Stille Nachbarn - Am Residenztheater München erforscht Aureliusz Śmigel mit dem Stück von Azar Mortazavi die Möglichkeiten postmigrantischer Spießigkeit
Ein Leben auf Minigolfkurs
von Maximilian Sippenauer
München, 25. Januar 2019. Kein Sport bringt den Westen so gut auf den Punkt wie Golf. Instinktstarke Männer, die Halme englischen Rasens in die Brise werfen, um zu spüren, woher der Wind bläst, das Gefälle des Grüns studieren wie die Topographie von Aktienkursen, sich von ihren Lakaien das passende Holz oder Eisen reichen lassen, um dann eiskalt einzulochen. Was symbolisierte den Hyperindividualismus, dieses neoliberale Macher-Machotum, darin der Kampf des Egos allein im Bestehen seiner eigenen Zweifel, im Willen zum Gewinn besteht, besser? Auch, weil diese Golfwelt eine exklusive ist. Denn die Mitte der Gesellschaft spielt bloß Golfspielen, spielt, ganz biedermännische Farce, die sie ist: Minigolf.
Eine witzige und kluge Idee also, wenn Regisseur Aureliusz Śmigel und Bühnenbildner Martin Eidenberger in ihrer Uraufführung das Mietshaus, in dem die Kleinbürgertragödie "Stille Nachbarn" spielt, als Minigolfkurs erzählen. Jedem Leben seine eigene, kleine Bahn mit künstlichen Schikanen, an deren Ende – um die ganze Tragik dieses Seins aufzuweisen – auch noch die Löcher fehlen. Lebensentwürfe, die nicht zu gewinnen sind.
Daseins-Fristende
In "Stille Nachbarn" renoviert Isabell Grau, eine hysterische Frau mittleren Alters, die frisch bezogene Stadtwohnung. Ihre Mutter Charlotte, eine bärbeißige Matrone, hat sie ins Heim abgeschoben. Von ihrem Mann, der an Dauermigräne leidend nie auftaucht, allein gelassen, klopft sie im Morgenmantel bei den Nachbarn vis à vis. "Hätten Sie etwas Milch?" Dort leben Leyla und Ibrahim, ein junges Paar, dessen Beziehung gerade alles andere als rund läuft. Ibrahim hat sein Studium unterbrochen, um als Übersetzer für Geflüchtete zu arbeiten. Daran verbitternd, torkelt er regelmäßig besoffen nach Hause, wo Leyla wartet und hofft; auf ihn und auf den nächsten Schritt in ihrer Partnerschaft. Vielleicht ein Kind?
Die Wohnung des Paares ist ein Minigolfkurs voller Bodenwellen, an deren Schluss eine unüberwindbar große Welle steht, auf der Leyla lümmelt und in die ein Kühlschrank eingelassen ist. Sackgasse deutsche Heimeligkeit. Draußen irrt Ibrahim blind über einen Zickzackkurs, stolpert über Golfbälle, die er nicht sieht, die aber da sind. Charlotte fristet im Seniorenstift – eine Bahn, die steil abfällt – ihr Dasein wie ein aussortiertes Möbel zwischen ihren Louis Vuitton-Köfferchen, während ihre Tochter, einzige Eigentümerin, selbstredend nicht auf einer Minigolfbahn haust, sondern in einem ausrangierten Golfcart.
Kollektive Unzufriedenheit
Aus dieser Grundkonstellation heraus erzählt "Stille Nachbarn" in kleinen Dosen das ganze Gift, das in diesem Alltag verschossen wird und das jeder in seinem persönlichen Trauma braut. Isabell, selbst kinderlos geblieben, hört Nachbarskinder schreien, ohne zu wissen, ob diese Schreie real oder nur in ihrem Kopf sind. Sie hofiert ihre Mutter mit selbstgebackenem Kuchen, den diese aufs Boshafteste ablehnt. Überhaupt ist das schlechte Gewissen, dass sie bei ihrer Tochter notorisch auszulösen weiß, der letzte Trumpf der herzlosen alternden Frau. Ibrahim säuft, ganz Deutsch eigentlich, gegen ein Erinnern an, das in ihm ganz uneigene, transgenerative Dämonen befördert, während ihn seine Freundin an die Zeit erinnert, als ihre Zweisamkeit stärker schien als alle Bodenwellen, die diese Welt für sie bereithielt.
Diese stille, aber kollektive Unzufriedenheit befördert Ressentiments und Scham. Die vermeintliche Nachbarschaftsfreundschaft zwischen Isabell und Leyla ist eine einseitige, eine von deutschen Gnaden. Immer mehr mischen sich bei Isabell Vorurteile, Klischees, Angst gegenüber diesem Moslem Ibrahim. Hier kommt es zu starken Momenten, etwa wenn Isabell Gott weiß was erleichtert ist, als sie erfährt, dass Ibrahim die Frikadellen nicht aus religiösen, sondern aus Gründen des Vegetariertums ablehnt.
Poetik des Unprätentiösen
Trotzdem plätschert dieses Stück ungemein dahin. Das liegt nicht an der Inszenierung, auch wenn deren Grundidee später zugunsten eines etwas zusammengeklaubten Symbolismus samt Säugling aus Eis aufgegeben wird. Das liegt nicht am Ensemble, das seine Minigolfkurse mit tiefem Ernst bespielt. Das liegt nicht am Thema, denn natürlich birgt diese Geschichte über die inhärente Unmöglichkeit einer postmigrantischen Spießigkeit sehr viel Wahres. Es liegt vor allem am Ton.
Geschrieben hat "Stille Nachbarn" Azar Mortazavi. Mortazavi hat vor einiger Zeit einmal in Hildesheim kreatives Schreiben studiert, und normalerweise wäre diese Fußnote in ihrer Autorinnenvita keiner Bemerkung wert, spürte man dem Text nicht unentwegt diesen Schreibschulenduktus an: diese pathetische Poetik des Unprätentiösen, wo Sätze wie "sein Stummsein ist das Lauteste, was mir (…) je begegnet ist" gleich monolithischen Leuchttürmen ein Meer an Alltagsbeobachtungen ins Licht der Weisheit tauchen sollen. "Stille Nachbarn" krankt an diesem schwer in die Jahre gekommenen Raymond Carver-Deutsch, das das Große im Kleinen sucht und es zwischen Anspruch und Sinnspruch dann doch allzu selten findet.
Stille Nachbarn
von Azar Mortazavi
Uraufführung
Regie: Aureliusz Śmigel, Bühne und Video: Martin Eidenberger, Kostüme: Laura Yoro, Musik und Liedtexte: Torsten Knoll, Licht: Martin Feichtner, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Barbara Melzl, Katrin Röver, Esther Schwartz, Bijan Zamani.
Premiere: 25. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
"Als Text für sich ist 'Stille Nachbarn' eher eine Enttäuschung, als Evokation von Gedanken funktioniert aber der Theaterabend prima", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2019). "Martin Eidenberger hat dafür eine tolle Minigolflandschaft (erster Teil) und das offene Gefängnis einer durchlässigen Pyramide (zweiter Teil) gebaut, Śmigiel lässt die Darstellenden akkurat gebaute Rätsel spielen. Ein Chor dröhnt aus dem Off, er klingt, als sängen die Don Kosaken die Matthäus-Passion. Video taucht die Szenerie in flackerndes Schwarz-Weiß und aus all dem entsteht eines: Man setzt im Kopf die Geschichten neu zusammen, denkt sie weiter."
Mathias Hejny schreibt in der Abendzeitung (28.1.2019), der "Clou dieser Uraufführungsinszenierung" sei das Minigolf-Bühnenbild, das die "Vergeblichkeit, sein Ziel zu erreichen, sehr anschaulich" mache mit den lochlosen Bahnen. "Nicht durchweg" gelinge es Smigiel, die "ambitioniert gespreizte Sprache" des Stücks "mit Figuren aus Fleisch und Blut" zu unterlaufen.
Im Münchner Merkur (28.1.2019) schreibt Ulrike Fricke: die vier Charaktere im von Aureliusz Smigiel beklemmend dicht inszenierten Drama kämpften mit einem "enormen Auseinanderklaffen" von "eigenem Anspruch, eigenen Träumen, Hoffnungen und einer sie zunehmend einengenden Wirklichkeit". Smigiel setze auf die "intensive Auseinandersetzung" von jeweils zwei Figuren miteinander. Der Regisseur besitze "ein Auge für Details". Diese "Arabesken" entwickelten "Widerhaken", die "sich im Hirn des Zuschauers festsetzen".
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Warum spricht er so konsequent von den „Spießern“, von „Kleinbürger-Tragödie“, sagt gewissermaßen, dass sind so die Probleme "von denen da unten"?
Hat er keine Erfahrungen mit menschlichen Beziehungsmustern? Weiß er nicht was Liebe und Vertrauen sind? Oder was es mit einem macht, wenn das fehlt?
Azar Mortazavi konstruiert ihre Figuren so, dass deutlich wird, wie sich die Erfahrungen prägender Kindheitsphasen auf das gesamte Leben auswirken und sogar auf die nächsten Generationen vererben. Auf der Bühne wird deutlich, dass über das Wichtige nicht gesprochen wird. Nicht gesprochen werden darf, nicht gesprochen werden kann?
Das ist deutsche Geschichte. Das erklärt, wie in einem dumpfen Gefühlssumpf rassistische Vorurteile überdauern und jederzeit in gefährlicher Weise an die Oberfläche geraten können.
Es scheint so, als ob dieser Kritiker mehr über sich selbst verrät als über das Stück.
Deshalb finde ich gut, dass es in aller Regel immer Aussahmen von der Regel gibt. Nicht nur auf dem Theater und auch nicht nur beim Psychiater...
Haben wir es mit einer Ausnahme zu tun? - Renovieren als Thema für eine Situation ist banal, Milch borgen als nachbarliche Kontaktaufnahme-Situation ist banal, abgelehnte Bouletten sind banal. Das sind auch alles keine Probleme, aus denen Dramatik gemacht werden kann. Jedenfalls nicht mit herbeigeschriebener Wandfarbe, Hackfleisch, unvollkommenem Morgenkaffee und einer abgeschobenen Alten, die so alt offenbar noch gar nicht ist - Mini-Golf, gespieltes Golf eben- schönes Bild fürs Bild vom Rezensenten! - Gut, dass wir nicht darüber gesprochen haben
Mich hat die Erzählung von Leyla und Ibrahim, aber auch von Nachbarin Isabel und ihrer Mutter Charlotte samt etwas verspieltem, dennoch klaren Bühnenbild ohne viel Trallala Symbolik in ihren Bann gezogen und förmlich eingesogen in meine eigene, gut verpackte „Erfolgs“Geschichte... Ich habe mich durch Ibrahim und der schreckhaften Isabel an zahlreiche Situationen erinnert, in denen sich meine Umwelt tatsächlich vor meinem „dunklen“ Brüdern, Cousins oder Freunden erschreckt und sie dafür auch noch verantwortlich gemacht hat („wer sich auch noch einen Bart stehen lässt, wenn er schon dunkle Haut hat, muss doch wissen, dass er bedrohlich aussieht!“ - und das lange vor sogenannten islamistischen Terrorattacken (- dafür gab es nächtliches „Türken-Klatschen“ aufm jährlichen „Volksfest“, manchmal bis zum Tod - aber vielleicht sahen die eben einfach zu bedrohlich aus?).
Ibrahims Monolog hat auch meine überforderten, im Außen wie Innen verstummten Eltern in mir lebendig werden lassen, die ich zum Arzt oder aufs Amt begleiten musste und das Schrecklichste daran war eben ihre Angst und Scham zu spüren und in ihrem Schweigen (!) zu hören, gerade wenn sich das Gegenüber abgrundtief ausgelassen hat schien lautes Schweigen die einzig „legitime“ Kanacken Rede für meine Eltern zu werden - Danke für das Wachküssen dieser verdrängten Erinnerung..
Vielleicht liegt es aber auch an den fast O-Tönen aus gut gemeinten Gesprächen, die mir nach Jahrzehnten kontaktarmer Nachbar- oder Kollegenschaft oder wenigen Sekunden Bar-Bekanntschaft dann und wann immer noch aufgedrückt werden, ehe ich mich oder die Situation retten kann, unbemerkten Ausgrenzungen und Verandersungen, die nur Sensibelchen wie ich „falsch“ verstehen können - man sehe es mir nach, Deutsch ist nicht meine Muttersprache.
Vielleicht liegt es auch an all dem Ungesagten, das durch das klasse Zusammen- und Wechselspiel der Schauspieler*innen zwischen den Zeilen klang, dass ich Mortazawis Stück als angenehm minimalistisch und gleichzeitig über die Maßen authentisch und vielschichtig empfand, indem sie gerade die alltäglichen, banalen Widersprüche und Mikrotraumata, die es für „so eins“ wie mich und meinesgleich aussehenden ständig auszuhalten gilt, in Bilder übersetzt wie „lautes Schweigen“ oder „Blicke, die Orte und Bilder in die Luft starren“ oder „Kröten, die aus dem Kopf fallen“ oderoder..
Für mich ist Mortazawis Text feinsinnige Poesie, die auch mal polternd daher kommen darf, grade drum entblößend und tröstend gleichsam zu wirken vermag.-Danke