Im Chor der Dosentomaten

18. Februar 2024. Wer war Emma Goldman? Offenbar viel mehr als "Die gefährlichste Frau Amerikas", wie in Tine Rahel Völckers neuem Stück aufscheint. Nicole Schneiderbauer findet für die utopischen Momente dieses Lebens starke Bilder.

Von Christian Muggenthaler

"Die gefährlichste Frau der Welt" am Staatstheater Augsburg © Jan-Pieter Fuhr

18. Februar 2024. Der Kampf um die Freiheit ist genau das: ein Kampf. Und all die Freiheiten, die bis heute mühselig erkämpft worden sind, sind keine Selbstverständlichkeiten, müssen durch große Anstrengungen verteidigt, idealer Weise ausgeweitet werden. Dabei ist es nötig, Utopien wie der generellen Gleichheit von Menschen nicht aus den Augen zu verlieren. All dem jammernden, hasserfüllten, rückwärtsgewandten, dystopischen Raunzen eine positive Radikalität, angefüllt mit Mut, entgegenzusetzen. Und da kommt Emma Goldman ins Spiel, eine Anarchistin, Agitatorin, Kämpferin für Frauen und Arbeiter*innenrechte, gegen Militarismus und rechten Mob: Sie lebte von 1869 bis 1940, darunter von 1885 bis 1919 in den USA, bevor sie von dort ausgewiesen wurde, als "Die gefährlichste Frau Amerikas".

Utopie ist sagbar

Ihren Lebensweg als solche – bei ihr wird der Titel schnell ironisch – zeichnet die Autorin Tine Rahel Völcker in einem Biografie-Spiel nach, das jetzt als Auftragswerk des Staatstheaters Augsburg uraufgeführt wurde. Völcker zeichnet Goldmans Leben in all seiner Wirkkraft nach: Die Revolutionärin lebte ihren Gleichheitsbegriff radikal, war offenbar eine begnadete Rednerin und als Mensch sehr weit in ihren Gleichheits- und Freiheitsgrundsätzen, ihrer Zeit – und auch der heutigen – weit voraus, auch in ihrem Umsetzen konsequent praktizierter freier Liebe. Eine solche Radikalität geht nicht ohne Schmerzen und Schäden, sei es privat, sei es politisch: Trennungen und Gefängnisaufenthalte, schließlich eine weltweite Flucht sind die Folgen. Auch bei den russischen Revolutionären eckte sie schnell an.

Die gefaehrlichste frau2 1200 jan pieter fuhr uIm Weltgestänge: Thomas Prazak, Patrick Rupar, Katja Sieder © Jan-Pieter Fuhr

Völcker vermengt die Lebensgeschichte und Passagen aus den Reden der Frau nicht zu einem dokumentarischen Lehrstück über gestrige Verhältnisse, sondern zu einem sehr aktuellen Beitrag für heute. Wie sehr Frauen zu kommenden, werdenden, seienden Müttern reduziert werden, die krasse ökonomische Ungleichheit, die Sündenbockfunktion von Migrant*innen und der zwingend notwendige Einsatz gegen aufkeimenden Faschismus: All das wird im Text aufgefrischt, vergegenwärtigt. Die Reden der Frau sind nicht Bestandteil eines Märchenmuseums, sondern gehen etwas an, richten sich ans heutige Publikum: Utopie ist sagbar, kann als ein Geländer dienen für den Weg in eine Zukunft mit dem Recht jedes Menschen auf Vielfalt.

Im Biografie-Kollektiv

Solche Geländer, eine solche Vielfalt sind denn auch Bestandteil des drehbaren Kubus auf der Augsburger Brechtbühne im Gaswerk, den Ausstatterin Miriam Busch gebaut hat: geschlossene und offene Räume, multifunktional; dehnbare Riemen können ein Gefängnis sein, Metallpodeste ein Rednerpult. Theatersessel spiegeln den Zuschauerraum, Bühnengestänge und einige Perkussionsinstrumente lassen das Ensemble immer wieder rhythmische Akzente und wilde Dynamikprozesse setzen. Dahinter weiter raum- und dimensionserweiternd assoziative Videos von Stefanie Sixt. Das Licht ist streng und präzise, erobert große und kleine Spielräume. Die Kostüme spielen mit Grautönen und Lila. In all diesem völlig stringenten und zupackenden Ambiente können nun die wunderbaren Schauspieler*innen agieren.

Die gefaehrlichste frau4 1200 jan pieter fuhr uDie Zeitung spricht: Thomas Prazak, Patrick Rupar, Katja Sieder, Mirjana Milosavljević © Jan-Pieter Fuhr

Besonders geglückt dabei: Emma Goldman erscheint zu dritt. Katja Sieder, Mirjana Milosavljević und Mirjam Birkl teilen sich die Rolle, was mindestens drei Vorteile hat: Erstens kann die Heldin so in ihrer ganzen inneren Vielschichtigkeit erscheinen. Zweitens legt das die anarchistische Idee des Kollektivs ohnehin nahe. Und drittens kann Regisseurin Nicole Schneiderbauer den Text dergestalt strukturieren und verteilen. Thomas Prazak, Patrick Rupar und Paul Langemann sind die männlichen Gegenüber, die Liebhaber und Mitstreiter. Als besonders zweckdienlich erweist sich auch der Einfall der Autorin, eigentlich eher abstrakte Bestandteile der Geschichte als Wesen auf der Bühne einzuführen: Revolver, Eisprung, Zeitungen werden zu Figuren, werden zugleich zum Dreh ins Zeitlose, kitzeln die Möglichkeiten zur Bühnenphantasie heraus, sind die Träger von starker Theaterkunst.

Ein Theater, das Mut macht

Denn Schneiderbauer nimmt diese Herausforderungen spielerisch und in starker Umsetzung auf. Wenn Emmas Hände erzählen, wird das zum kindhaften Klatschspiel zweier Schauspielerinnen; der Eisprung ist ein Auge; und wenn eine Dose Tomaten als Anschlaggerät in einem Museum dient, dann wird das in Augsburg ein wunderbarer Chor von süßen, kleinen Dosentomaten auf engstem Raum, die auf ein Bild geklatscht wurden und auch wissen um ihre enorm wasserressourcenzerstörende Produktion in Spanien. Mit so viel Fantasie, Schwung und Energie geht es dauerhaft dahin. Ein Theater, das Mut macht auch vor dem Hintergrund von Emma Goldmans Credo: dass jeder Mensch Zugang zur Kunst braucht, um Kraft zu schöpfen.

Die gefährlichste Frau Amerikas
von Tine Rahel Völcker
Uraufführung
Regie: Nicole Schneiderbauer, Video: Stefanie Sixt, Bühne und Kostüme: Miriam Busch, Musik: Fabian Löbhard, Körperarbeit: Gabriella Gilardi, Licht: Moritz Fettinger, Dramaturgie: Sarah Mössner.
Mit: Katja Sieder, Mirjana Milosavljević, Mirjam Birkl, Thomas Prazak, Patrick Rupar, Paul Langemann.
Premiere am 17. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

"Es droht also keinerlei Gefahr, gelangweilt aus diesem gelungenen Theaterabend herauszugehen", resümiert Birgit Müller-Bardorff in der Augsburger Allgemeinen (19.2.2024). Tine Rahel Völcker stelle "dramaturgisch raffiniert“ eine Verknüpfung von Biographie und Reden Emma Goldmans her, die sie "mit heutigen Bezügen" anreicherte "und so pointiert eine atemberaubende Aktualität herstellt". An Nicole Schneiderbauers Inszenierung hebt die Kritikerin die surrealen Ideen hervor (etwa Eizellen, die zu Figuren werden), die als "originell-absurde Elemente performativer Theaterkunst" das "Dokumentarische ins Sinnliche erweitern".

"Die Inszenierung gerät weder gestrig noch überfrachtet, braucht aber lange, um den Menschen hinter der Aktivistin zu entdecken“, urteilt Tobias Hell für die Deutsche Bühne online (18.2.2024). "Dass der Abend in Augsburg weder zur trockenen Geschichtsstunde noch zur ideologisch überfrachteten Nummernrevue wird, ist nicht zuletzt Regisseurin Nicole Schneiderbauer zu danken, die eine gesunde Balance zwischen den biografisch erzählenden Episoden und den assoziativ kommentierenden Szenen findet. Gerade dann, wenn letztere die Grenzen zum absurden Theater ausreizen."

Kommentar schreiben