Zwei Herren von Real Madrid - Theater Oberhausen
Ein Schuss – und Kuss
16. Januar 2023. Die Fußball-WM ist vorbei, aber die beste Partie wurde gerade erst angepfiffen. In Leo Meiers gelungener Rasensport-Romanze fragt der Sturm das Mittelfeld: "Darf ich Sie küssen?" Auch Trainer und Pfarrerin spielen Fairplay, und Uraufführungsregisseurin Maike Bouschen findet die passenden Bilder.
Von Karin Yeşilada
16. Januar 2023. Sind Fußballer wirklich so zärtlich? So verhalten und höflich? Kaum zu glauben – oder das hier ist ein Wintermärchen. Kaum ist die WM in Katar vorbei und sind die ersten One-Love-Binden bei ebay versteigert, spielt das Theater Oberhausen eine ganz eigene Partie mit "Zwei Herren von Real Madrid“, und ganz hinten im Programmheft verbirgt sich bereits der Schlüssel zum Glück beziehungsweise Stück, denn da steht: "Die Beteiligten bedanken sich bei Leo Meier für das Vertrauen, mit diesem zärtlichen Stück umgehen zu dürfen." Fürwahr. Das Publikum bedankt sich später ebenfalls, mit viel Applaus.
Folgenschwerer Auslandstransfer
In Meiers Stück verlieben sich zwei Fußballer im Wald, kommen sich während eines Familienbesuchs näher, und trotz tragisch-grotesker Entwicklungen – der eine bringt als Gastgeschenk einen Bananenkuchen mit, an dem die Mutter des anderen aufgrund eines Allergieschocks verstirbt – wird daraus eine schöne kleine Romanze, die sogar die mediale Öffentlichkeit überdauert, nur den millionenschweren Transfer ins Ausland nicht. Die zwei Spieler von Real Madrid, die sich erst gar nicht erkannt hatten, weil der eine im Sturm spielt und der andere im Mittelfeld, müssen, weil der eine zu Paris St. Germain wechselt und der andere bleibt, am Flughafen wieder auseinandergehen. Ein Kuss und Schluss – und aus ist das kleine Wintermärchen.
Was für eine eigenartige Geschichte tischt uns da der Autor auf: Eine Pfarrerin, die den Küssenden ihren Segen erteilt, ein Trainer, der die Liaison seiner Spieler unterstützt, eine Pressekonferenz, aus der alle ungeschoren herauskommen – ist das eine Farce, eine Utopie, eine kleine, ironisch-abgefahrene Perle? Die Antwort lautet: ja. Im Fischer-Verlag wusste man um den Geschmack des Dramaturgen Jascha Fendel und bot ihm das Stück an, und der selbst aus dem Pott stammende Leo Meier überließ es gern dem Ensemble des Theater Oberhausen, wo es (mit einer kleinen coronabedingten Verspätung) nun zwei Wochen vor dem Schauspiel Leipzig unter der Regie von Maike Bouschen uraufgeführt wird.
Knallige Toneffekte, bonbonfarbene Kostüme
Auf der länglichen Studiobühne (Franziska Isensee) ist ein Kunstrasen ausgerollt, auf dem sich hinten fünf schaufensterartige Holzboxen befinden, die jeweils für ein Fußballstadion, ein Wohnzimmer mit Kamin, eine Waldlichtung, ein riesiges Kruzifix und einen Flughafen stehen. Jede Box ist sparsam, aber witzig ausstaffiert mit Requisiten wie etwa Schlafmaske und Koffer am Flughafen, Wanderstöcke und Funktalkies im Wald, ein kopfüber hängender Weihnachtsbaum und Sektgläser im Wohnzimmer und so weiter (vor dem Rausgehen angucken!). Klasse ergänzt werden sie mit sehr lebendigen, witzigen Licht- und Toneffekten, die knallen und quietschen, im Sound einer 1960er-Jahre-Fernseh-Quizshow. Das passt gut zu den bonbonfarbenen Kostümen (mit "Herren"-Logo, wie überhaupt das gesamte Design) und kommentiert damit die oft burleske Handlung launig (Musik: Lutz Gallmeister, Licht Thomas Grubenbecher).
Mitunter drängen sich alle fünf Spieler*innen in einer Box zusammen, dann wieder öffnen sich die Räume nach vorn hin zum Rollrasen, auf dem manchmal parallel zwei Liebende liegen, während zwei weitere sich unterhalten und sie beobachten. Durchgängig bespielt ist die Box mit dem Kruzifix: Dort haust Jesus (Elias Baumann), mal statuenhaft, mal bewegt, lasziv in seinem um die Lenden gewickelten Saunatuch, die Arme lässig auf Regalbrettern abgelegt. Umwerfend. Er karikiert damit eben jenen von Fußballern zelebrierten Körperkult, gegen den Andreas Hock im Programmheft anwettert.
Im besten Sinne schrill
Wobei natürlich nicht ganz klar ist, was der Jesus hier im Stück eigentlich soll: Gehört er zur frommen Mutter des Stürmers (Franziska Roth), die später vom Pfarrer ausgesegnet wird (Samia Dauenhauer), oder repräsentiert er die Kirche, die in dieser Utopie mitspielt? Letztlich gehört das ebenso ins etwas verrückte Setting wie der (Luftballon-)Drache Jackson des Mittelfeldspielers oder das Akropolis-Tattoo von Sergio Ramos. Alles ist hier im besten Sinne etwas schrill. Ganz besonders sticht das bei der Pressekonferenz hervor, als das parasitäre Fußball-Sponsoring losbricht und uns das ganze Grausen von "Fly Emirates!" um die Ohren haut, nur um gleich wieder ironisch gebrochen zu werden, wenn die Figur von Sergio Ramos sprichwörtlich aus der (realen) Rolle fällt und über ihre eigene Vergänglichkeit nachdenkt: Wie "Ramos" sich da, immer wieder ausspuckend, an den Rand von irgendetwas philosophiert, ist urkomisch.
Und dann ist da diese große Zartheit der Liebesgeschichte zwischen den beiden Spielern, die so verhalten und fast schon altmodisch-höflich miteinander umgehen: "Darf ich Sie küssen?" fragt der eine den anderen, und Tim Weckenbrock und Khalil Fahed Aassy nehmen sich Zeit dabei, lassen die sparsamen Sätze klingen, schauen sich an und sind – trotz ihres fortwährenden Herumrotzens – völlig anders als diese millionenschweren Oger aus dem Reality-Fußball. Und küssen sich auch, na klar.
"Hat mir sehr gut gefallen!", meint eine Zuschauerin später beim Rausgehen gut gelaunt, "ich werde Werbung machen!" Gut so!
Zwei Herren von Real Madrid
von Leo Meier
Uraufführung
Regie: Maike Bouschen, Bühne & Kostüme: Franziska Isensee, Musik: Lutz Gallmeister, Licht: Thomas Grubenbecher, Dramaturgie: Jascha Fendel
Mit: Tim Weckenbrock, Khalil Fahed Aassy, Samia Dauenhauer, Franziska Roth und Elias Baumann
Premiere am 15. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
Das "Utopische" von Leo Meiers Text liege in der "Selbstverständlichkeit, mit der die Liebe der beiden Herren, die konsequent beim 'Sie' bleiben, nicht nur in der Familie, sondern auch im Macho-Business um den Ball akzeptiert" werde, findet Ralph Wilms in der WAZ (17.1.2023). Vor allem Bühnenbildnerin Franziska Isensee bescheinigt Wilms, in dieser "ausdauernd beklatschten 80-Minuten-Romanze" einen "optischen Treffer" gelandet zu haben.
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Wieder einmal gab es einen gelungenen Text zu lesen! Nämlich Frau Karin Yesiladas Nachtkritik.
Ihre Darstellungsweise führt mir, die ich das Stück nicht habe sehen können, anschaulich vor Augen.
Bravo!
Und vielen Dank!
Mein Beileid zum Tod von Nikolaus Merck
Mit freundlichen Grüßen
Maike Bouassida
(Vielen Dank für Ihre Beileidsbekundung! Elena Philipp stv. f.d. Red.)