Michael Kohlhaas - Schaubühne Berlin
Ich kann dir wehtun, und ich wills!
von Gabi Hift
Berlin, 1. Juli 2021. Michael Kohlhaas ist eine Novelle von glasklarer Kälte. Sie ist nicht psychologisch, über das Innenleben der Personen erfährt man nichts, es gibt kaum Dialoge, nur eine Aneinanderreihung von Fakten – die sind allerdings ungeheuerlich. Das Thema reizt das Theater immer wieder, weil es im Kohlhaas um Gerechtigkeit versus Recht geht, dem vielleicht wichtigsten Thema überhaupt für jede Gemeinschaft.
Kohlhaas leidet Unrecht
Kohlhaas, ein Pferdehändler, reitet mit seinem Knecht und seinen Pferden nach Dresden zum Markt. Unterwegs wird er an einer Ritterburg aufgehalten und man verlangt von ihm einen Passierschein. Weil er den nicht beibringen kann, behält der Burgherr zwei Pferde als Pfand. In Dresden erfährt Kohlhaas, was er ohnehin schon vermutet hat: Die Passierscheinpflicht ist pure Erfindung. Zurück auf der Burg findet er die beiden Pferde fast verhungert vor, man hat sie zur Feldarbeit eingesetzt. Sein Knecht wurde fast zu Tode geprügelt.
Als Kohlhaas Klage einreicht, stellt sich heraus, dass der Junker Freunde an höchster Stelle hat, sodass der Prozess niedergeschlagen wird. Diese Diskrepanz zwischen der theoretischen Gleichheit vor dem Gesetz und den realen Machtverhältnissen, gegen die einer nicht ankommt, ist unerträglich. Man wünscht sich mit ganzer Kraft, dass Kohlhaas sich wehrt und damit Erfolg hat – das wäre eine befriedigende Geschichte.
Theater als Hörerlebnis: mit Renato Schuch, Genija Rykova, Robert Beyer, Moritz Gottwald © Gianmarco Bresadola
Simon McBurney inszeniert diese Vorlage zusammen mit Annabel Arden. Beide gehörten 1983 zu den Gründungsmitgliedern von "Complicité"; seitdem arbeitet ein fester Kern mit wechselnden Mitstreitern und inzwischen inszenieren sie auch an festen Theatern, wie hier an der Schaubühne.
Die Truppe ist etwas ganz und gar Einzigartiges. Ihr Arbeitsprozess ist auf besondere Weise kollektiv. Sie experimentieren mit immer neuen Formen, aber das, was sie von allen anderen unterscheidet, ist: dass die Bühne, auf der sich ihre Geschichten zusammenfügen, nicht außen liegt, sondern ganz und gar in der Fantasie der Zuschauer. Die Schauspieler:innen werden zu einem vielstimmigen, vielgliedrigen Gesamtorganismus zusammengefügt.
Kopfkino in Vollendung
Hier beginnt es wie ein Oratorium, die sechs Schaupieler:innen stehen an Rednerpulten. Die machtvollen Kleist'schen Sätze sind Wort für Wort unter ihnen aufgeteilt, Rhythmus und Melodie entwickeln eine immense Kraft. Sie machen auch Geräusche, Pferdegetrappel, Wind, das Öffnen einer Tür. Kurze, expressive Gesten, eine Hand fährt in die Luft, ein Knie beugt sich. Dann kommen Video und Requisiten dazu. Kohlhaas und sein Knecht Herse stampfen im Rhythmus der Pferde auf die Burg zu, steppende Kentauren.
Als Kohlhaas dann seine Pferde zum Verkauf anbietet, holt er ein Köfferchen mit kleinen Spielzeugpferden heraus, die über Video projiziert werden. Und als er zurückkehrt und die Pferde zuschanden geritten findet, verwandeln sich zwei Schauspieler in verkrüppelte Tiere – nackte Kreaturen, die Vorderbeine auf kurze Krücken gestützt, während man auf dem Video geschundene, halbtote Pferde sieht.
Dieser furchtlose Stilmix erweist sich im eigenen Gehirn als perfekt austarierte Erzählstrategie, die ein mitreißendes, lebendiges Kopfkino erzeugt. Wie exakt und effektiv all diese Mittel eingesetzt werden, ist verblüffend und begeisternd.
Im Fokus des Objektivs: Renato Schuch spielt Michael Kohlhaas © Gianmarco Gresadola
Aber diese Geschichte, die einen zu Anfang mit solcher Kraft packt und in Wut versetzt, verwandelt sich nach und nach in etwas anderes. Als Kohlhaas erfährt, dass sein Prozess im Sand verlaufen ist und dass ihm kein Recht zugesprochen wird, verkauft er zum Entsetzen seiner Frau sein Haus und all sein Habe, um in den Krieg um sein Recht zu ziehen. Man beginnt zu zweifeln: Ist das noch richtig gehandelt? Frau und fünf Kinder, müsste er nicht abwägen?
Anders als etwa Karl Moor oder Hamlet reflektiert Kohlhaas seine Handlungen nicht. Unerbittlich wie eine Dampfmaschine geht er vorwärts. Renato Schuch bleibt als Kohlhaas opak, ein wildes, undurchschaubares Bild, mit schwarzem Bart und feurigem Blick. Die Frau bietet ihm an, selbst zum Kurfürsten zu gehen und um eine Wiederaufnahme des Prozesses zu bitten. Zurück kommt sie halbtot, als sie sich dem Kurfürsten nähern wollte, hat sie eine Wache so brutal zurückgedrängt, dass sie an inneren Verletzungen stirbt.
Umschwung ins Unerbittliche
Nun beginnt ein ruchloser Rachefeldzug. Kohlhaas ist bald umgeben von einem Mob, man erfährt nichts über die Motive der Beteiligten, aber es erinnert an die heutige Wirklichkeit. Er ist nun ein Fanatiker, ein Terrorist, Dutzende Unschuldige sterben, und als jemand, der gerade noch völlig auf seiner Seite war, ist man innerlich wie umgestülpt. Die Schauspieler beziehen genauso wenig Position wie Kleist, wie ein gnadenloses Uhrwerk läuft das alles ab.
Auch die Bilder werden jetzt öffentlicher, erinnern an Gemälde von Caravaggio, chiaro scuro. Schuch reißt die Arme auseinander in Christuspose – wie auch Kleist seinen Selbstmord nach einem Gemälde arrangiert hat. Das ist entsetzlich und unbegreiflich, denn wenn jetzt alles falsch ist, wie kann dann der glühende Wunsch richtig gewesen sein, Kohlhaas möge die Ungerechtigkeit nicht hinnehmen. Wieso schreckt einen jetzt die Unerbittlichkeit, kann es denn ein bisschen Gerechtigkeit geben? Bis dahin hat einen die Aufführung gemeinsam mit Kleist in ihrem unerbittlichen Klammergriff – dann, im letzten Drittel, verliert sie ihn.
Rachdurst kennt keine Familienpflichten Renato Schuch als Kohlhaas mit Genija Rykova als Kohlhaas' Gattin © David Baltzer
Auf der Realitätsebne eskaliert der Konflikt, der Kurfürst von Brandenburg stellt sich an Kohlhaas' Seite gegen den Kurfürsten von Sachsen, die Politiker wissen nicht mehr, wie sie die Rebellion eindämmen sollen, besprechen sich nervös in Zoom-Konferenzen. Jetzt endlich wird Kohlhaas gehört, die Gewalt hat gewirkt. Aber nun kippt alles in eine merkwürdige, übernatürlicher Ebene: Eine Wahrsagerin erscheint, gibt Kohlhaas ein Amulett, das ihm das Leben retten soll. Aber darin ist nichts Göttliches, es ist eine Weissagung über das Ende des Fürstentums Sachsen. Der Kurfürst will sein eigenes Schicksal unbedingt wissen. Kohlhaas könnte sein Leben gegen diesen Zettel eintauschen. Stattdessen sagt er: "Du kannst mich auf das Schafott bringen, aber ich kann dir wehtun und ich wills." Isst den Zettel mit der Weissagung auf und wird hingerichtet.
Entfesselte Grausamkeit
Hier verliert die Truppe den Zugriff. McBurney ist ein Spezialist fürs Erzählen, für Geschichten, die Sinn erzeugen oder zumindest Hoffnung auf Sinn. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Etwas wahrhaft Entsetzliches. Kleist, der selbst sehr nahe am Kohlhaas war, ein getriebener Fanatiker, entfacht mit diesen höheren Mächten, in denen kein Funken Liebe oder Hoffnung erscheint, ein wahres Delirium an Sinnlosigkeit und Grausamkeit gegen das Beckett tröstliche Gartenlaube ist.
Und das schlimmste ist, dass man spürt: genauso ist die Welt, unbegreiflich, fremd, völlig sinnlos. Man möchte nicht mehr zuhören, der kleinliche Triumph des Kohlhaas, der seine fünf Waisenkinder im Stich lässt, ist nur noch deprimierend, Kleist hingegen scheint sich mit ihm wie ein verlorenes Kind am Herunterschlucken des Zettels zu freuen. Hier wird er so fremd, dass man sein Innenleben nicht mehr nachvollziehen kann. Und McBurney und seine Komplizinnen, die liebenswerten Dealer von Sinnversprechen, sind hier auf verlorenem Posten. Oder einfach zu menschenfreundlich, um für diesen schrecklichsten aller Menschen im letzten Teil eine zwingende Form zu finden.
Großes Theater, das dem noch größeren Kleist, dem "sanguino-cholericus in summo gradu", ganz am Ende nicht gewachsen ist.
Michael Kohlhaas
nach Heinrich von Kleist
Regie: Simon McBurney und Annabel Arden, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Moritz Junge, Sounddesign: Benjamin Grant, Video: Luke Halls, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Erich Schneider.
Mit: Robert Beyer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Genija Rykova, Renato Schuch.
Premiere am 1. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de
Von einem durchaus effektbewusst, gelegentlich auch unfreiwillig komisch nacherzählten Reclamheft, und nicht übermäßig vielschichtigen Theaterabend spricht Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.7.2021). Simon McBurney, der aus Sicht Laudenbachs eigentlich ein Virtuose des "videoverstärkten Theaterbudenzaubers" ist, setze an der Schaubühne "mit britischem Pragmatismus auf die eher trockene, didaktisch wertvolle Schulfunkvariante mit Textlieferanten-Schauspielern hinter rampenparallel aufgestellten Mikrofonen." Mit eingeblendeten Videos etwa des Sturms auf das Kapitol parallelisiere die Inszenierung Kohlhaas' Wüten dann "recht eindeutig mit den Selbstermächtigungsgesten heutiger Wutbürger, samt dem dazugehörigen Eskalationspotential. Es ist eine arg kurzatmige Aktualisierung, schon weil Kohlhaas einfordert, wogegen die Wutbürger aufbegehren – so etwas wie einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat."
"Das große Plus dieses zweistündigen Abends: Die Kleist’sche Geschichte mit all ihren Wendungen und Wirren wird in der Fassung des Regieteams, der Dramaturgin Maja Zade und des Ensembles so greifbar und nachvollziehbar erzählt, wie es noch selten zu erleben war," schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (3.7.2021). Für den Kritiker aber bleibt die Frage offen: "Welche Haltung haben McBurney und Annabel Arden eigentlich zu der Geschichte?" "Klar, der Mann steht quer zu den Autoritäten seiner Zeit. Aber wirklich schlüssig erscheint das Deutungsangebot nicht."
"Ein Abend zwischen Genialität und Effekthascherei" ist dieser Schaubühnen-Programmpunkt für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (2.7.2021). "Man muss McBurney, den Kinostar, als technischen Tüftler der Bühne begreifen, der so etwas wie die Quadratur des Kreises sucht: Die Verbindung von episch analytischem Distanztheater, das Geräusche, Bilder, Figuren säuberlich nebeneinander entstehen lässt, und emotional effektstarkem Erlebnisdrama, das all das nur in eins fasst. Auch wenn an diesem Abend nun vieles nur illustrativ und deutungslos über die Bühne geht, arrangiert McBurney das Geschehen doch so, dass diese Quadratur ziemlich reibungslos vonstatten geht – in den Köpfen der Zuschauer selbst."
"So packend diese Geschichte von Rebellion und Selbstjustiz ist, sie stellt die Frage nach den Mitteln der Gewalt und ihrer Legitimität," schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (3.7.2021). Die Inszenierung bleibe dicht an den Figuren und gehe in keine Distanz zum Text. Parallelen zu linken und rechten Rebellionen der Gegenwart werden nicht berührt. Aus Sicht dieser Kritikerin ist die Inszenierung "tief durchtränkt ist vom gemeinsamen Erleben des Textes" während der Proben, "von der Begeisterung für die Kraft und Musikalität der Sprache von Heinrich von Kleist", weshalb die Inszenierung für sie Züge einer Messe für den Dichter Heinrich von Kleist trägt.
"Die Rechtfertigung der Gewalt des unbeugsam Einzelnen gegenüber dem repressiven Herrschaftssystem macht Kleists Novelle für zeitgenössische Adaptionen anziehend und abstoßend zugleich. Denn mehr als mit dem Gedanken an Widerstand spielen darf und will man heute nicht mehr", schreibt Simon Strauss in der FAZ (5.7.2021). Deshalb scheitere auch die geschickt kuratierte Adaption des britischen Regieduos, "die über eine visuelle Verharmlosung von Kleists Werk nicht hinausgeht". Die Worte des Dichters "gehen unter im Umfeld einer stimmungszappeligen Atmosphäre, die von Toneinspielungen, OH-Projektionen, Videosequenzen und den rasanten Kostüm- und Gestuswechseln des Ensembles bestimmt wird", so Strauss. "Von Standmikrofonen und Notenständern verdeckt, von Kameras und Tonverstärkern umringt, fehlt den Darstellern jeder Freiraum fürs Spiel."
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“Das ist eine Geschichte, die ich mit wirklicher Gottesfurcht lese, ein Staunen fasst mich über das andere, wäre nicht der schwächere, teilweise grob hinuntergeschriebene Schluss, es wäre etwas Vollkommenes, jenes Vollkommene, von dem ich gern behaupte, dass es nicht existiert. (Ich meine nämlich, selbst jedes höchste Literaturwerk hat ein Schwänzchen der Menschlichkeit, welches, wenn man will und ein Auge dafür hat, leicht zu zappeln anfängt und die Erhabenheit und Gottesähnlichkeit des Ganzen stört.)“
Doch auch wer diesem Abend wohlgesonnen ist, muss erkennen, dass szenisch sehr wenig geboten ist. Es gibt kleine Momente der Spielfreude, z.B. wenn sich Laurenz Laufenberg und Gottwald in die Pferde verwandeln, deren Misshandlung der Auslöser für den Rachefeldzug des Kohlhaas war. Hin und wieder gibt es auch Video-Einspieler von Luke Halls, Zakk Hein und dem aus vielen Schaubühnen-Inszenierungen bekannten Sébastien Dupouey. Aber vor allem gibt es Text, sehr viel präzise arrangierten Text…
Der „Michael Kohlhaas“ des britischen Complicité-Dups bleibt eine Fingerübung für Kleist- und Hörspiel-Fans, die altbacken wirkt und als Theater-Erlebnis wenig befriedrigend ist.
daskulturblog.com/2021/07/05/michael-kohlhaas-simon-mcburney-schaubuhne-kritik/
Gabi Hift verweist in ihrer Kritik auf einen Artikel von Sandra Krämer 2011 im Deutschen Ärzteblatt. Mit Bezug auf die „Marquise von O.“ wird dort ein Spannungsbogen von der „Vergewaltigung im Zustand der Bewusstlosigkeit“ zum „Topos von der weiblichen Ohnmacht als geschlechtsspezifische Verhaltensstrategie und Flucht vor moralischer Verantwortung“ beschrieben. Auch in diesem Spannungsfeld hat sich Kleist wohl selbst erlebt.
In einem Brief schrieb Kleist von der letzten Begegnung mit seinen Schwestern, „der Gedanke, das Verdienst, das ich doch zuletzt, es sei nun groß oder klein, habe, gar nicht anerkannt zu sehen, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Theilnahme mehr werth sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft, wahrhaftig es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit.“
So mag für Kleist dasselbe gelten, was Bataille Franz Kafka zuschreibt: „Das Nichts, das trotz Liebe und Tod nicht nachzugeben vermöchte, ist auf souveräne Weise, was er ist.“
Vor 90 Jahren erschien im Gustav Kiepenheuer Verlag ein Bändchen von Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer. Prosa und Betrachtungen aus dem Nachlass. In der DDR wurde es zum 50 jährigen Jubiläum 1980 nachgedruckt. Enthalten sind Aphorismen. Im Anhang wird erläutert, dass sie in der vorliegenden Form von Kafka in säuberlicher Reinschrift mit Tinte auf einzelne Zettel geschrieben wurden. Nicht wenige der Aphorismen wurden von Kafka mit Bleistiftlinien durchgestrichen, aber nicht aus dem Zettelkonvolut entfernt. Dazu gehört Nummer 90:
Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es sein. Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.
Warum hat Kafka diesen Aphorismus durchgestrichen? War die Illusion auserwählt zu werden größer? Darauf deutet Aphorismus Nummer 13, der nicht durchgestrichen wurde:
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehn und sagen: „Diesen sollt Ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“
Auch Canetti zitiert den Aphorismus Nummer 90 und will Kafkas Verwandlung ins Kleine auf die Schliche kommen, was im Kontext der Briefe an Felice nicht gelingt. Vor Felice macht sich Kafka aus taktischer Berechnung klein, es erinnert daran, wie sich Don Giovanni vor Elvira versteckt.
Wäre Kafka alt geworden, hätte er uns vielleicht ein Meisterwerk der Verwandlung ins unendlich Kleine hinterlassen. Denn erst im Alter gilt es, mit dem Sich-Klein-Machen ernst zu machen, um im nahenden Tod tröstlich Vollendung sehen zu können.
Einen guten Beginn hat Kafka gemacht: In einer Welt von Fressen oder Gefressenwerden auf das Fressen zu verzichten, im übertragenen Sinne oder ganz direkt, weil es einem nicht mehr schmeckt, genau wie dem Hungerkünstler.
Mir schien, als hätte Kafka wie vor ihm Kleist keine Klarheit darüber, dass trotz aller damit verbundenen Schmerzen und Leiden "das Gedränge innerer und äußerer Not" den eigentlichen Humus für ‚wahre‘, für vollkommene Kunst bildet.
Gestern bei Schostakowitschs 4. Symphonie in der Berliner Philharmonie mit Teodor Currentzis und musicAeterna, erfasste mich der Gedanke, dass dies eine vollkommene Darstellung "des Gedränges innerer und äußerer Not" ist und dass Schostakowitsch sich zu Klarheit über dieses Gedränge zwang, obwohl er natürlich von Kafkas Brief nicht wissen konnte.
Und tatsächlich zitiert Wikipedia aus den Memoiren von Schostakowitsch, dass er dem Selbstmord nahe war, dass er "einfach verschwinden" wollte. Aber dann hielt er Selbstmord für "die Meuterei der niederen Kräfte über die höheren, den vollständigen und endgültigen negativen Sieg..." Schostakowitsch schrieb, dass er aus seiner Lebenskrise gestärkt herausfand, mit mehr Vertrauen in seine eigenen Kräfte. Und: "Einige der neu gewonnenen Erkenntnisse sind in meiner vierten Symphonie enthalten. Vor allem am Schluss. Dort ist alles klar ausgedrückt."
Dieses Ende der 4. Symphonie ist für mich die – vollkommene - musikalische Umsetzung dessen, was auch Franz Kafka umtrieb: "Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es sein. Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat." Und dessen, was Elias Canetti als Kafkas "Verwandlung ins Kleine" hervorhob, den dynamischen Kreislauf des Verschwindens, des Sich-Entziehens, "diesen hartnäckigen Versuch eines Ohnmächtigen, sich der Macht in jeder Form zu entziehen. Der Vergewaltigung, die ungerecht ist, muß man sich entziehen, indem man so weit wie möglich entschwindet."
Wäre Kafka alt geworden, schrieb ich im vorigen Kommentar, hätte er uns vielleicht ein Meisterwerk der Verwandlung ins unendlich Kleine hinterlassen, der –nach Canetti –"tiefsten Tendenz seiner Natur: kleiner, leiser, leichter werden, bis man verschwindet". Dmitri Schostakowitsch hat mit seiner 4. Symphonie ein solches – musikalisches - Meisterwerk geschaffen, wahrscheinlich ohne Kafka zu kennen.