Der Besuch der alten Dame - Frank Abt inszeniert Dürrenmatt
Nur in der Mitte ein Herz
von Sabine Leucht
München, 25. Juni 2009. Oh jeh! Da stehen sie auf der Bühne, meist frontal zum Publikum, und halten sich die Figuren mit aller Macht vom Leib. Die Figuren, das Figurative - und eine ganze Weile lang auch jede Art von Bild. Gut, es gibt ein paar etwas alberne, wenn auch liebevoll ausgeleuchtete Nebenschauplätze, doch selbst der Auftritt der alten Dame - der ganz große Bahnhof, in dem sie verfrüht auf denselben tritt und ganz Güllen und dessen verzweifeltem Vorbereitungseifer vorerst die Luft abschnürt - diesen Auftritt gibt es praktisch nicht. Nur dass eine der Frauen plötzlich die Worte spricht, die Friedrich Dürrenmatt Claire Zachanassian als erste in den Mund legt, nachdem sie im Eilzug die Notbremse zog: "Bin ich in Güllen?"
Die das erwartungsvoll lächelnd sagt, ist Barbara Romaner, von den Turnschuhen bis zum Pferdeschwanz ein Mädchen unserer oder Dürrenmatts Zeit. Es könnte diesen Worten jetzt eine Liebesromanze folgen oder eine tapsige Adoleszenzgeschichte, statt dessen handelt es sich hier um den Beginn jenes bitterkomischen Dramas, das noch heute die meisten Gymnasiasten des Landes zuerst als Deutschlektüre kennen lernen: "Der Besuch der alten Dame".
Und hinterher hoppelt die Moral
Auf Anne Ehrlichs Bühne verschmelzen Innen- und Außenraum zu einem Zwitterwesen aus großblumiger Tapetenwand mit überladenem Regal links, einer Art Waschküche rechts und Unmengen übereinander hängender voller Wäscheleinen hinten. Dies ist ein Ort, der sich selbst aufgegeben hat, die öffentlich gemachte Privatsphäre des wirtschaftlich erledigten Dorfes Güllen, in dem die alte Dame Claire 45 Jahre zuvor als Klara geliebt und brutal verraten wurde.
Nun hofft man auf das Geld der reichsten Frau der Welt. Sie bietet eine Milliarde und stellt eine Bedingung: Erst muss der Kaufmann Ill sterben, dann erbt die Stadt. Die wehrt sich zwar verbal, leistet sich aber schon mal neue Schuhe, Zähne und Autos und schafft damit Zwänge, denen die Handlungen und schließlich auch die Moral nur noch hinterher hoppeln können.
"Eine tragische Komödie" hat der Autor selbst sein Stück genannt, wohl wissend, dass das unaufhaltsame Verhängnis und das schelmische Augenzwinkern gut und mächtig zusammen wirken.
Windeseiliges Zwinkern
Frank Abt, der sich Dürrenmatts Parabel von der Korrumpierbarkeit des Menschen nun im Münchner Volkstheater vorgenommen hat, zwinkert am Anfang so sehr, dass die Konturen dessen, was da eigentlich erzählt werden soll, wackelig und unscharf werden. Fünf junge Leute wechseln in Windeseile von Figur zu Figur, sprechen bald auch über Geschlechtergrenzen hinweg ein oder zwei Sätze von Ill, Claire, dem Lehrer, Bürgermeister oder Pfarrer.
Die Idee ist nett, steht doch hier eine Gemeinschaft auf dem Prüfstand, in der keiner nur Täter oder nur Opfer ist. Im Ergebnis aber zerfasert der gesamte erste Akt zu einem überlangen, spannungslosen Prolog, in dem man ohne Textkenntnisse verloren ist.
Dann aber lässt ein Sprecher die alte Dame sagen: "Ich warte!" Mit einem Schlag krachen alle Wäscheleinen zu Boden und inmitten der nun bis zur Brandmauer offenen Bühne steht ganz verloren ein älterer Mann.
Verzweifelt ohne Strohhalm
Mit dem Erscheinen Alexander Dudas bekommt Ill ein Gesicht und der knapp hundertminütige Abend ein Herz. Obwohl und weil Abt etliche Handlungsstränge gestrafft und Ills Familiengeschichte, Claires viele Männer und den Einfall der Journalisten ins Dorf ganz gekappt hat, steht fortan klar erkennbar ein Verzweifelter im Zentrum, der zunächst Strohhalm um Strohhalm verliert.
Die anderen gehen buchstäblich auf Abstand, werden Ill zum Echo oder verschwinden vorübergehend im Zuschauerraum. Und Duda spielt Ill, spielt mit wenigen Worten - und diesen fast altmodischen Akt der Identifikation hat der Abend bitter nötig, an ihn als Zentrum heften sich Bilder, plötzlich verdichten sich Szenen, trotz erhöhter Lautstärke von konzentrierter Ruhe.
Richtig leben in Capri
Frank Abt, 1976 geboren, hat am Hamburger Thalia Theater in der Reihe "Stadtnotizen" anhand von Interviews die Lebensgeschichten vornehmlich älterer Menschen erforscht. Nun erforscht er Duda/Ill als Liebenden und seinen Versuch, aus einem grottenfalschen doch noch ein richtiges Leben zu machen.
Die Stimmen, die Ill am Fliehen hindern, kommen hier ganz aus ihm selbst. Und anders als bei Dürrenmatt hält Ill auch selbst jene Rede, die nach außen hin Moral und Gerechtigkeit hochhält, in ihrem Kern aber (s)ein Todesurteil ist. Man könnte das als Selbstopfer lesen, fielen nicht am Ende andere um, während Ill und die neu hinzugekommene Claire Ilona Grandkes zusammen in der Tiefe der Bühne verschwinden. "Nach Capri".
Von dem, was danach noch kommt, muss man eigentlich nur wissen, dass es zumindest musikalisch um die Endlichkeit der Liebe geht - die Claire und Ill auf ihre Weise überwinden konnten.
Der Besuch der alten Dame
Eine tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Annelies Vanlaere.
Mit: Alexander Duda, Ilona Grandke, Katharina Haindl, Jörg Kleemann, Justin Mühlenhardt, Barbara Romaner, Robin Sondermann.
www.muenchner-volkstheater.de
Frank Abt, bis 2006 Regieassistent in Ulrich Khuons Ensemble am Hamburger Thalia Theater, arbeitet inzwischen als viel beschäftigter und ebenso ruheloser Regisseur: Wir besprachen Abt-Inszenierungen im April 2008: Ewald Palmetshofers wohnen. unter glas am Münchner Volkstheater; im Mai 2008: Die innere Sicherheit nach Christian Petzoldts Film in Hamburg; und im Dezember 2008: Connecting people , ein NOKIA-Projekt in Bochum.
Kritikenrundschau
Schlecht kommt Frank Abts Versuch, Dürrenmatts Klassiker zu aktualisieren bei Michael Schleicher im Oberbayerischen Volksblatt (27.6.) weg. Zwar hätte der Abend aus seiner Sicht durchaus gelingen können. "Schließlich hat Abt eine wunderbar verknappte, vom moralischen Impetus befreite, intelligent zusammengestrichene Fassung dieses Stücks erstellt, das zwar durch seine massive Verwendung als gymnasiale Schullektüre mausetot ist, heute aber zugleich aktueller denn je, erzählt es doch von der wahrhaft mörderischen Macht des Kapitals. Allein die Schauspieler selbst schienen mit den raschen Rollenwechseln, Spiegelungen und Dopplungen gar sehr überfordert und retteten sich in wildes, hilfloses Chargieren." Weshalb der Abend besonders im "völlig zerfaserten ersten Teil" nicht über Schultheaterniveau hinaus komme.
"Unklare Botschaften durch überdeutliche Bebilderung" macht die Münchner Abendzeitung (27.6.) für das Scheitern dieses Abends verantwortlich, der sich ausd ihrer Sicht ein wenig zu verzweifelten Versuch an die aktuelle Abiturientengeneration ranzuschmeißen versucht. "Die präpotente Herumtheaterei wird erst nach einer Doppelstunde auf den Pausenhof geschickt, wenn Ilona Grandke und Alexander Duda endlich die Rollen der rachlüsternen alte Dame und des schuldbeladenen Kleinstädters übernehmen, um mit schlichter schauspielerischer Handwerklichkeit bescheidenen Glanz zu zaubern."
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Die Aufführung schien auf eine Steigerung hin angelegt; mit den aufgehängten Fetzen, die Güllen den Blick auf sich selbst verhängten, fiel auch das eher präfigurative Vorspiel (das einige Kritiker als zäh und zu beliebig tändelnd empfanden). Der dämliche verblendete Ill wurde zu einem, mit dem man litt - aber nicht nur deshalb, weil er der ältere Schauspieler war. Ohne die Vorarbeit der jungen Schauspieler, ohne den Hintergrund des Verrats der Güllener, den sie in der Art eines antiken Chores spielten, hätte Alexander Duda nicht wirken können. Und der Charakter der Hauptdarstellerin war eher in den kurzen Adaptionen der Jungen zu finden als in dem statuarischen Auftreten der Ilona Grandke. Wie hätte man sonst die junge Wildkatze, die unbedingt Liebende erkennen können? Da ist der Trick, die Intensität der ehemaligen Liebe im zitierenden Song oder in den Jungen anzudeuten, doch nicht abwegig.
Kurzum: ich habe den Eindruck, der Autor hätte, bei aller Vorliebe für die Giehse, auch bei einer solchen Annäherung an seinen Stoff sein Vergnügen gehabt.
manches davon hätte vielleicht schärfer werden können, vieles aber und vor allem die anlage ist bestechend. für mich wäre also eher die frage, wo der dramaturg war, der noch ein, zwei richtige fragen gestellt hätte.
Was erwartet jemand, der älter ist als die „alte Dame“ Claire Zachanassian, wenn er sich das wohlbekannte Stück wieder ansieht? Sicher nicht die Neuauflage der Bilder, die er im Kopf hat. Wenn er dann zunächst etwas ganz anderes sieht als das Gewohnte, wenn er junge Leute sieht, die in verschiedene Rollen schlüpfen und die Rollen wechseln auch über Geschlechtergrenzen hinweg, muss er da Beliebigkeit vor sich sehen oder Spannung vermissen? Mir ist etwas ganz anderes passiert. Claire, die große Rächerin kannte ich schon. In Frank Abts Aufführung im Münchener Volkstheater bekam ich aber ein Gefühl für die junge Kläri Wäscher, ihre Liebes- und Lebenslust und für den Liebesverrat, der ihr Leben aus der Bahn warf – eine alltägliche Geschichte. So unmotiviert sind die Songs doch nicht. Wie fühlbar absurd wurden da die Erwartungen an die alt gewordene Heimkehrerin, deren Verletzungen von allen einfach so ausgeblendet wurden.
Als die Wäscheleine reißt, gilt die Betroffenheit plötzlich Ill, der, in die Enge getrieben, durchschaut, was gespielt wird, und der , abweichend von Dürrenmatts Text, die Größe hat, sich selbst zu verurteilen, während die anderen Güllener ihren Verrat nie erkennen und ihn, in Steigerung der früheren Herzlosigkeit, auf den eben noch so geachteten Mitbürger ausdehnen. Es wird da schon verständlich, dass am Ende sie einem kollektiven „Herzschlag“ erliegen.
Alexander Duda spielt diesen Ill sehr eindrücklich. Mich erstaunt aber doch, dass die Leistungen der jüngeren Darsteller, die man nicht zu gering schätzen sollte, in den professionellen Kritiken, die ich zu Gesicht bekam, so gar nicht wahrgenommen wurden.