alt

You've Got The Mjusic In You

von Willibald Spatz

München, 16. April 2011. Es geht immer noch um die Standortbestimmung in den Kammerspielen. Das Theater ist bemüht, den maximalen Bezug zu dem Ort herzustellen, an dem es spielt: München. Einen Tag zuvor gab es die Uraufführung des München-Texts Alpsegen von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, die ganze erste Spielzeit von Johan Simons hindurch zieht sich eine szenische Lesung von Lion Feuchtwangers München-Roman "Erfolg", und nun gibt es "Mjunik Disco".

Es war einmal Freddie Mercury

Vor drei Jahren erschien, herausgegeben von dem DJ und ehemaligen Balletttänzer Mirko Hecktor, ein Buch unter diesem Titel mit Bildern und Geschichten aus Münchens Nachtleben der vergangenen Jahrzehnte. Da war einiges los. Giorgio Moroder zum Beispiel kreierte vor knapp vierzig Jahren in der Stadt seinen legendären Disco-Sound und holte Legenden wie Freddie Mercury her, der hier anständig Party machte. Auch die Jahrzehnte danach rührte sich noch einiges, musikalisch und auch feiertechnisch. Es gäbe also genug Anlass, nostalgisch zurückzublicken auf vergangene Zeiten. Aber um Nostalgie geht Stefan Pucher nicht, weil Nostalgie uncool ist und irgendwie Kapitulation bedeutete: Das hieße ja, man brächte heutzutage nichts mehr auf die Beine.

nachtkritik.de hat alles zum Theater. Damit das so bleibt, klicken Sie hier!

Der Werkraum der Kammerspiele wurde von Bert Neumann für die gesamte Spielzeit mit glitzernden Wänden versehen, in dieser Umgebung spielen alle Stücke, die dort rauskommen. Das Publikum sitzt um die Bühne, man ist nah dran am Geschehen und man trinkt Bier – eine lockere Atmosphäre. Sieben Personen – vier Schauspieler, zwei echte Musiker und ein Souffleur – agieren auf der zentralen Spielfläche. Sie drehen dem Publikum abweisend den Rücken zu, sie ziehen ihr Ding für sich durch, schauen dem jeweils Sprechenden auch selbst aufmerksam zu.

Irre, asozial, absolut geil

Die Texte stammen von Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister. Sie sind alle schon vor ein paar Jahre geschrieben worden und schildern im Wesentlichen Feiersituationen, die zeitlos sind, indem sie sowohl Erinnerungen hervorrufen als auch Kommendes beschreiben könnten: "Ich liege auf dieser fremden Frau, im Soul City in München, am Boden, auf der Tanzfläche, und der Rhythmus stampft und schiebt uns ineinander, immer brutaler, und ich merke, wie irr das alles ist, wie asozial, wie absolut geil."

Thomas Schmauser sagt diese Sätze, als ob er am nächsten Morgen spräche, mit vielen Pausen zum Denken und das klingt komisch, so wie überhaupt eine Menge Momente zum Lachen sind an diesem Abend. Peter Brombacher verkündet das Programm einer DJ-Akademie, deren Teilnehmer Gewinner eines Red-Bull-Preisausschreibens sind. "Du traust dir bei jedem Mix ein bisschen mehr zu, als du wirklich kannst. Im Schneesport-Deutsch: du brichst den steilen Hang ganz schön wilder runter, als du wirklich kontrollieren kannst." Drogen sind natürlich ein Thema. Marc Benjamin schimpft über Abstinenzler: "Irgendwelche Drogen nicht zu nehmen, und zwar aus Prinzip, ist das absolut Allerkaputteste." Und Thomas Schmausers großer Auftritt ist der, bei dem er in einer Anmachszene sowohl die Frau als auch den Mann darstellt.

Cooler Dilettantismus

Zwischen diese szenischen Splitter lässt Pucher Videosequenzen einspielen, die er selbst vor Jahren mit dem Tagesschau-Sprecher Jo Brauner und dem Märchenerzähler Hans Paetsch hergestellt hat. Ebenfalls witzig, sich von diesen Herren die Welt erklären zu lassen. Am Wichtigsten aber ist die Musik. Alle spielen mit. Martin Rühle und Ivica Vukelic können richtig Musik machen, den anderen wurde beigebracht, wann sie welche Taste auf dem Keyboard zu drücken haben, damit der Ton zur Musik passt. Diese Mischung aus Dilettantismus und gutem Gespür für den Klang sorgt dafür, dass die Songs von Neil Young, ELO, F.S.K. und Bryan Ferry nicht nur anders klingen als das Original, sondern auch richtig cool, vor allem wenn Lena Lauzemis singt. Dabei entsteht aus etwas Vergangenem etwas jetzt absolut Gültiges und alle können zufrieden sein.

Selbstverständlich ist der Abend nie mehr als eine Nummernrevue, aber genau darin liegt seine Stärke. Jeder Versuch, dem Ganzen eine Richtung zu geben oder es gar dramaturgisch zuzuspitzen, hätte einem das Gefühl gegeben, es werde einem krampfhaft eine Erkenntnis aufgezwängt. So aber sieht man Menschen heiter mit dem ihnen zugeworfenen Material spielen und hat in den schönsten Momenten Lust, selbst ein wenig mitzumachen. Die Abende und Nächte in München sind eben nett, weil kein allzu hoher Erwartungsdruck auf ihnen lastet.

 

Mjunik Disco (UA)
nach Texten von Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister
Regie: Stefan Pucher, Raum: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Musikalische Leitung: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Christian Schweig, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Marc Benjamin, Peter Brombacher, Lena Lauzemis, Martin Rühle, Thomas Schmauser, Christopher Uhe, Ivica Vukelic.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Was Pop-Regisseur Stefan Pucher sonst so auf die Bühne gestemmt hat, lesen Sie im nachtkritik-Lexikon. Mit seiner Inszenierung Tod eines Handlungsreisenden aus Zürich ist er im Mai zum Berliner Theatertreffen 2011 eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Für Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (18.4.2011) ist "Mjunik Disco" eine "sanfte, leicht wehmütige Text-Bild-Musikinstallation". Wie "Alpsegen" imaginiere auch dieser Heimatabend "ein München, das es so nie gab, gegeben haben wird oder geben wird". Von Meinecke stammten dabei "Songzeilen von Eichendorff'scher Wehmut", von Goetz "Schwärmereien haltloser Faszination". Pucher nehme das "spezifische Lebensgefühl, dem Goetz sich hinterhersehnte, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die im gemeinsamen Erleben vermeintlicher Ekstasen zu einem mikrokosmischen Gemeinschaftsgefühl gelangt, als historisch – die Sicht eines bald alternden Dichters. Was Goetz in 'Rave' beschreibt, wird so nie wieder sein. So wild. Nicht nur, weil man die Drogen nicht mehr verträgt." Insgesamt "ein angenehmes Live-Konzert mit Text und Bild", in dem Schmauser und Lauzemis "in Gesang und Attitüde als perfekte Stars brillieren".

"Wie soll man erzählen von der Nacht? Von der Dunkelheit, dem Rausch, den Körpern, der Musik - und dem Kaputten? Brüchig muss sie auf alle Fälle sein, diese Erzählung, mit Lücken", beginnt Elias Kreuzmair seine Kritik in der taz (18.4.2011). Pucher lasse seine Schauspieler "stottern und stammeln, bis sie immer wieder bei dem einen Wort ankommen (...): 'Geil. Geil. Geil. Geil. Geil.'" München spiele hier "nur noch eine untergeordnete Rolle", die Inszenierung wäre auch ohne Verweise auf konkrete Orte ausgekommen. Heraus komme "ein melancholisches 'Ja zur modernen Welt'" als Grundton der Inszenierung – "erst wenn der Rausch vorbei ist, kann man von ihm erzählen". Das Publikum übrigens, merkt Kreuzmair an, möchte "nicht mitfeiern. Es bleibt bei einzelnen Lachern". Pucher wolle es aber auch gar nicht "in das Nachtleben hineinreißen, er präsentiert es ihm als einen Zoo voller seltsamer Geschichten, in denen die Drogen immer noch von den anderen genommen werden und man sich in sicherer Distanz über die Posen und Possen derer lustig machen kann, denen das 'Abenteuer der Nacht' alles bedeutet".

"Witzige Texte und Videos, kombiniert mit guter Livemusik", ist "Mjunik Disco" für die Welt kompakt (18.4.2011). Beeindruckend sei die Musik, den Songs werde eine "eigene Note" verliehen. "Das hört sich gut an – vor allem dann, wenn Lena Lauzemis singt".

Die dargebotenen Texte bezeichnet Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (18.4.2011) als "brutalst authentische Dokumente einer großen Zeit". Pucher habe zwar "keine Ahnung, wie das damals war in München", steige aber trotzdem "zielsicher hinunter in die heroische Phase des Feierns", "als die Körper nur dazu da waren, im Licht der Nacht zu glänzen, (...) als sich Schriftsteller fanden, die das als Gipfel der Empfindung, des Menschseins, beschrieben." Peter Brombacher sei als DJ Hell "in seiner Kunstlosigkeit so cool, wie man sein kann". Und der "supergute" Schmauser "beamt sich in seinem Spiel selbst durch die Zeit, wir sehen und hören seinem Körper zu, wie wenn er die Hülle einer irren Filmreise wäre". Die schauspielernden "Musik-Dilettanten" bekämen mitunter "einen beeindruckenden Sound hin", Lauzemis "steht da wie die Göttin of it all und leuchtet ungerührt in die aufgestellten Kameras wie der reine Strahl der Verführung. Das ist alles sehr angenehm: gelöst, ironisch, leicht."

Dieser Abend ist "aus der Zeit gefallen", befindet Michael Schleicher (Münchner Merkur, 18.4.2011): "Quarzen ist hier noch erlaubt". Puchers Inszenierung bleibe dabei "überraschend abstinent und leblos", was an den Texten liege: "Gerade im Vergleich mit der Musik werden diese ausgehebelt und hoppeln meist zahm hinterher." Immerhin gelängen den Schauspielern "einzelne funkelnde Momente".

Kommentar schreiben