Mucke und Mücken

20. August 2023. International kuratierte Theaterbeiträge im Brandenburger Wald: Caroline Barneaud und Stefan Kaegi konzipieren eine siebenstündige Wanderung, während der sich das Publikum seiner Rolle als Menschen in der Natur bewusstwerden soll.

Von Christian Rakow

"Shared Landscapes" von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi © Camille Blake

20. August 2023. Wann wirkt Theater schon mal so stark nach? Noch jetzt, da ich daheim von meinen Erlebnissen schreiben will, brennen mir die Waden von – keine Übertreibung – zig Dutzenden Mückenstichen. Der Rücken auch. Dabei hatte mir Stefan Kaegi persönlich, der gute Mann, noch sein Anti-Insektenspray gereicht. Wie überhaupt die Solidarität in den sieben Stunden Waldwanderung großartig war: überall unterstützten sich die Leute, rieben und sprühten sich gegenseitig ein. Aber es half nichts. Der brandenburgische Wald, oder vielmehr seine Mücken, waren härter.

"Shared Landscapes" (dt. gemeinsame Landschaften) nennt sich das Spektakel, für das um die zweihundert Berliner Theaterfreunde gute vierzig Kilometer vor die Tore der Stadt gepilgert sind, in einen Ortsteil von Grünheide, das ansonsten für seine Tesla-Fabrik bekannt ist. Für deren Bau musste ein Teil des Waldes weichen, den wir jetzt durchstreifen. In Gruppen gehen wir, um zwischen Bäumen und Farnen sieben kurze Inszenierungen zu schauen, die Caroline Barneaud (Kuratorin am Théâtre Vidy-Lausanne) und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) zusammengestellt haben. Die Arbeit war bereits in Vidy-Lausanne und beim Festival d'Avignon zu sehen, wird aber für jeden Spielort neu entwickelt. So auch hier bei den Berliner Festspielen. Der Idee nach jedenfalls.

Am Ort vorbei

Tatsächlich mäandert ein Gutteil der international kuratierten Beiträge dann doch an den örtlichen Gegebenheiten vorbei. Per Kopfhörer wird man etwa bei Chiara Bersani und Marco D'Agostin in der raunenden Bewusstmachungsprosa, die für solche Zwecke Standard ist, auf den Ort eingestimmt: "Der Wald steht nicht still, aber Ihr versucht still zu stehen... Hörst Du den Vogelgesang?..." – und so bemerkt man immerhin, dass dieser Wald bei Grünheide vollkommen still und vogelfrei wirkt. Trotz der vielen Insekten. Seltsam. Das Mysterium klärte sich nicht auf.

Anderswo bei Sofia Dias und Vítor Roriz findet man sich, wiederum angeleitet über Stimmen im Kopfhörer, zu einer ritualhaften Einswerdung mit der Natur ein. "Formt einen Kreis... Wendet euch einander zu.... Mein Körper nimmt seltsame Gestalten an... Ich bin ein Baum.... Ich bin ein Berg." Die entsprechenden Bewegungen bewältigt die wohlwollende Publikumsschar wie eine mäßig motivierte Eurythmiegruppe. Bei Begüm Erciyas und Daniel Kötter fliegt man via Virtual-Reality-Brille aus dem Wald hinaus über die Wipfel der Bäume (eine Sache für Schwindelfreie), um hernach an einer Lesestation zu erfahren, dass dieser Flug an Drohnen erinnern soll, die im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan 2020 den Aserbaidschanern einen entscheidenden strategischen Vorteil verschafften.

Kopfhörererlebnisse auf dem Waldboden in Brandenburg © Camille Blake

Das durchgängige Bemühen, den Menschen in seinem seinsvergessenen Umgang mit der Natur multiperspektivisch zu bespiegeln, vermittelt sich. Aber um übers Klischee hinauszugelangen, fehlt es den kurzen Impressionen (die Arbeiten dauerten je 35 Minuten) an erzählerischer Tiefe. Rimini Protokoll gehen in ihren Werken gemeinhin sehr konkret vor, forschen genau in ihre Sujets hinein, lagern Wissen an, bringen Informanten ("Experten des Alltags") ins Spiel. Einen Hauch davon versprüht das instruktive Intro, das Stefan Kaegi selbst entworfen hat. Im Stile eines Radio-Features collagiert er ein Fünfergespräch für Kopfhörer. Wir liegen auf einer Decke am Waldboden und lauschen unter anderem einer Meteorologin und einem Förster, die Wissenswertes zu Wetterphänomenen oder zu Leben und Arbeit im Wald einspeisen. Ein totes Reh wird von den Würmern, Fliegen und Käfern in vier Wochen vertilgt, erfahren wir. Mit einem Menschen würde es nicht länger dauern.

Erhellende Einblicke

Solcher Glanz des Expertenwissens scheint erst spät wieder auf, als im Beitrag von Émilie Rousset ein ortsansässiger Heubauer mit Traktor anrollt (Carlo Horn) und berichtet, wie er das Heu für Pferde derart verfeinern kann, dass er damit das Zehnfache des üblichen Marktpreises einnimmt: satte tausend Euro pro Tonne. Ein erhellender Einblick in die Transformation der einheimischen Landwirtschaft hin zu Spezialangeboten.

Das komplette Event rundet sich mit einem längeren Monolog des Kollektivs El Conde de Torrefiel ab: Auf einer Lichtung bei Sonnenuntergang vernimmt man eine Rede von Mutter Natur an uns Menschen, mitzulesen auf einem LED-Panel, von dräuenden Sounds untermalt. Es ist eine kleine Geschichte des Homo Sapiens und seiner andauernden Instrumentalisierung und Schändung der Natur. Samt apokalyptischem Ausblick: "Die Ausrottung eurer Spezies wird eine Erlösung sein. / Sie ist ganz nah."

Ausschnitt aus "Unless" von Ari Benjamin Meyers, gespielt vom Ensemble Apparat

Performativ steckt in diesen sieben Stunden wenig drin, viel Suggestion und Instruktion im Audioführer, viel statischer Monolog. So auch bei Émilie Rousset, wo Landwirt Carlo Horn von den Schauspielerinnen Brigitte Cuvelier und Magali Tosato begleitet wird, die Interviewbeiträge einer Brüsseler Umweltlobbyistin und einer Tierstimmenforscherin beisteuern – ohne zu anekdotischer Prägnanz vorzudringen.

Symphonie des Waldes

Was im Spiel mit der Umgebung mehr möglich gewesen wäre, zeigt vor allem der Komponist Ari Benjamin Meyers (bekannt unter anderem durch seine Musik für Inszenierungen von Ulrich Rasche), der zehnminütige Zwischenspiele für die Rundtour entworfen hat: "Unless" heißt seine Komposition und ihre vier Teile widmen sich den Bäumen, dem Boden, der Luft und den Vögeln. Es ist ein Stück für Blasorchester, gespielt von dem Ensemble Apparat. Und wie! Irgendwo zwischen den Gräsern, unter einem Hochstand, an einem Baumstamm erblickt man sie, liegend, bald aufragend. Ihre Geräusche ahmen erst die Töne des Waldes nach, Rauschen, Blasen, ein Zwitschern vielleicht, dann wachsen sie zu kleinen Harmonien heran und dämpfen sich wieder ab. Eine Symphonie des Waldes entsteht. Unprätentiös, berückend. Das also wird bleiben von diesem Tag: Mucke und Mücken. Memorabel.

 

Shared Landscapes
von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)
Konzept und Kuration: Caroline Barneaud und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll), mit Inszenierungen von: Chiara Bersani und Marco D'Agostin (Italien), El Conde de Torrefiel (Spanien), Sofia Dias und Vítor Roriz (Portugal), Begüm Erciyas und Daniel Kötter (Türkei, Belgien, Deutschland), Stefan Kaegi (Deutschland, Schweiz), Ari Benjamin Meyers (USA, Deutschland) sowie Émilie Rousset (Frankreich).
Besetzung Hangelsberg/Berlin: Apparat mit Gästen (Malin Sieberns (Flöte), Ruth Velten (Saxofon), Martin Posegga (Saxofon), Paul Hübner (Trompete), Maxine Troglauer (Posaune), Max Murray (Tuba)), Performance: Brigitte Cuvelier, Fernanda Farah, Carolin Hartmann, Christian Hohm, Carlo Horn, Michaela Koschak, Emil Leyerle, Magali Tosato, Dr. Mai Wegener, u. v. m.
Deutschlandpremiere am 19. August 2023
Dauer: je Inszenierung 35 Minuten, insgesamt 7 Stunden, mit vielen kürzeren und einer längeren Pause

Eine Produktion von Rimini Apparat (Deutschland) und Théâtre Vidy-Lausanne (Schweiz) in Koproduktion mit Berliner Festspiele (Deutschland) und dem europäischen Konsortium Performing Landscape: Bunker und Mladi Levi Festival (Slowenien), Culturgest und Rota Clandestina / Câmara Municipal de Setúbal (Portugal), Festival d’Avignon (Frankreich), Tangente St. Pölten – Festival für Gegenwartskultur (Österreich), Temporada Alta (Spanien), Zona K und Piccolo Teatro di Milano Teatro d’Europa (Italien).

www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Für Tobi Müller auf der Homepage von Monopol (20.8.2023) fühlten sich die Einzelinszenierungen bisweilen an, "als seien es Abschlussarbeiten bei Professor Kaegi, einem eben rundum freundlichen Mann". Man musste auf der Tour "lächerlich manipulative, über den Kopfhörer eingeträufelte Texte aushalten und sich wundern, warum so viele Leute ohne Not tun, was man ihnen sagt". Für den Kritiker ragten die Musikstücke von Ari Benjamin Meyers heraus ("Die Blasinstrumente stoppen scharf und der Hall bleibt mehrere Sekunden stehen. Das ist kein elektronischer Effekt, das macht, tatsächlich, der Wald."). Gut weg kommen auch Kaegis Audio-Montage mit dem liegenden Erlebnis des Waldes, die VR-Reise von Erciyas/Kötter und der Erd-Monolog der spanischen Gruppe El Conde de Torrefiel ("Die Letzte Generation ist ein Kindergarten im Vergleich, was uns hier als Laufschrift um die Ohren fliegt.").

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (21.8.2023) erlebte "auf diesem wunderlich widersprüchlichen Sieben-Stunden-Trip durch die Mückenhölle von Brandenburg nicht nur sieben teils spitz ausgeklügelte, teils esoterisch abdriftende Happenings zwischen Nutzkiefern und Uralt-Eichen"; man musste auch "als Teilnehmer und Mitspieler dieses immer auch leicht farcenhaften Betriebsausflugs vor allem selbst mitsehen – und befragen, was man denn nun sucht in diesem Wald." Gesehnt hat sie sich nach der "Informationsvielfalt und Dichte früherer Rimini-Projekte"; als schönster und überraschendster Moment galten ihr die "sechs Blechbläser, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchen, scheuen Mischwesen gleich, im Moos liegend oder hinter Sträuchern hockend und Ari Benjamin Meyers hauchig knurrende, quietschende Kompositionen spielen".

In Stefan Kaegis Auftakt erlebte Andrea Handels von rbb Kultur (21.8.2023) eine "der stärksten" Inszenierungen und zugleich die Kernaussage des Tages: "Der Wald beziehungsweise die Natur könnte gut ohne den Menschen zurecht kommen, wahrscheinlich sogar besser als mit ihm." Das werde mit der "Standpauke" von der Natur am Schluss wieder aufgegriffen. Man gehe mit vielen Mückenstichen aber auch "einer größeren Verbundenheit zur Landschaft und zur Natur" nach Hause.

Aufführungen von Rimini Protokoll "verlässt das Publikum in der Regel klüger und tief berührt", schreibt Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (21.8.2023) und entdeckt viel von dieser Qualität in Stefan Kaegis Auftaktstück wieder. "In den darauf folgenden Stücken verlässt dann aber die Performance den Erfolgspfad von Rimini Protokoll", und "esoterische und gruppendynamische Praktiken und ein suggestiv-appellatives Theater" herrschen vor. So bleibe die gesamte Produktion "in floskelhaften Gemeinplätzen stecken" und "statt sich auf den Hangelsberger Wald konkret einzulassen, werden globale Erkenntnisse herbeizitiert". Pluspunkt: "Zwischen den wortreichen Stücken lassen vier eindringliche Kompositionen von Ari Benjamin Meyers für fünf Bläser ein Aufatmen zu."

Auch für Tom Mustroph von der taz (22.8.2023) ragt Ari Benjamin Meyers' in die Umgebung eingebettete Klangkunst mit den Musiker*innen des Ensembles Apparat heraus. "Neben den Mücken und der Vertikalposition dank Drohne sind dies wohl die eindrücklichsten Momente eines angesichts der Dauer von sieben Stunden eher ereignisarmen performativen Ausflugs."

"Performancekunst auf Holzwegen" hat Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (22.8.2023) im Hangelsberger Forst erlebt. "Einige Mini-Inszenierungen des Waldparcours sind in ihrer ästhetischen wie inhaltlichen Dürftigkeit so belanglos, dass die angriffsfreudigen Mücken zur Hauptattraktion werden." Schöne Momente fand er gleichwohl im Klangwerk von Ari Benjamin Meyers, im VR-Luftflug bei Filmkünstler Daniel Kötter und im Gespräch mit dem Förster, das Stefan Kaegi inszeniert hat. "Der Höhepunkt und das einzig wirklich gelungene Kunstwerk des Theater-Waldlehrpfads" aber ist für Laudenbach die LED-Projektion des spanischen Künstlerkollektiv El Conde de Torrefiel: Es "knallt den verschwitzten Wanderern am Ende des langen Tages mit vorbildlicher Klarheit und Härte einige prinzipielle Sätze um die Ohren."

 

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