie schiebt die Entscheidung aus Angst vor den Konsequenzen ihrer politischen Handlungen den Männern zu, welche an ihrer Stelle die Strippen der (männlichen) Macht ziehen. Politik und Ethik sind - wie schon Platon wusste - oftmals schwer zu vereinbaren. Um die Souveränität über Tod oder Leben dennoch für die Masse der Bürger nachvollziehbar zu machen, muss diesen die Angst vor dem fremden Glauben implementiert werden (siehe z.B. Bushs "Kampf gegen das Böse"). So entwirft Elisabeth Ideologien, welche ihr im Grunde auch nicht behagen, welche sie aber als Königin/Herrscherin vertreten muss, um ihr politisches Handeln begründen zu können.
Eine tolle Inszenierung! Ein gelungener Kurzschluss zwischen vergangener und gegenwärtiger Politik.
Es ist meisterlich, wie sie an den Stuhl gefesselt mit minimalem Bewegungsspielraum eine gewaltige Palette von Gefühlen ausdrückt. Mal blickt sie in der Titelrolle mit einem leichten Zucken der Mundwinkel und mokantem Lächeln im Gefühl ihrer Überlegenheit auf ihre Gegner*innen herab. Mal windet sie sich in den Fessekn, krallt sich am Stuhl fest, versucht sich aufzubäumen und spuckt dabei Gift und Galle.
Die 3sat-Fernsehregie fängt diese Performance von Susanne Wolff mit einem geschickten Wechsel aus Totalen und Großaufnahmen auf Gesicht oder Hände ein, so dass diese „Maria Stuart“ zu den gelungenen Beispielen gehört, wie sich eine Theateraufführung, die längst nicht mehr auf dem Spielplan steht, wirkungsvoll auf den Bildschirm übertragen und konservieren lässt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/17/maria-stuart-theatertreffen-2008-kritik/