Zur schönen Aussicht – In Neuss legen Reinar Ortmann und Bettina Jahnke das boulevardeske Herz von Horváths härtester Komödie frei
Gierige Opportunisten
von Friederike Felbeck
Neuss, 7. März 2015. Sechs gleiche Türen und vergoldete Hirschgeweihe, ein üppiges Landschaftsbild mit Tapetentür und im Zentrum ein hellgrüner Tresen, der sich wie ein Karussell um seine eigene Achse dreht. Nach und nach tritt das skurrile Personal dieses schrägen Hotels in Erscheinung: da ist Max, der Kellner, ehemals Künstler, Karl der Chauffeur, ehemals Plantagenbesitzer und Totschläger, und da ist Hotelbesitzer und Pleitegeier Strasser, der – nomen est omen – einmal ein Hoffnungsträger des deutschen Films war.
Einziger Gast im heruntergewirtschafteten Hotel "Zur schönen Aussicht" ist die nymphomane Ada Freifrau von Stetten, die sich hier mit dem nötigen Kleingeld ein Planetensystem aus sexueller und materieller Abhängigkeit eingerichtet hat. Die Männer saufen Wein aus der Flasche und treten auf Zuruf zur dominanten Ada ins Boudoir, während Eartha Kitt "Dolce Vita" gurrt. Hinzu gesellt sich Adas spielsüchtiger Bruder, der bis zum Morgengrauen ein paar Tausender braucht oder eine Kugel im Kopf hat und schließlich der biedere Weinhandelsvertreter Müller, der offene Rechnungen eintreibt und doch nur nach kostenlosem Schweinsbraten lechzt.
Schauspieler preschen im schrill-schönen 1970er-Jahre-Look
Unter dem biegsamen Spielzeitthema "Weisheit" nimmt sich das Rheinische Landestheater Neuss beherzt Ödön von Horváths großartiger und selten gespielter Komödie "Zur schönen Aussicht" an. Horváth schrieb das Stück bereits 1926 – als Vorbild diente ihm das Hotel Schönblick in seiner Wahlheimat Murnau am Staffelsee. Die Uraufführung fand erst 1969 am Schauspielhaus Graz statt. Am Bayerischen Staatsschauspiel stellte 2000 der Regisseur Roberto Ciulli die Zeitlosigkeit und Utopiehaftigkeit des Textes hervor.
In Neuss übernahm nun der Chefdramaturg Reinar Ortmann für die erkrankte Bettina Jahnke die Inszenierung und führte den formalistischen Ansatz der erfolgreichen Neusser Theaterleiterin fort: Wie im Schweinsgalopp preschen die Schauspieler im schrill-schönen Siebzigerjahre-Look, mal kariert, mal pelzig oder im Schlangenhautimitat über die Untiefen von Horváths Text hinweg. Bis, ja bis eine dunkle Schöne namens Christine erscheint, ihres Zeichens Verfasserin von ungezählten vierseitigen Liebesbriefen in rosarot und himmelblau, allesamt unbeantwortet, die dem Hotelier Strasser die Folgen eines zweiwöchigen Urlaubsaufenthalts im Vorjahr beichten. Plötzlich ist in der Runde von "Liebe" und "Vorsehung", von "Sehnsucht" und dem "lieben Gott" die Rede. In ihrem weißen Seidenkleid gibt Shari Asha Crosson die Christine mit Blume im dunklen Haar als ebenso kess wie berechnend. So bricht sie klug mit der immensen Naivität und Unschuld des Originals.
Feige Kleinbürgerlichkeit
In einer Zeit lange vor DNA-Analyse und Vaterschaftstests geben die Männer vor, alle etwas mit Christine gehabt zu haben, um so die Unterhaltsforderungen vom verarmten Strasser abzuwenden. Hier nun leistet die Inszenierung Gewaltiges: In der sich auf dem Tresen drehenden Christine, die von den Lügen der Männer herumgeschleudert wird, entsteht ein bewegendes Bild für die Brutalität, die Horváths Stück innewohnt. Was zu Beginn des Abends wie ein Chargieren der Figuren wirkt, löst sich nun in dem improvisierten Spiel der Männer auf: Der erfundene Gangbang gerät zu einer verbalen Vergewaltigung, der Christine schließlich buchstäblich zu Boden gehen lässt. Erst als diese von einer überraschenden Erbschaft erzählt, wendet sich das Blatt und Max (Stefan Schleue), Karl (Jan Kämmerer), Müller (Georg Strohbach), "Bubi" von Stetten (Michael Meichßner) und Strasser (Andreas Spaniol) demaskieren sich als gierige Opportunisten, die schmierig um ihre neureiche Bachelorette buhlen.
Zu Horváth gehört es, dass er unterwegs in seinen Stücken Sätze geschaffen hat, die einen ein Leben lang nicht mehr in Ruhe lassen. "Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu", sagt Ada von Stetten (Katharina Dalichau), als sie erkennen muss, dass sie ihren Hofstaat an die andere Frau verloren hat (anders als im Original gibt es kaum einen Altersunterschied zwischen den beiden). Von weiblicher Solidarität keine Spur, sind die Frauen "Kloaken", die Männer "Schweine", denen – orientierungslos und leer wie sie sind – das gefährliche Gedankengut eines aufkeimenden Faschismus aus dem Maul wächst. Auch wenn die Inszenierung den sprachgewaltigen Horváth oft in Watte packt und allzu viel Kuschelrock auflegt, zeigt sie – ganz im Horváth'schen Sinne – auf eine feige Kleinbürgerlichkeit, die immer nur mit dem Möglichen kokettiert, und keine ausreichende Fantasie hat, um sich tatsächlich zu verändern. Die einzige, die das Hotel verlässt, wird Christine sein.
Zur schönen Aussicht
von Ödön von Horváth
Regie: Bettina Jahnke, Reinar Ortmann, Bühne/Kostüme: Ivonne Theodora Storm, Dramaturgie: Reinar Ortmann, Alexandra Engelmann
Mit: Stefan Schleue, Jan Kämmerer, Georg Strohbach, Andreas Spaniol, Michael Meichßner, Katharina Dalichau, Shari Asha Crosson.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.rlt-neuss.de
Helga Bittner schreibt in der Rheinischen Post (9.3.2015) über eine "respektable Arbeit". Horváths "Gesellschaftskritik spielt in Ortmanns flotter Inszenierung nur eine untergeordnete Rolle. Ihm geht es um den Menschen, der an sich scheitert." Das Karussell als Bühnenentwurf für die Portiersloge des Horváthschen Hotels sei ein "schlichtes Bild". Aber "es passt, und die Inszenierung bekommt mehr Bewegung als das Stück hergibt."
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