Der letzte Gast - Árpád Schilling zeigt am Berliner Ensemble einander fremde Menschen aus der Mitte der Gesellschaft
In den Rissen des Gewohnten
von Simone Kaempf
Berlin, 15. März 2019. Die Konstellation kommt einem bekannt vor: Ein Paar holt sich einen Fremden ins Haus. Den Taxifahrer nämlich, der Klara so vertraut und seelenverwandt vorkam. Nun ist er da und soll den alten Hausteil renovieren, der von der ehemaligen Sängerin und ihrem Mann Helmut, früher Universitätsprofessor, nicht mehr bewohnt wird. Und weil die Arbeit allein nicht zu schaffen ist, zieht mit dem höflichen Fremdling, den alle einfach nur Blau nennen, noch ein weiteres Paar ein, das im Haus mit Hand anlegt.
Zwei Paare, der Ex-Taxifahrer, dazu eine alte Freundin und die Tochter, die plötzlich auch hereinplatzt und in Blau natürlich nur den Trickbetrüger sieht: Árpád Schilling will in "Der letzte Gast" am Berliner Ensemble ernst machen mit dem Einbruch des Fremden. Die Textfassung entstand wieder zusammen mit Ko-Autorin Éva Zabezsinszkij, und wenn in der Vergangenheit Schillings Kampf gegen die Orbán-Regierung immer wieder ein Thema war, er mittlerweile in Frankreich lebt und auch im Programmheft davon die Rede ist, dass er in Ungarn zum Staatsfeind erklärt ist, bleiben aktuelle tagespolitische Ereignisse in "Der letzte Gast" komplett ausgespart.
Aufgeräumter als alle anderen
Stattdessen schaut man zwei Freundinnen erstmal beim Teetrinken zu. Auf einer breiten, wohlausgeleuchtete Wohnzimmer-Couch plaudern Klara (Corinna Kirchhoff) und ihre Freundin (Judith Engel) über Land- versus Stadtleben, über den an Demenz erkrankten Mann. Einzelne Herbstlaubblätter lässt Schilling vom Schnürboden segeln. Eine diffus-sentimentale Anspannung erzeugt der Regisseur mit wenigen Mitteln. Auch weil das Tempo eher langsam bleibt. Corinna Kirchhoff sitzt manchmal einfach da, mit einem großartigen Minenspiel, das von Hochs und Tiefs eines Lebens erzählt und ein bisschen skurril wirkt, wenn auch hoch-sehenswert.
Von Anfang an mischt Schilling in die wohlig-warme Stimmung auch ungemütliche Töne, die mit dem Verdrängen vom Fremdheit zu tun haben und auf die gar nicht so feinen, sondern ziemlich offensichtlichen Risse zielt: Klara hält an ihrem Mann fest, weil er sie einst in den Westen holte. Der wiederum hatte jahrelang eine Affäre mit ihrer Freundin. Und nässt nun zum Befremden der Frauen demenzkrank ein und sitzt im Rollstuhl. Der Handwerker Arnold steckt noch in der Scheidung, zerstreitet sich aber schon grob mit der nächsten Frau. In diesem Kreis wird der eigentliche Fremde zum Tröster, der nicht nur Vertrauen entfacht, sondern auch ein kurzes erotisches Feuer.
Kein Wunder, könnte man meinen, denn Nico Holonics spielt ihn überzeugend als jugendlichen Sympathieträger, freundlich, innerlich viel aufgeräumter als alle anderen. Fremd wirkt das in Schillings Konstellation nur, weil alle etwas verbergen hinter ihren Gutmensch- wie Loser-Fassaden. In den Dialogen entspinnt sich immer wieder ein Rundumschlag gegen alles, enttäuschte Hoffnungen, Ost-West-Biographien, denn Klara stammt aus der DDR, hat Angst vor dem Tod. Von den kleinen klischeehaften Ängsten der Tochter ganz zu schweigen: Was kann Blau schon anderes wollen als die Eltern auszunehmen?
Ein Schimmern von Unzufriedenheit und Zorn
Schilling inszeniert bis ins Bühnenbild hinein ein großes gesellschaftliche Maskenspiel: vorne im Haus eine edle Wohnzimmer-Szenerie. Wenn die Drehbühne in den hinteren Hausteil wechselt: alte Sofas, Kinderwagen, Müll. Wenn die Handwerker aufräumen, schaffen sie nur noch mehr Durcheinander. Und auch die Bewohner offenbaren sich in ihrem ganz und gar unversöhnlichen Teil mit sich selbst.
Als theatralen Coup zum Schluss hat Schilling eine absurd-brutale Konfrontation erdacht: Wüten mit Bühnenbildzerstörung. Die Möbel werden verschoben, die Windmaschine angeworfen, alles noch einmal verwüstet. Im Grunde gelingt das sogar ganz gut und es ist das Startsignal, die Masken fallen zu lassen. Judith Engel steigt dem Demenzkranken erst auf den Schoß, erklettert dann die Möbel für einen Ausbruch sondergleichen. Sascha Nathan schleudert seinen Hass heraus, der vor nichts Halt macht. Und selbst Wolfgang Michael als zerknittert vor sich hin grinsender dementer Helmut steht aus dem Rollstuhl auf und geht plötzlich wieder, als sei dies ein ganz normaler Teil seiner Existenz.
Wie Judith Engel und Corinna Kirchhoff in den Anfangsdialogen eine Normalität suggerieren, in der ihre destruktive Seite in kleinen Details schon mit anklingt, ist eine ganz eigene Klasse. Mit weniger guten Schauspielern sähe der Abend anders aus. Kalt lässt einen dieses Spiel nicht, in den Ausbrüchen schimmert ein alltäglicher Egoismus durch, eine diffuse Unzufriedenheit derjenigen, die Wohlstand erreicht haben und der Zorn derer, die am Scheitern sind. Das könnte noch viel dringlicher wirken, wenn der Situationswitz nicht so demonstrativ auch das Genre bedienen müsste. So spielt dieser Abend zwar mit Stimmungen und Atmosphäre, auch mit dem Boulevard-Genre, provoziert sogar hochkomische Momente. Aber in die Realität außerhalb der Bühne funkt das leider nicht.
Der letzte Gast
von Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij
Regie: Árpád Schilling, Bühne und Kostüm: Márton Ágh, Musik: Jörg Gollasch, Künstlerische Beratung / Dramaturgie: Clara Topic-Matutin, Dramaturgische Recherche: Anna Lengyel, Licht: Steffen Heinke.
Mit: Judith Engel, Inka Friedrich, Bettina Hoppe, Corinna Kirchhoff, Nico Holonics, Wolfgang Michael, Sascha Nathan.
Premiere am 15. März 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
Im Rückblick auf alte Arbeiten von Árpád Schilling mit seinem Theater Krétakör ist diese BE-Inszenierung für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 16.3.2019) eine "Enttäuschung". Ein "kaum sortiertes, klapperdürres Dialoggerüst, das sich auf einem Konfliktsammelsurium aufstapelt", hat der Kritiker in diesem "bitter gescheiterten" Abend entdeckt. "Das Spiel ignoriert Schamgrenzen und jegliche sonstigen Widerstände." Die Schauspieler*innen retteten sich mit "Routinegriffen in den Mittelwerkzeugkasten des Boulevardtheaters: mit Kunstpausen, Requisitenspiel, Knatterchargen oder auf Pointe eingebauten Verzweiflungstönen".
Der Einsatz der Windmaschine bietet in den Augen von Fabian Wallmeier vom rbb24 (16.3.2019) die "besten, weil freiesten und unmittelbarsten Momente" dieses Abends. "Interpretationsansätze" gäbe es "viele – am Ende zu viele, als dass im Stück noch eine einigermaßen stringente Linie erkennbar wäre". Schilling entscheide sich "nie richtig dafür, ob er den zusammen mit Éva Zabezsinszkij geschriebenen Text nun eigentlich ernst nehmen oder komplett als Farce inszenieren will. Insgesamt hat er sich offenkundig zu viel vorgenommen."
Im Tagesspiegel (17.3.2019) würdigt Christine Wahl die früheren Arbeiten und die politische Rolle von Árpád Schilling, stuft diese Inszenierung aber als gründlich misslungen ein: "Haltlos schlingert der Abend zwischen seiner politischen Symbolik und einer unglaublich klischeehaft geratenen Familiengroteske hin und her." Es wirke, als habe "jede Schauspielerin und jeder Schauspieler bei der Improvisation zum erstschlechtesten Stereotyp gegriffen".
"Die Produktion wirkt wie eine trübe Verlegenheitslösung im Spielplan des Berliner Ensembles und hat als grober Unfug mit Teetrinken dort nichts verloren", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (18.3.2019). "Das gesellschaftliche Untergangsszenario wird durch die exzellente Besetzung nicht besser, nur in seiner dürftigen Konstruktion noch deutlicher." Das Ensemble ackere sich "entschlossen bis wollüstig" durch die Untiefen der Szenen und Dialoge, "obwohl die Figuren höchstens Skizzen sind und vom Stück her nichts aufgeht, selbst wenn Árpád Schilling allerlei Ängste gleichsam als Blumen des Bösen hineingesät hat", so Bazinger: "Eingebettet ist dies in flachen Mystizismus und dicke Klischees, manchmal unfreiwillig komisch und meistens abgeschmackt antiquiert."
"Ein wenig überflüssig" findet Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (20.3.2019) die Inszenierung. "Der klischeefreudige Plot, die grobklotzige Figurenzeichnung, die effektorientierte Spielweise und die stumpfe Oberflächenregie orientieren sich am Opportunismus des Boulevardtheaters ohne dessen Unterhaltungsreize zu erreichen." Auch die bemühten Suff-, Sex- und Labereinlagen könnten den Unterhaltungswert des Abends nicht heben, "von größeren Einsichten mal ganz zu schweigen".
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Es war eine vielversprechende Idee, den ungarischen Regisseur Árpád Schilling vom „Fremden“ erzählen zu lassen: Mit seinem Ensemble Krétakör (Kreidekreis) entwickelte er sich zu einem Jungstar in Ungarn und einem Festival-Liebling mit regelmäßigen Gastspielen z.B. bei den Wiener Festwochen. In den vergangenen Jahren drifteten der ungarische Premier Viktor Orbán und seine FIDESZ-Partei, die peinlicherweise noch immer Mitglied der christlich-konservativen EVP ist, bekanntlich immer weiter nach rechts. Orbán schürte antisemitische Ressentiments, schaltete die Opposition und die kritische Presse aus und trat als xenophober Gegenspieler von Angela Merkels „Willkommens-Kultur“ auf. Schilling rieb sich im vergeblichen Kampf gegen den Rechtsruck in Ungarn auf, wurde zum „Staatsfeind“ erklärt, zog von Budapest nach Paris und inszenierte nun erstmals in Berlin. Das Thema Angst vor dem „Fremden“ und Faszination des „Fremden“ drängte sich für seine Inszenierung geradezu auf. Leider gelang es ihm nicht, in „Der letzte Gast“ daraus einen interessanten Theaterabend zu entwickeln.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/16/der-letzte-gast-arpad-schilling-berliner-ensemble-kritik/
Dass das Personal sich nicht zuletzt in Stereotypen aufteilt – der sexistische Familientyrann, der primitive Machtmensch, die verklemmt dünkelhafte Tochter, die raubtierhafte Geliebte, allesamt Statusverteidiger, Gesellschaftsabschotter und Ausgrenzer der nicht Dazugehörenden – tut ein übriges. Die Fronten sind schnell klar, die „Fremden“ bleiben draußen oder werden um den Preis der Selbstaufgabe „eingenordet“. Nur reibt sich das eben mit der Unentschiedenheit und Unfertigkeit, die Stück und Inszenierung ebenfalls umtreiben. Eine Reibung, die keine Funken schlägt, sondern den Zerfall nur beschleunigt. Über den vollkommen misslungenen Versuch, das längst Auseinandergepurzelte am Schluss noch irgendwie zusammenzuklumpen, sei der Mantel des Schweigens gebreitet. Letztlich verhebt sich Árpád Schilling trotz großartiger schauspielerischer Leistungen (Inka Friedrich als Arnolds Geliebte, die keine dramaturgische Funktion zu finden vermag, ist noch zu erwähnen) an seinem Stoff, bekommt er die Gedanken- und Motivstränge nicht geordnet, vielleicht auch, weil diese Geschichte ja ganz akut die seine ist, ihm womöglich zu nahe steht, um die Distanz, die für eine künstlerische Verarbeitung stets vonnöten ist, zu erlauben.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/16/vom-winde-verweht/
PS: Band und Sänger bei der Premierenparty waren sensationell!
Sehr geehrte Frau Hoppe, meine Frage bezüglich Ihres Kommentars hier wäre: Haben Sie sich mit dem von Anfang an so geschriebenen "Alles" als Darstellerin wohl gefühlt, oder unterfordert oder überfordert?
Konnten Sie mit dem Text Ihrer eigenen Schauspielkunsterfahrung etwas hinzufügen? Wenn ja, was genau? Wenn nein, warum genau haben Sie dann mitgemacht? Ich meine das bitte nicht als Kritik, sondern es interessiert mich wirklich sehr, was im Einzelnen zeitgenössischer Text für Schauspieler und Schauspielerinnen als Künstler bedeutet. Ich erfahre davon viel zu wenig. Und das, was ich dazu höre, empfinde ich oft eher wie "angeschafften" Diskurs; einen, den sich Schauspieler eigentlich lieber buchstäblich vom Leibe halten wollen, weil sie das eher an der durchgeistigten Arbeit mit ihrem Material Körper hindert als unterstützt(?)...
Alle Achtung: Nico Holonics hat die Rolle kurzfristig übernommen. Er spielt, als wäre er die ganze Zeit dabei gewesen. Prima!
Nur blieb am Ende nichts außer Fragen, seltsam übertrieben wirkenden Katastrophen, Geständnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Schade.
"Das letzte und niederschmetterndste Lesben-Exemplar spielte ich erst neulich in "Der letzte Gast" von Arpad Schilling: eine karrieristische, einsame, junge Frau, die um die Liebe ihrer Mutter kämpft, welche sich aber mehr für einen aus dem Nichts aufgetauchten fremden, jungen Mann interessiert, auf den die Tochter dann sehr eifersüchtig ist. Eine der undankbarsten Rollen, die man sich vorstellen kann und ein Klischeebild, das so schief ist, dass man von der Bühne fallen müsste."