In der Friedenspflicht

1. April 2023. Mehr als 1000 Teilnehmer:innen aus zwölf Ländern trafen sich 1915 zum Frauenfriedenskongress. Präsident Wilson nahm später Teile ihrer Resolution in sein 14-Punkte-Programm auf. Organisiert wurde der Kongress von zwei Münchnerinnen. In "Anti War Women" erzählen Regisseurin Jessica Glause und Ensemble die Geschichte nach.

Von Martin Thomas Pesl

"Anti War Women – Wie Frauen den Krieg bedrohen" von Jessica Glause und Ensemble an den Münchner Kammerspielen © Julian Baumann

1. April 2023. Bevor die Frauen gegen den Krieg anreden, betritt ein Mann die Bühne, in einer ganz aktuellen Friedensmission. Ulrich Heyer, Leiter der Bühnenmaschinerie und seit 36 Jahren an den Münchner Kammerspielen, berichtet, wie wenig Theaterbeschäftigte verdienen. Nach der letzten Lohnverhandlungsrunde habe ver.di an diesem Freitag zum Warnstreik gerufen, man habe diesen aber so organisiert, dass die Premiere von "Anti War Women", die zugleich das Festival "Female Peace Palace" eröffnet, stattfinden könne. "Ab morgen sind wir dann in der Friedenspflicht", erklärt er.

Die Sympathien sind bei ihm. Alle wünschen "dem Uli" und seinen Leuten einhellig die verdiente Lohnanpassung und applaudieren in lauschiger Dankbarkeit, als sich für den Abend der Dokumentartheatermacherin Jessica Glause – einer inhaltlichen Fortsetzung von "Bayerische Suffragetten" 2021 – der Vorhang hebt. Aus einem Becken in der nach vorne geneigten Bühne steigt weißer Rauch auf, verdichtet sich zu einer Dampfwolke, aus der sechs Gestalten in der spacigen Gewandung der Kostümbildnerin Aleksandra Pavlović nach vorne treten. Aufgemalte Brustwarzen auf den Ganzkörperanzügen suggerieren urwüchsige Nacktheit, die breiten Raffröcke Barock, die Perücken und grellen Farben Sci-Fi.

Organisiert von zwei Frauen

Diese Frauen sind Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Utopie. Wobei in zwei der originellen Outfits Männer stecken, aber das ist egal. Erzählt wird die wahre, sensationelle und nahezu vergessene Geschichte eines internationalen Kongresses in Den Haag, den zwei Münchnerinnen 1915 anstießen, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann (Leoni Schulz, Maren Solty). Kaum hatten sie begonnen, sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen und erzielte die feministische Forschung an Medizin und weiblicher Sexualität erste zaghafte Erfolge, da machte der Ausbruch des Weltkriegs alles zunichte.

Anti1 c Julian Baumann uZwischen Sci-Fi und Barock: das Ensemble in den Kostümen von Aleksandra Pavlović in "Anti War Women" © Julian Baumann

"Hilfe konnte nur von Frauen kommen", heißt es im Stück. Binnen wenigen Wochen wurden 1500 Koryphäen aus 16 Ländern zusammengetrommelt, um ungeachtet der Schuldfrage Forderungen gegen diesen Krieg und alle weiteren zu formulieren. Jelena Kuljić kommt in dieser Einleitung ein Satz zu, den wir schon länger nicht mehr gehört haben: "Wir schaffen das." Sprach's und begab sich zu einem schwebenden Schlagzeug, um den von Eva Jantschitsch eingerichteten musikalischen Intermezzi die nötige Fetzigkeit zu verleihen. Eine aufgeblasene rote Riesenklitoris und eine ebenfalls überdimensionale Hand dienen als Maskottchen für das ehrgeizige Projekt.

Tausend Expert:innen und eine Resolution

Im Schnelldurchlauf exerziert das Ensemble anhand der wenigen vorhandenen Quellen durch, wie der Kongress ablief und welche Teilnehmerin welche Positionen vertrat. "The resolution is carried", verkündet Moses Leo jedes Mal feierlich, wenn zur Abstimmung alle Hände hochgegangen sind. In 80 Minuten abzüglich der Songeinlagen entsteht so eine bemerkenswert anschauliche Geschichtsstunde. Szenisch bietet sie wenig – als es um unfreiwillige Gebietsübertragungen geht, beginnen die Sprechenden, einander von einem Gebiet der Bühne ins nächste hinüberzutragen. Ansonsten bleibt es beim – durchaus bewegten – Frontaltheater, das aber wegen seines unverbrauchten Stoffes ganz unmittelbar interessant ist. Man wünscht sich bitte zu all diesen Persönlichkeiten biografische Spin-offs.

Zwei Protagonistinnen bringen je ein besonderes Dilemma mit: Mary Church Terrell (Joyce Sanhá), die einzige Schwarze auf dem Podium, kann nicht umhin zu bemerken, dass sie ohne Krieg, nämlich den US-Unabhängigkeitskrieg, kaum als freie Frau hier stünde. Und die Belgierin Eugénie Hamer (Stefan Merki) lenkt ein, sie könne nicht zu hundert Prozent Pazifistin sein, während die Deutschen Giftgas in ihrem Land einsetzen. "Stimmt", heißt es daraufhin, das Wort "Gerechtigkeit" muss in die Resolutionen. Alle dafür, "the resolution is carried." So schön einfach.

Zähne zusammenbeißen

Dieses wohlige Gefühl, wenn eh alle auf derselben Seite stehen, man wünscht es auch der Gewerkschaft bei ihren Verhandlungen. Und doch liegt gerade hier die bittere Pointe der Geschichte. Die Frauen trugen die Forderungen den Regierungen ihrer Länder an. Bayern verbot ihre Verbreitung, in den USA lobte Präsident Wilson die guten Formulierungen. Später übernahm er sie in seinen erfolgreichen 14-Punkte-Friedensplan – nur halt ohne die Teile, die ihn nicht betrafen, wie die Vergewaltigung als Kriegswaffe oder die Gleichberechtigung der Frauen. Da heißt es schön die Zähne zusammenbeißen. Hauptsache, es herrscht der liebe Frieden.

 

Anti War Women – Wie Frauen den Krieg bedrohen
nach Texten von Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Aletta Jacobs, Rosika Schwimmer, Eugénie Hamer, Jane Adams, Hope Adams Bridges Lehmann und Mary Church Terrell
Regie: Jessica Glause, Bühne: Jil Bertermann, Kostüme: Aleksandra Pavlović, Musik: Eva Jantschitsch, Licht: Charlotte Marr, Video: Thomas Zengerle, Dramaturgie: Olivia Ebert.
Mit: Jelena Kuljić, Moses Leo, Stefan Merki, Joyce Sanhá, Leoni Schulz, Maren Solty.
Premiere am 31. März 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Der historische Kongress als Vorlag sei "das Bemerkenswerteste an der ganzen Inszenierung", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (€ | 3.4.2023). Jessica Glause "benennt zwar die verheerende Situation, in der sich die Welt vor mehr als hundert Jahren befand, in der sich damals auch die Frauen befanden, die von jeglichen politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen waren. Sie schafft ein Bewusstsein für ein paar Namen. Doch es gelingt ihr nicht, über diese historische Tatsache hinaus einen originellen Theaterabend zu entwickeln." Die Arbeit sei "für ein Dokumentarstück zu wenig dokumentarisch, für ein Drama überhaupt nicht dramatisch genug".

"Dass diese 80 Minuten nie langweilig oder moralinsauer werden, liegt zum einen am kernigen Spiel der Darstellerinnen und Darsteller und zum anderen an den starken Kompositionen von Eva Jantschitsch, die unter ihrem Künstlernamen Gustav bekannt ist", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (3.4.2023). "Ihre Musik schaut beim Punk genauso vorbei wie bei Hip-Hop und Nino de Angelos 'Jenseits von Eden'." Die Regisseurin Jessica Glause zeige zudem, "wie unterschiedlich die Positionen beim Kongress waren. Dafür stehen exemplarisch die Belgierin Eugénie Hamer, die sich kaum zum Pazifismus bekennen kann, derweil die Deutschen ihre Landsleute mit Giftgas vernichten, und die US-Abgeordnete Mary Church Terrell, deren Eltern erst durch den US-Bürgerkrieg vom Joch der Sklaverei befreit wurden. Nur weil man etwas nicht sieht oder sehen will, bedeutet das eben nicht, dass es nicht existiert. Jubel."

Die Damen (und Herren) auf der Bühne sind vom ersten Moment an in revolutionärer Stimmung und was folge, sei ein "sinnliches und empowerndes Reenactment eben jenes Kongresses", so Anne Fritsch in der Abendzeitung (3.3.2023). Thematische und musikalische Abschweifungen verwandeln das Ganze trotz der komplexen Themen in einen kurzweiligen Abend. "2Indem Glause hie und da heutige Forderungen einstreut, wird bitter deutlich, dass sich in über 100 Jahren zwar einiges, aber eindeutig zu wenig getan hat."

Kommentare  
Anti War Women, München: Bemühter Geschichtsunterricht
Politisch korrekt oder genauer politisch bemüht, doch kaum inszeniert erschien mir dieser Abend der Regisseurin Jessica Glause und des Produktionsteams. Ja, die Geschichte des Friedenskongresses und die beachtlichen Resolutionen die 1915 über 1500 Frauen aus 16 Ländern Kriegsparteien übergreifend und ungeachtet der Schuldfrage erarbeitetet haben, sind eine aufrüttelnde Geschichte. Im Sinne Walter Benjamins kann diese Geschichte als ein „dialektisches Bild“ verstanden werden: Im „Aufblitzen“ des Bildes dieser engagierten Frauen und ihrer Friedens- und Freiheitserklärungen zeigt sich der Anspruch, den das Vergangene an die Gegenwärtigen hat. Nur an wenige Stellen – und aus meiner Sicht völlig ausreichend – wird an diesem Abend der Bezug zu späteren Kriegssituationen und auch der atomaren Bedrohung angedeutet. „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ (Walter Benjamin).

Über weite Strecken wird jedoch das historische Material einfältig als Deklamationstheater an der Bühnenrampe vorgetragen. Es hätte auch eine Lesung von historischen Texten sein können. Ob diese Lesung dann ihren Ort an einem Stadttheater oder an anderen öffentlichen Orten haben sollte, ist eine andere Frage. Dazwischengesetzte musikalisch und textlich einfach gehaltene Schlagersongs machen es nicht besser und dienen nicht der Erinnerung dieses historischen internationalen Friedenskongresses in Den Haag. Ebenso
trägt eine aufgeblasene große Kunststoffklitoris sowie Ganzkörperanzüge mit farbigen nackten Frauenkörpern und ihren Geschlechtsteilen einer differenzierten Betrachtung der reaktionären Niederschlagung von feministischen Emanzipationsbewegungen und Initiativen zur sexuellen Befreiung in München und anderswo nicht bei. Vor allem wird der Abend so noch nicht zu einer überzeugenden Theaterinszenierung!

Anders ist dokumentarisches Theater z. B. Peter Weiss gelungen: Er hat in seinem Stück „Die Ermittlung“ den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 mit den Mitteln des Theaters erzählend wie auch dialogisch erinnert. Bei Weiss wird als „Oratorium in 11 Gesängen“ im Detail kunstvoll und konzentriert dargestellt, welche Sitzungsdynamik und Widersprüche im Ausschwitzprozess zwischen allen Beteiligten bestanden.

Bei dem Kammerspiel-Abend wäre eine dialogische Darstellung der Auseinandersetzungen mit den belgischen Delegierten und ihrer kritischen Position, sich gegen den deutschen Angriffskrieg und Giftgaseinsatz verteidigen zu wollen, interessant gewesen. Leider wird dieses Dilemma ebenso wie die von der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Mary Church Terrell formulierte Position, dass Kriege aus Sicht der Afroamerikaner:innen auch befreiend sein können, nur benannt und nicht in Dialogen vertieft.

Allein die Bekundung einer politischen Position – so unterstützenswert diese politische Sicht auch immer sein mag – macht noch kein engagiertes politisches Theater. Es ist leider für mich wieder ein enttäuschender Abend an den Münchner Kammerspielen! Theaterkunst und politische Positionierung sind kein Gegensatz, sondern können sich anregend ergänzen. Gelungene Beispiele für ein politisch engagiertes Theater und dokumentarisches Theater – auch an den Münchner Kammerspielen – nenne ich am Ende meines Kommentars #4 zu „Das Erbe“ in
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21722:das-erbe-muenchner-kammerspiele-pinar-karabulut-nuran-david-calis&catid=99:muenchner-kammerspiele&Itemid=40
Anti War Women, München: Fantastischer Abend
Lieber Martin Thomas Pesl,
wir haben das Jahr 2023 und Sie können eine Vulva nicht von einer Klitoris unterscheiden. Ich bin sehr irritiert. Das zeigt wie wichtig dieser Abend ist, den die Regisseurin und das Ensemble uns geschenkt haben. Mir geht es ganz anders als Herrn Peteranderl. Ich habe einen klugen, diskursiven und ästhetisch fantastischen Abend erlebt, der für mich feministische Theatergeschichte schreibt.

(Anm. Redaktion. Der Autor entschuldigt sich für den Fehler und hat die Korrektur beantragt, die wir eben vorgenommen haben. Wir müssen als Redaktion allerdings peinlich berührt eingestehen: Die gestern mit drei Frauen komplett weiblich besetzte Redaktion hat das Foto auch gesehen und den Fehler nicht bemerkt. Insofern: vierfache Entschuldigung.)
Anti War Women, München: Verzerrtes Bild
Ich könnte es fast als ein Vergehen gegen die Frauen des Friedenskongresses bezeichnen, wenn bei einem Versuch der Dokumentation dieses historischen Ereignis auf einer Bühne im Jahr 2023 die politische Haltung dieser Frauen in so ein verzerrtes Bild gepresst wird.
Klitoris oder Vulva: Keine Erkennungsmerkmale für mich als Mann, um nicht die feministische politische Leistung dieser Frauen anzuerkennen und zu schätzen.
Anti War Woman, München: Bravo
Mein Mann und ich sind sehr beeindruckt, beflügelt und können diesen Abend nur empfehlen. So wichtig! Empowernd und sinnlich!
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