Im Trommelfeuer der Reime

15. Oktober 2023. Es nebelt, es blitzt, es tönt, es leuchtet, und eine gigantische Drum-Machine feuert kleine Perkussionsfanfaren in den Saal: Sebastian Baumgarten spendiert dem 'nordischen Faust' à la Henrik Ibsen ein gigantisches Bühnenspektakel. Aber wie hält er's mit der Zwiebel Kern? 

Von Janis El-Bira

"Peer Gynt" in der Regie von Sebastian Baumgarten am Residenztheater München © Sandra Then

15. Oktober 2023. Manchmal braucht es gar keine krassen Regieeinfälle, um einem Klassiker zu neuer Kenntlichkeit zu verhelfen. Der am Theater vergleichsweise nicht sehr häufig gespielten "Peer Gynt"-Übersetzung von Angelika Gundlach nämlich würde das selbst bei einer szenischen Lesung gelingen, so eigen ist ihr Sound. Gundlach hat Henrik Ibsens "dramatisches Gedicht" nicht beim Drama, sondern beim Gedicht genommen und es im Deutschen in ein unnachgiebiges Trommelfeuer aus Paar- und Kreuzreimen übertragen. Die Sprache ist derb und modern, doch metrisch streng wie beim Hip-Hop oder in der Tragödie wogen die Beleidigungen und Schimpftiraden auf und ab. Norwegischkundige bescheinigten schon zum Erscheinen dieser Übersetzung 2006, sie komme dem Original ziemlich nahe.

Im Nullkostüm

Wie zum Beweis dieser Güte hat Sebastian Baumgarten seine Münchner "Peer Gynt"-Neuinszenierung auf Basis der Gundlach-Übersetzung nun tatsächlich mit einer Art szenischer Lesung oder Leseprobe anfangen lassen. Von links nach rechts aufgereiht steht sein Ensemble am Bühnenrand und liest: Peer Gynt, erster Akt, erste Szene, ganz trocken, in Jeans und Hemd. Später werden immer mal wieder Spieler:innen im "Nullkostüm" der Anfangsszene zwischen das natürlich doch längst um krasse Regieeinfälle erweiterte Treiben treten. Ganz so, als müssten sie selbst staunen angesichts einer schnurrenden Theaterfabrik, die Mensch und Maschine in den Fluss der Reime eintaktet.

PeerGynt 2 SandraThen uPeer, der erste (Max Rothbart) im Dialog mit Mutter Aase (Carolin Conrad) © Sandra Then

Baumgarten hat zusammen mit Bühnenbildnerin Lena Newton, Musiker Marc Sinan und Sound-Designer Ilija Đorđević diesen "Peer Gynt" in eine Art audiovisuelle Partitur übertragen. Passenderweise ist da auch gleich das zentrale Bühnenelement ein Rhythmusinstrument: Eine gigantische Drum-Machine aus allerhand Trommeln, Becken und Gongs thront da meterhoch. Ab und an – angesichts des schönen Spektakels eigentlich: zu selten – wird sie elektronisch angespielt und feuert sodann eine kleine Perkussionsfanfare in den Saal. Lichteffekte gibt’s noch obendrauf. Hat man auch nicht jeden Tag, sowas.

Schiffbruch im Orchestergraben

Überhaupt sieht das alles umwerfend gut und umwerfend teuer aus. Raumgreifende Projektionen, ein in den Himmel ragendes Holzgestell als Andeutung des Gynt'schen Hofs, ein Schiffbruch im Orchestergraben, ein Häuschen hier, ein anderes dort, oft fährt etwas von unten nach oben oder von oben nach unten, es nebelt, es trommelt, es blitzt und leuchtet. Eine aggressiv bestückte Zauberkiste, neben der es schon Menschenwesen der selbstbewussteren Sorte braucht, damit letztere nicht einfach verschluckt werden. Der Abend hat sie, ein Glück!, in Max Rothbart oder Florian von Manteuffel, die sich den Peer halbzeitweise aufteilen. Mal vom Typ "Ich habe vor 25 Jahren eine heute zu Unrecht vergessene Band gegründet" (Rothbart, erste Hälfte), mal als Herrenmensch, der sich beim Geschäftemachen in der Ferne den nackten Wanst reibt (von Manteuffel, zweite Hälfte). Oder in Vassilissa Reznikoff, deren Solvejg eben noch tönt und juchzt und dann gleich wieder hinabsteigt ins warme Timbre einer besonders duldsamen Seele. In Lea Ruckpauls Fellini-eske Todestänze aufführendem Knopfgießer oder Carolin Conrads gar nicht bemutternder, sondern schäumender Aase. Sie, wie alle, auch noch doppelt und dreifach besetzt, die Reimfluten abratternd im Einheitstempo der Inszenierung: Ein Luxus.

PeerGynt 6 SandraThen uFlorian von Manteuffel als Peer Nummer zwei, der Geschäftemacher © Sandra Then

Aber es soll ja auch um was gehen in "Peer Gynt". Als einen Kolonialisten und Kapitalisten will Baumgarten den reisenden Träumer verstanden wissen. Einen Unveränderlichen, der sich die Welt zu eigen macht, und bei dem Libido und Ichinteresse in eins fallen, wie Sigmund Freud in seiner zu Beginn des Abends zitierten "Einführung des Narzissmus" behauptet. In der Rolle des Irrenhausdirektors erklärt Lukas Rüppel in regelmäßigen Videoeinspielern die Psychopathologien des "P.G.". Eine Deutlichkeit, an der Baumgartens Inszenierung ansonsten lieber spart. Die gesuchte Nähe zu den Kolonialismus- und Industrialisierungsprojekten des 19. Jahrhunderts bleibt jedenfalls ziemlich abstrakt hinter der enormen kunsthandwerklichen Anstrengung. Unangenehm wird’s eigentlich nie.

Ungebremster Bühnenzauber

Die Brecht’sche (und Sebastian Baumgarten wahrscheinlich nahestehende) Deutung dieser Schere zwischen Aufwand und Vermitteltem wäre, dass es das Theater selbst ist, das im Maschinentakt und der Unsichtbarkeit seiner Illusionsarbeiter:innen hinter der Bühne zur Chiffre für die Ausbeutungsverhältnisse des Industriezeitalters wird – und damit quasi zum Bock, auf dem Peer über den Grat seiner Allmachtsfantasien reitet. So ließe sich Baumgartens "Peer Gynt" fast konzeptuell lesen. Tut man ihm diesen Gefallen nicht, trennt seinen ungebremsten Bühnenzauber vom vorgezogenen Weihnachtsmärchen bloß ein unerlöstes Ende.

Peer Gynt
von Henrik Ibsen, aus dem Norwegischen von Angelika Gundlach
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Lena Newton, Kostüme: Eleonore Carrière, Komposition und musikalische Leitung: Marc Sinan, Licht: Gerrit Jurda, Video: Philipp Haupt, Dramaturgie: Constanze Kargl, Sound Design and Sonic Interaction: Ilija Đorđević.
Mit: Carolin Conrad, Max Rothbart, Florian von Manteuffel, Lea Ruckpaul, Simon Zagermann, Vassilissa Reznikoff, Vincent Glander, Isabell Antonia Höckel, Lukas Rüppel, Marc Sinan, Hans Könnecke.
Premiere am 14. Oktober 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.residenztheater.de

Kritikenrundschau 

Regisseur Sebastian Baumgarten habe versucht, "Peer Gynt" einen Bezug zur heutigen Verfasstheit der Gesellschaft abzuringen – aber überwiegend baue er an einer "üppigen Fantasiewelt", meint Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (15.10.2023). "Auf der Bühne entstehen schöne, spektakelhafte Bilder, die aber wie in einer hübsch glitzernden Schneekugel ganz bei sich bleiben", so die Kritikerin. "Es ist ein bisschen so, als rollte man mit einer sehr exklusiven Märchenbahn von Szene zu Szene, da sieht man dann immer wieder diesen Peer, dessen Ideen zunehmend größenwahnsinnig werden", erläutert Poppek ihren Eindruck. Peer Gynt wachse hier mit jeder neuen Idee zum Paradebeispiel für eine Gesellschaft voller Egoismus heran. "Aber erklärt das irgendetwas? Ist da nicht ein bisschen viel Flitter um diese Botschaft?", fragt sich die Kritikerin in ihrem Text rhetorisch.

"Die kleinen Ausflüge in die Psychoanalyse sind die seltenen Momente von Klarheit und Übersicht in der Zubereitung des "Peer Gynt" von Sebastian Baumgarten im Residenztheater", schreibt Kritiker Mathias Hejny in der Abendzeitung (online 15.10.2023). Zunächst sehe alles so aus, "als werde üppig die Wundertüte des Theaters für eine großartige sinnliche Erfahrung ausgeschüttet." Bühnenbildnerin Lena Newton habe einen "grandiosen Raum von interessanter Farbigkeit gebaut", so der Kritiker. Es komme zwar immer wieder zu "grandiosen Momenten", auch die "Kapitalismuskritik" dieser Inszenierung sei zu loben, doch: "(...) all diese Kunstanstrengungen und all das schwerfällige Herumbrüllen von Dichtung mit eingängiger Metrik funktionieren wie die Zwiebel, die Peer zunehmend verzweifelt schält, um ihren Kern zu finden – er findet ihn nicht, und da hilft auch nicht, wenn Peer murmelt, das Gemüse ihm Bioladen gekauft zu haben", resümiert der Rezensent.

Von einer "von trockenem Witz durchzogenen, Konfetti-sprühenden, schnellen, kurzweiligen Inszenierung", berichtet Katja Kraft im Münchner Merkur (16.10.2023). "Baumgarten kann auf ein Ensemble vertrauen, das die Worte funkeln lässt", schreibt die Kritikerin. "Aufs Schönste spielt Baumgarten mit der ungebrochenen Anziehungskraft alter Theaterzaubertricks."

"Manche Szene erinnert ästhetisch an die surrealistischen Gemälde eines Dali oder Magritte", zeigt sich Barbara Reitter im Donaukurier (16.10.2023) beeindruckt. "Im ersten entdeckt Baumgarten die Komödie mit Grand Guignol Effekten – ungetrübter Unterhaltungswert! Im zweiten rechnet er wie nebenbei satirisch mit dem Weltbeglücker-Wahn des Kolonialismus ab. Doch zum überbordend sinnlichen Spiel der Aufführung vor der Pause des insgesamt dreistündigen Abends fand der Regisseur eine intellektuell absolut schlüssige Klammer, die bis zum Ende das Spiel strukturierte: die psychoanalytische Interpretation der Persönlichkeitsstruktur des Anti-Helden Peer."

Drei Stunden "Überwältigung fordern ihren Tribut: sparsamer Applaus", vermeldet Hannes Hintermeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.10.2023). "Die Bühne gerahmt von Videoleinwänden mit flackernden Ornamenten und historischem Filmmaterial: Sebastian Baumgarten zieht technisch alle Register, die ihm die Staatstheatermaschine für Bühnenzauber bieten kann. Gegen diese Maschinerie muss das Ensemble erst einmal bestehen. Eine permanente Anstrengung, die forcierte Auftritte und deklamatorisches Sprechen befördert. Hoher Erregungsgrad, wenig Zwischentöne."

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