Der ganz normale Warnsinn

12. Juni 2023. Nele Stuhler und Jan Koslowski haben das vielgespielte Lustspiel von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs überschrieben, die vermeintliche Irrenanstalt "Pension Schöller" ist nunmehr ein Resilienz-Retreat mit gestressten Gegenwarts-Bewohner:innen kurz vorm Burn- oder Bore-Out.

Von Martin Thomas Pesl

12. Juni 2023. Was verrückt und was normal ist, lässt sich längst nicht mehr auseinanderhalten, wahrscheinlich ist beides Illusion. Das galt schon 1890, als die Autoren Wilhelm Jacoby und Carl Laufs ihren Protagonisten in eine vermeintliche Irrenanstalt schickten, die eigentlich nur die ganz "normale" "Pension Schöller" war. Oft ist das Lustspiel seither aufgeführt worden, hat den Ruhm von Komödianten wie Maxi Böhm und Willy Millowitsch begründet. Aber auch durch den Diskursboulevardwolf hat man es schon gedreht, etwa im freien Wiener Theater Bronski & Grünberg. 

Überforderte Gegenwarts-Bewohner:innen im Resilienz-Retreat

Bei den nördlichen Nachbarn sind für derlei Nele Stuhler und Jan Koslowski zuständig. Ihre heutig durchgeschüttelte Überschreibung "Pension SchöllerInn!" bringen die beiden selbst auf die Bühne 1 des Münchner Volkstheaters. Dabei steht alles nochmal auf dem Kopf: "Geisteskrank" sagt man nicht mehr, und der Onkel (Anne Stein) möchte so gern mal ein paar normale, gesunde Leute treffen.

So verkaufen ihm "die kleine Snowflake" Alfred (Anton Nürnberg) und dessen geschäftstüchtige Freundin Friederiken (Steffen Link) den Major Gröber (Jan Meeno Jürgens), den Weltreisenden Bernhardy (Liv Stapelfeldt) und die Schriftstellerin Josephine (Lorenz Hochhuth) statt als Anstaltsinsassen als Gäste eines erfolgreichen Resilienz-Retreats, das nur auf dem Papier existiert, um dem Onkel sein Investment aus der Tasche zu ziehen. In Wahrheit ist es eine Pension voller überspannter Charaktere, betrieben von Friederiken, ihrem Onkel Frau Schöllerinn (Brigitte Cuvelier) und dem Sohn Eugen (Luise Deborah Daberkow) – das ist der mit dem Sprachfehler, sein "L" klingt wie "N" ("Das Neben ist ein einziger Neben!").

Achtung, Emotionen!

In Zeiten wie diesen steht am Beginn natürlich eine ironische Triggerwarnung: Es werde sehr emotional hergehen, man fliehe lieber gleich als später. Aber auch Affirmation: Dass man es aber überhaupt hergeschafft habe, dafür dürfe man stolz auf sich sein. Aufgesagt wird das im Chor vor noch geschlossenem Vorhang vom gesamten Ensemble – Gelegenheit, sich Marilena Bülds exzentrisch-eklektisches Kostümbild gleich mal genau anzusehen. Von der Fliegerhaube über das rosa Kleid mit Muskelripp bis zur Turmfrisur ist alles dabei. Mehrmals finden sich das Herz-Symbol und die Spirale aus dem Mir-ist-schwindlig-Emoji in dem Mix wieder. Sie werden später auch die Drehtüren im Stadthaus des reichen Onkels zieren. Emotionen, jaja, wir wurden gewarnt.

Pension Schoellerinn 3 Amelie Kahn Ackermann uSteffen Link, Brigitte Cuvelier, Anton Nürnberg, Jan Meeno Jürgens, Lorenz Hochhuth © Amelie Kahn-Ackermann

Die Visite läuft jedenfalls total gut. Der Onkel erhält von Gröber, einem Workaholic im Bore-out, eine Akupunkturbehandlung und gute Ratschläge für eine Morgenroutine gegen Depression, wird vom Detox-süchtigen Bernhardy in dessen Kombucha-Kur eingeführt und lässt sich von Josephine, traumatisiert von ihrer eigenen unbeschwerten Kindheit, zu einer besseren Biografie raten. Sauna muss auch sein. Alles gesund und normal, aber so viel Gesundheit und Normalität geht halt ziemlich an die Substanz. Als ihn die Pensionist:innen auch noch besuchen, wird es dem Onkel zu viel. Er bleibt jetzt lieber krank und verrückt, die anderen tun es ihm nach.

Zwei Bühnenbildnerinnen

Ein befreiend anarchischer Zeitgeist-Knaller also? Konzeptuell: ja. In der Umsetzung aber stehen sich Stuhler, Koslowski und ihr Ensemble vielfach selbst im Weg. So hochtourig, so crazy lustig muss alles von Anfang an sein, dass es hauptsächlich angestrengt wirkt – und anstrengend. Lacher kommen bei der Premiere hauptsächlich vom Fanclub in den hinteren Reihen, es ist der seltene Fall eines Stücktextes, dessen Pointen beim Lesen besser zünden als beim Hören.

Daran ist auch der Raum schuld – gleich zwei Bühnenbildnerinnen waren am Werk, Sina Manthey und Marlene Lockemann. Die Pension befindet sich auf einem erhöhten Oval, das man nur dank einer Live-Kamera gut einsieht. Deren Bilder, projiziert auf zwei vertikale Leinwände, sind vereinzelt witzig, etwa wenn besonders alberne Wörter aus dem Text darübergelegt werden ("Büdde! Büdde! Büdde!"), häufiger aber eine notwendige und nicht sonderlich elegante Lösung. 

Pension Schoellerinn 4 Amelie Kahn Ackermann uZwei Bühnenbildner:innen (Sina Manthey und Marlene Lockemann) haben das Setting gestaltet. © Amelie Kahn-Ackermann

Dass Souffleuse Christina Geiersberg den Spieler:innen überallhin folgt, sogar in die Tanzchoreo, mag eine Hommage an die Berliner Volksbühne sein, wo Stuhler und Koslowski sich im Jugendclub P14 kennenlernten. Nur können anders als bei Pollesch die fleißigen Ensemblemitglieder des Münchner Volkstheaters ihren Text. So "burnt" dieser Witz wie viele andere "out", während das Thema, unsere sich selbst pathologisierende Snowflake-Gesellschaft, bis zum Bore-out zerredet wird. Hätte man uns davor bloß mal gewarnt.

Pension SchöllerInn!
Posse in drei Aufzügen von Nele Stuhler und Jan Koslowski frei nach Carl Laufs und Wilhelm Jacoby
Uraufführung
Regie: Nele Stuhler, Jan Koslowski, Bühne: Sina Manthey, Marlene Lockemann, Kostüme: Marilena Büld, Musikalische Arrangements: Steffen Link, Vincent Sauer, Anne Stein, Markus Hein, Live-Video: Sebastian Bolenius/Oliver Portmann, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Bastian Boß.
Mit: Brigitte Cuvelier, Luise Deborah Daberkow, Christina Geiersberg, Lorenz Hochhuth, Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Anton Nürnberg, Liv Stapelfeldt, Anne Stein.
Premiere am 11. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Anne Stein sei "ein leuchtender Stern am Volkstheaterhimmel, so auch an diesem Abend, der letzten Premiere in dieser Saison", findet Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (13.6.2023). In der Inszenierung folge eine Anspielung, ein Zitat auf das andere. "Manche erkennt man, manche erahnt man, manche spürt man nur. Aber klar ist, die Folie ist der Mainstream, die Blockbuster von 'Titanic' bis Tina Turner." Das sei alles beeindruckend, findet die Kritikerin, aber nicht berührend. Es gebe keine Fallhöhe. "Die Inszenierung bleibt trotz dem gekonnten Einsatz der Mittel eine Betrachtung ohne Dringlichkeit". Sie "verglimme".

Es sei "kaum zu fassen, was junge, kreative Theaterleute aus einer angestaubten Klamotte machen können, wie sie einer Posse aus dem 19. Jahrhundert Leben einhauchen, mehr noch, sie zeitlos und dennoch aktuell auf die Bühne stemmen!", jubelt Barbara Reitter im Donaukurier (13.6.2023). Genau das sei dem Regie-Duo Nele Stuhler und Jan Koslowski aufs Überraschendste gelungen. Der Abend gestaltet sich für die Autorin "als ein pausenloser Spaß, hinter dessen vordergründigem Nonsens der Tiefgang versiert versteckt ist". Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus werde dem Publikum "humorvoll untergejubelt". Die Themen kommen, so Reitter, "federleicht daher im Gewand einer komödiantischen Farce". Die Kostüme seien absolute Hingucker, der Klamauk ist für die Kritikerin perfekt inszeniert. "Die Schauspieler bestechen durch hochtouriges Sprechtempo, agieren auf dem praktikablen Bühnen-Rundling mit köstlich übertriebener Körpersprache und perfektem Slapstick, so dass Spannung und Unterhaltungswert 130 Minuten lang erhalten bleiben", so die Rezensentin.

Anne Stein als Onkel unter barocker Turmfrisur sei die einzige, die zuweilen die Kontrolle hat über die von Marilena Büld zitierfreudig bunt eingekleidete Meute, findet Mathias Hejny in der Abendzeitung (13.6.2023). Was aktuelle Satire sein könnte, schrumpfe trotz des aufwändig in Bewegung gehaltenen Bühnenbilds von Marlene Lockermann und Sina Manthey zu strukturfreier und orientierungsloser, "dafür aber lärmiger Kunstbemühung im Hysteriemodus", urteilt der Rezensent. "Noch komischer als die verdauungsfördernde Wirkung von Kombucha-Genuss am Strand als 'Dünen-Schiss' zu beschreiben, wird der Abend nicht."

Textlich huldigen Stuhler und Koslowski einem Mehr ist Mehr, so Sabine Leucht in der taz (14.6.2023). "Schräg, laut und grell rules", zu steigern gebe es nichts mehr, "und Fallhöhe ist auch nicht". Das seien gleich zwei Probleme eines Abends, "der nach einer witzigen chorischen Intro, die das Theater mit dem Sanatorium verschränkend vor großen Emotionen warnt und die alles mit allem kombinierenden Kostüme von Marilena Büld zur Bewunderung freigibt, nicht mehr zur Ruhe kommt."

 

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