Mississippi war noch nicht soweit

25. Januar 2022. Zwei Opfer des Rassismus in den 1950er-Jahren: Rosa Parks und Emmett Till. Die Regisseurinnen Lara-Sophie Milagro und Dela Dabulamanzi erzählen mit dem Kollektiv Label Noir ihre Schicksale in einem Theaterfilm. Er zeigt die Muster der sich wiederholenden Geschichte.

Von Simone Kaempf

Acht Archetypen und die Geschichte(n) : "Emmett - Tief in meinem Herzen" am HAU Berlin © Screenshot

Berlin, 25. Januar 2022.Ein Zitat erinnert zu Filmbeginn an Rosa Parks. "I just couldn't move" ist eingeblendet. Von jener Rosa Parks, die ihren Sitzplatz im Bus nicht für einen Weißen räumte und daraufhin festgenommen wurde. Die amerikanische Bürgerrechtlerin ist in Deutschland vermutlich um einiges bekannter als Emmett Till, ein 14-Jähriger, der im Sommer 1955 seinen Onkel in Mississippi besuchte. Auch er wurde Opfer des Rassismus der 1950er Jahre. Nachdem er angeblich eine Weiße belästigt hatte, wurde er verschleppt, gefoltert und schließlich ermordet.

Die Muster von damals und heute 

Beide Ereignisse ereigneten sich im selben Jahr, 1955, lösten unter der schwarzen Bevölkerung Proteste und ziviles Ungehorsam aus. Bob Dylan und andere Musiker widmeten Emmett Till eigene Songs. Erst vergangenes Jahr wurde erneut eine Untersuchung des Falls erfolglos abgeschlossen, verurteilt wurde nie jemand. Emmetts Ermordung bewegt und wühlt auf bis heute. Auch, weil die Verstrickungen, die rassistischen wie sexistischen Vorurteile, die dazu führten, den Mustern heute streckenweise verdammt ähnlich sind.

LabelNoir1 Emmett c Kasimir Bordasch u"Emmett - Tief in meinem Herzen"  © Screenshot

Lara-Sophie Milagro, Dela Dabulamanzi und das Kollektiv Label Noir haben im vergangenen Sommer einen Film gedreht, der die Geschichte des Mords erzählt. "Emmett – Tief in meinem Herzen" basiert auf einem Theaterstück der New Yorker Autorin Clare Coss und zeigt in vielen Einzelschritten, was vor dem Mord geschah und was danach. Acht Figuren, fast archetypischen Typen treten auf: die stets um den Sohn besorgte Mutter (Dela Dabulamanzi), die das Unglück nicht verhindern kann. Der jugendlich-unbedarfte Emmett (Esmael Agostinho), der die Verhältnisse in Mississippi nicht einzuschätzen weiß, eine Lehrerin (Lara-Sophie Milagro) aus der Mittelschicht, die die Ungerechtigkeit zwar erkennt, aber im entscheidenen Moment nicht zu handeln wagt oder der weiße Ladenbesitzer Bryant (Selam Tadese), der mit purer Aggression und ausufernder Gewalt reagiert.

Eine verhangene Unruhe

Das Ausstattungs-Zeitkolorit verweist deutlich auf die 50er Jahre: Hüte, Hosenträger und buntgemusterte Kleider aus dieser Zeit. Wenn Mrs. Bryant im Laden das Radio das Kofferradio andreht, erklingt Mr. Sandman von den Chordettes, damals Nummer eins der Billboard-Charts. Kleine Tanzeinlagen wie aus der Blütezeit des Musicals. Dann sorgen Schattenspiele wieder für verhangene Unruhe. Die zwei Seiten Amerikas ergeben das atmosphärische Spannungsfeld, in dem sich der Film bewegt.

Theaterfilm stimmt tatsächlich, Probebühnen-Stimmung atmen die Szenen aus und signalisieren: Hier wird Theater gespielt. Gleichzeitig nutzt der Film überraschende Schnitte, Bild- und Ortswechsel. Anfangs sieht man Stadtszenen, eingefangen rund ums Hallesche Tor. Die Kamera gleitet durch die Straßen bis auf die Bühne. Diese Art filmischer Erzählung schafft tatsächlich eine Verbindung von der Gegenwart hin zu den Verstrickungen und Machtverhältnissen des Stücks, in der eine Nichtigkeit zum Auslöser wird.

Ein Kaugummi, ein Pfeifen, ein Mord

Denn dem jungen Emmett entfährt beim Kaugummikauf ein Pfeifen, die Ladeninhaberin deutet es als Nachpfeifen. Aus dem Nachpfeifen wird ein angebliches Belästigen. Nach dem Mord greift das andere Muster: Zeugen werden bedroht, tauchen ab oder trauen sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Der potentielle Mörder Bryant verharmlost und schwört seine Umgebung ein. Die Mutter wiederum gibt Interviews und kämpft vergeblich für seine Verurteilung.

Die Kamera zoomt oft dicht an die Gesichter als könne sie den Gefühlen damit nahe kommen wie im psychologisch-realistischen Breitwandkino. Das funktioniert am wenigsten, verweist die Erzählung doch vielmehr auf wiedererkennbare Strukturen und die Wiederholung der Geschichte.

Allen Opfern rassistischer Gewalt

Im Nachgespräch erzählt Lara-Sophie Milagro wie sehr etwa die Schwierigkeiten bei der Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh vor vielen Jahren in Dessau, dem Fall von Emmett Till ähneln, fast eins zu eins. Gewidmet ist der Film allen Opfern rassistischer Gewalt. Namen und Porträtbilder werden eingeblendet, in Hanau oder Dessau Ermordete, die Opfer des NSU. Diese Querverweise in die Gegenwart funktionieren, weil sich die Zeiten hier fast wie von selbst zusammenfügen.

Für Label Noir ist "Emmett" ihr bisher größtes Projekt. Ursprünglich war ein Theaterstück geplant. Als mit Beginn der Pandemie die Folgen klar wurden, sich offenbarte, dass man abends womöglich nur für eine Handvoll Zuschauer spielen könnte, sattelte die Gruppe um und entschied sich, einen Film zu drehen, auch um darüber ein größeres Publikum zu erreichen. "Emmett" ist erst einmal bis Ende Januar in der digitalen Bühne des HAU zu sehen. Eine überarbeitete Version soll dann auch in die Kinos kommen, so der Plan.

Wofür es sich zu kämpfen lohnt

Mit dem Film arbeitet das Kollektiv nun seit mehr als dreizehn Jahren zusammen. Aus der Anfangsidee im Jahr 2009, sich mit PoC-Theatermacher:innen zusammenzutun und im geschützten Raum künstlerisch auszuprobieren, sind offensive Projekte und ein umfassendes Engagement erwachsen. Geblieben scheint ein Gefühl von Zusammensein und Nestwärme, sowie wie man es bereits in der ersten Theaterarbeit "Heimat, bittersüße Heimat" erlebte. Und auch "Emmett" zeigt eine berührende Familienszene: Ein Altar mit Kerzen und echten Familienbildern ist aufgebaut, alte Schwarzweiß-Fotos, die von den Spieler:innen betrachtet werden, ohne falsche Andächtigkeit, mit ruhiger Zugewandtheit. Mehr Fotos tauchen dann später auf: Black Lives Matter, Martin Luther King, May Ayim, Enver Şimşek, Emmett Tills Beerdigung in Chicago, die 50000 Menschen auf die Straße brachte. Alles Bilder, die an diesem Abend davon erzählen, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

 

Emmett - Tief in meinem Herzen
nach dem Stück von Clare Coss, aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner
Regie: Lara-Sophie Milagro, Co-Regie: Dela Dabulamanzi, Produzent:innen: Dela Dabulamanzi, Tibor Locher, Lara-Sophie Milagro, Filmische Adaption: Lara-Sophie Milagro, Dramaturgie: Katja Wenzel, Kamera: Kasimir Bordasch / 2. Kamera: Jide Akinleminu / 3. Kamera, Bühnenbild: Lara-Sophie Milagro, Philip Kojo Metz, Kostüme: Geraldine Arnold, Choreografie: Mattis Nolte, Raphael, Filmmusik: Eric Maltz, Hillebrand, Musikalische Leitung, Arrangements: Markus Syperek.
Mit: Esmael Agostinho, Dela Dabulamanzi, Samia Dauenhauer, Agnes Lampkin, Lara-Sophie Milagro, Asad Schwarz-Msesilamba, Selam Tadese, Seedy Touray.
Vorabpremiere am 24. Januar 2022 am Hebbel am Ufer
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

www.hebbel-am-ufer.de
www.labelnoir.net

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