Ruinierte Revolutionen

10. März 2024. Heiner Müllers Drama "Die Hamletmaschine" von 1977 wurde zehn Jahre später die Grundlage der gleichnamigen Oper von Wolfgang Rihm. Mit Opulenz und vielen Referenzen quer durch Bilder und Zeiten haben sich am Staatstheater in Kassel Florentine Klepper und Valentin Alfery des Stoffs angenommen. 

Von Simon Gottwald

"Die Hamletmaschine" von Heiner Müller und Wolfgang Rihm am Staatstheater Kassel © Sylwester Pawliczek | MACHMAMACHMA

10. März 2024. Der Zuschauerraum ist von einem Laufsteg zerschnitten, über dem ein riesiger Felsbrocken baumelt. Später wird der Felsen über einem Reigen vergangener Revolutionen schwingen. Über der Bühne hängt ein mit Sand gefülltes Pendel, das zum Ende hin Leck schlägt und zum Stillstand kommt. Die Strecke des Pendels im rechten Winkel schneidend, schwingt ein übergroßes Windspiel. Es ist alles ein großes Hin und Her, das im Stillstand endet: Die großen Umbrüche geben sich die Klinke in die Hand, und doch verändert sich irgendwie sehr wenig.

Geschichte(n) des Scheiterns

Wolfgang Rihms Oper nach Heiner Müllers Stück "Die Hamletmaschine" wird am Staatstheater Kassel unter der Regie von Florentine Klepper und Valentin Alfery als Geschichte (gescheiterter) Revolutionen inszeniert. Nachdem Unstimmigkeiten bei den Proben öffentlich geworden waren, die die Rolle der Musik in der Inszenierung betrafen, war die Neugier groß, wie die Premiere aussehen würde. Glücklicherweise ist während der Aufführung von eventuellen Spannungen nichts zu merken, und die Zuschauer dürfen eine aufwändige Inszenierung mit elisabethanischen Kostümen in Warnwesten-Neongelb, drei (man erinnere die Zahl der von der Decke hängenden Pendel-Gegenstände) Ophelia-Doubles mit Pappmaché-Köpfen (Marx, Lenin und Mao), drei Hamlets und drei Heiner Müllers bewundern.

Eine Revolution ist so gut wie die andere

Die Hamlets besingen das Blabla, das mit der Brandung gesprochen wird, krächzen, stoßen Laute hervor, kämpfen mit den Worten. Ein Begräbnis mit dazugehörigem Leichenzug läuft im Rückwärtsgang ab, und Hamlet wünscht, in seine Mutter zurückzukehren. Ost-Sandmännchen und West-Sandmännchen halten eine Ente fest, damit der kleine Maulwurf (genau, der aus dem Fernsehen) sie gnadenlos verprügeln kann: Groteske teilweise bis hin zum Dadaismus zieht sich durch die Inszenierung, doch gibt es auch wunderschöne Momente, so etwa, wenn Anna Gorokhova als Hamlets Mutter Gertrude auf eine Weise tanzt, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als die Bewegung in diesem einen Moment, oder wenn Annette Schönmüller als Ophelia auch herausfordernde Gesangspartien bravourös bewältigt.

Hamletmaschine Sylwester Pawliczek MACHMAMACHMA1 45Die Gelbwesten von einst © Sylwester Pawliczek | MACHMAMACHMA

Wenn Eugène Delacroix' Freiheit zusammen mit Atomkraft-Gegnern, Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, Fridays-for-Future-Aktivisten, Antifaschisten und anderen über den Laufsteg marschiert und die verschiedenen Demonstranten allmählich Kleidungsstücke untereinander tauschen, wird klar: Eine Revolution ist so gut wie die andere, wirklich ändern wird sich nichts. Es ist eine der Ironien dieses Abends, dass die Festnahme von Daniela Klette den Namen der RAF wieder hochaktuell gemacht hat, denn auch Ulrike Meinhof gehört zu den Revolutionären, die auftreten. Der Wunsch nach Selbstbestimmung (Ophelia) kann ein gesellschaftlich unverträgliches Extrem erreichen.

Weltschmerz und Groteske

Die immer bestehende Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft findet ihr Gesicht in Heiner Müller, der als überzeugter Kommunist unter Repressalien des DDR-Regimes zu leiden hatte, wie in der Einleitung zu dem Abend erklärt wird. Heiner Müller, hier aufgeteilt in drei Stimmen, die zu einer psychoanalytischen Lesart geradezu unverhohlen einladen, kann sich den Zwängen seiner Zeit nicht entziehen (man denke an Camus' Rede zum Literaturnobelpreis).

Hamletmaschine SylwesterPawliczek MACHMAMACHMA1 143Die großen Ideologen als Pappmaché-Köpfe © Sylwester Pawliczek | MACHMAMAMACH

Das Theater ist auch kein Ausweg: "Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur." Vielleicht ist es da schon zwangsläufig, dass Ophelia am Ende verkündet: "Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln" und damit Hamlets Wunsch aus dem ersten Akt in apokalyptischer Weise aufgreift.

Alle Sparten des Theaters sollen in der Inszenierung gleichberechtigt nebeneinanderstehen, und das funktioniert die meiste Zeit sehr gut. Peter Felix Bauers Bariton wird von Einwürfen Jakob Benkhofers kontrapunktiert, die feinsinniges Künstlerleid ironisch brechen. Der Tanz fasst in Bewegungen, wofür zahllose Wörter benötigt wurden, und die Musik schafft die notwendige Kohärenz, damit der Zuschauer auf der mitunter sehr vollen Bühne und in den fragmentarischen Szenen nicht die Orientierung verliert.

Manchmal ist die Bühne sogar etwas zu voll, und wenn Astronauten Absperrband durch den Zuschauerraum spannen, mag man sich fragen, ob das nun notwendig war. Aber Kleinigkeiten wie diese können vernachlässigt werden, wenn man sich eine Inszenierung anschauen möchte, die zwischen lustvoller Groteske und Weltschmerz pendelt wie der Sandbottich über der von Sarah-Katharina Karl gestalteten Bühne.

 

Die Hamletmaschine
Musiktheater in fünf Teilen von Wolfgang Rihm
Libretto von Wolfgang Rihm nach einem Text von Heiner Müller 
Musikalische Leitung: Francesco Angelico, Regie und Choreographie: Florentine Klepper, Valentin Alfery, Bühne: Sarah-Katharina Karl, Kostüme: Miriam Grimm, Video: Robert Läßig, Dramaturgie Musiktheater: Felix Linsmeier, Dramaturgie Schauspiel: Elias Lepper, Dramaturgie Tanz: Silke Meier-Brösicke.
Mit: Zazie Cayla, Jakob Benkhofer, Peter Felix Bauer, Annette Schönmüller, Marie-Dominique Ryckmanns, Ralitsa Ralinova, Maren Engelhardt, Kiley Dolaway, Klil Ela Rotshtain u. v. a. m.
Premiere am 9. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

Kritikenrundschau

Warum dieses Werk heute? "Weil man es kann", so Andreas Günther im der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (11.3.2024), obwohl und weil "Die Hamletmaschine" ein Mehrspartenhaus an den Rand des Funktionierens bringe. Florentine Klepper und Valentin Alfery "wissen, wann die Maschine auf Hochtouren drehen sollte und wann leise Reflexion angesagt ist". Während die Musik auf Überwältigung aus sei ("So viele Schlagzeuger hat das Opernhaus nie gesehen"), setze das Regieteam dem "eine schlaue, eben nicht bebildernde Welt" entgegen.  Kurz: "Es ist harte, aber beeindruckende Kost."

Rihm habe sich seine "Hamletmaschine" als totales Theater vorgestellt und in diesem Sinne werde es in Kassel realisiert, nämlich als spartenübergreifende Produktion von Musiktheater, Schauspiel und Tanz, so Lotte Thaler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.3.2024). Sie lobt die musikalische Gestaltung insbesondere von FMD Francesco Angelico, kritisiert aber die Regie: "Konventioneller geht’s kaum. Und was uns das Stück heute sagen könnte, lässt sie lieber im Unklaren." Und Choreograph Valentin Alfery tue "des Guten zu viel".

Eine "ausgefeilte Revue des traurigen Irrsinns und grotesken Schreckens" hat Judith von Sternburg erlebt, wie sie in der Frankfurter Rundschau (11.3.2024) schreibt. "Effektvoll und intuitiv gehen Klepper und Alfery vor, nur einmal wollen sie etwas zu Ende erklären: als in Ophelias Nachfolge die Protestbewegungen der Welt vorbeiparadieren. Gleich ein bisschen platt, aber auch rührend."

"Theatertext wie Komposition sind ein Aufbegehren gegen die geschichtsvergessene Gesellschaft. Hamlets Hadern angesichts des Realitätseinbruchs, Ophelias Widerstand gegen die ihr zugedachte Rolle – nichts davon ist reine Vergangenheit, nichts bloße Gegenwart. Beides wird nur verständlich, wenn wir uns der Geschichtlichkeit moderner Existenz bewusst werden", schreibt Erik Zielke auf nd-aktuell.de (11.3.2024). Die Inszenierung sei eine erfreuliche Herausforderung. "Ihr ist ein Publikum zu wünschen, das Lust hat, sich herausfordern zu lassen."

Kommentare  
Hamletmaschine, Kassel: Großes Kino!
Großes Kino! Muss man gesehen haben!
Hamletmaschine, Kassel: Eindrucksvoll
Lieber Bill, ich fand es auch sehr eindrucksvoll - auch, wenn meine Ohren noch etwas klingeln ;-)
Hamletmaschine, Kassel: Großartiger Text
Toll mal wieder Heiner Müller zu erleben. Soviel Input hab ich schon lange nicht mehr im Theater erlebt. Oper, Schauspiel und Tanz wunderbar.
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