I remember, you remember

23. Oktober 2023. Gemeinsame Perspektiven entwickeln, ohne die Unterschiede zu leugnen: Im Sonderprogramm "When Memories Meet" sucht das Münchner Spielart Festival angesichts der angespannten geopolitischen Lage im asia-pazifischen Raum nach den Verbindungen zwischen Ost und West.

Von Sabine Leucht

Manbo Keys "Father's Videotapes" über die lang verheimlichte Homosexualität seines Vaters: Eine der Arbeiten beim Sonderformat "When Memories Meet" zum Auftakt des Spielart Festivals © Manbo Key

23. Oktober 2023. Bereits zum 15. Mal weitet die Münchner Biennale Spielart nun schon den Blick auf die Welt und den Theaterbegriff in alle denkbaren Richtungen. Besonders gerne hält das Festival seit einigen Jahren den Scheinwerfer auf die Regionen im Süden und Osten der Erde, die Europa eher über die Polit-Nachrichten zur Kenntnis nimmt. Und wenn das nicht in blanken Exotismus oder eine reine weltgeschichtliche Nachhilfestunde münden soll, braucht es beeindruckende Theatererlebnisse plus etwas Aufklärung über den historisch-politischen Background im jeweiligen Land. Das Sonderformat "When Memories Meet", eines von mehreren der diesjährigen Festivalausgabe, hat Festivalleiterin Sophie Becker denn auch gemeinsam mit der Dramaturgin und Übersetzerin Betty Yi-Chun Chen kuratiert, die im Schnittpunkt von Taiwan/Asien und Deutschland/Europa arbeitet und lebt.

Die Reihe von Performances, Installationen, Gesprächen und Filmen fahndet nach den Überscheidungen und Wechselwirkungen und will, ganz gegen den Trend, mal nicht das Trennende betonen, sondern Ereignisse mit großen Schatten aus unterschiedlichen Perspektiven umkreisen oder konkrete Erlebnisse von Menschen ins Zentrum rücken. Ein Versprechen auf etwas Orientierung im Dschungel von rund 40 Produktionen des nicht institutionalisierten Theaters der Welt ist das nebenbei auch.

Gleichgeschlechtliche Ehen in Taiwan

Im Vorfeld zitierte Betty Yi-Chun Chen den Soziologen Stuart Hall: "So zu tun, als würden wir Unterschiede nicht sehen, hieße Machtverhältnisse zu verleugnen. Aber wenn man sie immer nur betont, bleibt man in Stereotypen stecken." Also weg mit der Binarität und her mit der Kontextualisierung! Die ist besonders unerlässlich, wenn Codes unbekannt sind und künstlerische Erwägungen oder die Zensur in den betreffenden Ländern verhindern, dass auf der Bühne Klartext gesprochen wird.

Manchmal, zeigt die Erfahrung der ersten drei Festivaltage, ist aber schon die Erzählweise selbst befremdlich oder – positiv formuliert – herausfordernd: So setzt sich der queere Künstler Manbo Key in "Father's Videotapes" mit der lange verheimlichten schwulen Seite seines Vaters auseinander. Der hat ihm die Tapes offenbar kommentarlos gegeben, auf denen er den eigenen Körper und den anderer Männer erkundet. Zuhause, in Clubs, auf Reisen.

Mit vielen privaten Dokumenten: "Father's Videotapes" © Manbo Key

Ausschnitte davon findet man in Keys Installation neben privaten Fotos in einer Vitrine oder eingefügt in das filmische Gespräch, in dem er seinen gebrechlichen Vater fragt, ob er wisse, dass Taiwan seit 2017 (als erstes Land in Asien) gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt. Der kann es nicht glauben. Immer wieder nicht. Oder will nur nichts aus ihm heraus? Wie die Mutter, die eine Art Sexclub führt, offenbar nichts von der Vergangenheit des Mannes weiß, mit dem sie ein Kind hat. Es dann aber auch okay findet. Hat dieses Dokument der Sprachlosigkeit nun individuelle, Alters- oder kulturelle Gründe? Verweist es auf Liberalität oder Gleichgültigkeit? Und was davon hätte man verstanden, wenn der Künstler nicht selbst zugegen gewesen wäre?

Soldaten als Puppenspieler

Einen langen Atem erfordert der Film "Ruins of the Intelligence Bureau", in dem Hsu Chia-Wei aus Taipeh klassische thailändische Puppenspieler filmt, die die Legende vom Affengott Hanuman und seiner Fähigkeit, Berge zu bewegen, erzählen. Erst nach und nach wird klar, dass Puppenspieler wie Erzähler Generäle und Soldaten der ehemaligen Nationalpartei Chinas sind, die als CIA-Informanten im Bürgerkrieg nach Taiwan flohen und seither in einem Dorf festsitzen, das inzwischen zu Thailand gehört.

Szene aus "Ruins of the Intelligence Bureau" © Chia-Wei Hsu / Le Fresnoy - studio national

Geografische Grenzen wie die zwischen Gut und Böse verschwimmen in derlei Geschichten, die einen auf die komplexen Verhältnisse in der Region stoßen, die es sich zu kennen lohnt, ehe mit Taiwan dasselbe passiert wie mit der Ukraine. Und man dann ebenso "überrascht" ist. Der Ende der achtziger Jahre begonnene Demokratisierungsprozess auf der Insel ist ein rotes Tuch für Festland-China. Dass Besuche wie der von Nancy Pelosi prompt imposante Militärübungen auslösen können, ist nur ein Beispiel dafür, dass Kalter Kriegs-Szenarien kein Land der Welt mehr ausschließen.

Wie gespalten die Menschen in Taiwan selbst sind, davon gibt Stefan Kaegis Preview einen Eindruck. Für die neue Produktion von Rimini Protokoll "This is not yet an Embassy", die im Januar in Berlin zur Premiere kommt, hat er unter anderem einen glühenden Anhänger der alten Verhältnisse, die Erbin eines Bubble Tea-Imperiums und eine Verfechterin der "Diplomacy without Borders" gecastet. So richtig klar ist allerdings nicht geworden, wie sie die Als-Ob-(Beinahe)-Botschaft dann bespielen, die Taiwan nicht unterhalten darf. Überhaupt fühlt man sich bis dahin noch ein wenig wie im Nachhilfekurs auf ein Bildungsdefizit nach dem anderen gestoßen und der Hunger nach sinnlichen Erlebnissen wächst.

Ping Pong-Diplomatie mit zwei Klavieren

Ming Wong liefert sie, braucht aber auch ein wenig Anlauf. Der in Berlin lebende Künstler kommt aus Singapur und hat in "Rhapsody in Yellow – A Lecture Performance with Two Pianos" für die langwierigen Spannungen und punktuellen Annäherungsbewegungen zwischen China und den USA eine ungewöhnliche Form gefunden. Die sogenannte Ping Pong-Diplomatie ist nach einem Tischtennis-Freundschaftsturnier 1971 in Peking benannt, das eine zwanzig Jahre währende diplomatischen Eiszeit beendete. In der Lecture Performance wird viel berichtet, Filme von sich beglückwünschenden Sportsleuten, den Peking-Besuchen von Henry Kissinger 1971 und Richard Nixon im Jahr darauf, Ausschnitte von Spielfilmen, Musicals und Konzerten werden wild miteinander verschnitten, bis das Ganze auf der Metaebene der Musik zum Höhepunkt kommt: Zwei Klaviere, gespielt von den begnadeten Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin, liefern sich ein musikalisches Pingpong – eine Art Duell, das zugleich Kooperation erfordert.

Duell an zwei Klavieren oder Kooperation? Ming Wongs "Rhapsody in Yellow" © Monika Karczmarczyk

Sie verbinden zwei Werke der nationalen Großmannssucht, die ihrerseits das Ergebnis unterschiedlichster kultureller Einflüsse sind, zu einem fulminanten Live-Konzert. Das endet in einem wahnwitzigen Crescendo, in dem man sie kaum noch unterscheiden kann – George Gershwins "Rhapsody in Blue" und das von einem Komitee während der Kulturrevolution arrangierte "Yellow River Concerto".

Die Differenzierungsarbeit bleibt im Programm "When Memories Meet" überwiegend eine der leisen Töne und kleinen Formate. Vier fünfminütige Filme und Audios von vietnamesischen Gastarbeitern in Deutschland und Taiwan zeigt Fang Yun Los "Home Away From Home – Munich". Beim Lauschen oder Mitlesen der Übersetzung sitzt man in dieser liebevoll detailreichen Installation in ähnlichen Szenerien wie die Protagonisten, zum Beispiel auf der unteren Etage eines Bettes in der engen Unterkunft, in der ein Mann nach sieben Jahren Taiwan auf die Heimreise wartet, die sich wegen der Pandemie verzögert. Oder in der Nachbildung des Restaurants, in der eine Frau von einer Heiratsmaklerin ihrem späteren Ehemann vorgeführt wird.

Nachbildung eines Restaurants für einen von Fang Yun Los Filmen aus der Serie "Home Away From Home – Munich" © Polymer DMT / Fang Yun Lo

Migrationsbewegungen, Vorurteile, Angst, Sehnsüchte und Hoffnungen verbinden Menschen. Und auch die Geschichte, die Mark Teh in "The Notional History" aufarbeitet, lässt sich nicht mit einem schulterzuckenden Verweis auf "Zensur" abtun. Es ist eine augenöffnende und beeindruckende performative Forschungsarbeit, die Teh gemeinsam mit dem Performer Faiq Syazwan Kuhiri, dem Historiker und Aktivisten Fahmi Reza und der Journalistin Rahmah Pauzi auf die Bühne bringt. Das Thema: Die Darstellung des malaysischen Unabhängigkeitskampfs in den Schulbüchern, in die sich die 61 Jahre lang regierende nationalkonservative Partei OMNO eingeschrieben hat. Verhandlungen mit den Briten, kein Blutvergießen, steht darin – und ganze zehn Seiten spiegeln die eigene Glorie.

Malaysias Unabhängigkeitskampf in den Schulbüchern

Die Kommunisten, so geht die Mär, haben sich im Dschungel versteckt und bis heute nicht mitbekommen, dass Malaysia seit 1957 unabhängig ist. Reza hat Interviews mit den kämpferischen, nachdenklichen und teils leicht gruseligen kommunistischen Greisen geführt – 40 Stunden Rohmaterial für einen nie erschienenen Dokumentarfilm, das Pauzi gesichtet hat. Beiden geht es nicht darum, die ehemaligen Angehörigen der KP Malaysia, die heute in Thailand leben, nachträglich zu Helden zu machen. Es geht um die Relativität von Erinnerung und die Offenlegung einer Vielfalt von Perspektiven, auf dass man sich selbst einen Reim machen kann.

"I remember fruits, you remember flies, I remember tenderness, you remember cries…" singt Kuhiri mit Ukulele und einer glockenhellen Stimme, die einem Gänsehaut über den Rücken jagt. Und ihre immer mal wieder aufflammende Didaktik löscht die Performance mit Kreide-Livezeichnungen und Projektionen, die die blinden Flecken der offiziellen Geschichtsschreibung zu füllen versuchen. Hier kommt alles zusammen: Klarheit, Sinnlichkeit, inhaltliche Differenzierung, Verbindungen zwischen Nationen und Zeiten – und persönliche Geschichten wie jene von Kuhiris Vater, der Traumata und Tabus in ein Märchengewand steckte, um mit ihnen umgehen zu können.

Spielart Festival
Vom 20. Oktober bis 4. November 2023
www.spielart.org


Kritikenrundschau

Ein Aspekt von "Spielart" sei seit seiner Gründung, "dass man angehalten wird, sich mit Dingen zu beschäftigen, von denen man davor wenig Ahnung hatte", schreibt Egbert Tholl in seinem insgesamt positiven Resümée des Festival-Eröffnungswochenendes der Süddeutschen Zeitung (25.10.2023). "Das sind nicht immer die sinnlichsten Erlebnisse, können es aber sein." Eine "Spurensuche der eigenen Identität vor dem Hintergrund wechselnder Toleranz in Taiwan, zärtlich und rau" sei zum Beispiel Manbo Keys "Father's Videotapes". Mark Tehs "A Notional History" führte bei Tholl nach eigenen Angaben "in der Folge zu mindestens drei Stunden Netzrecherche zur Geschichte Malaysias". "Ähnliches löst Ming Wongs performative Kunstinstallation 'Rhapsody in Yellow' aus. (...) Wie bei Nixons Ping-Pong-Diplomatie hüpft die Musik von einem Stück zum anderen, es klingt veritabel scheußlich, doch das Spannende daran: Die Unterschiede der musikalischen Idiome verschwinden, sie dienen ähnlichen Zwecken."

 

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