Reise in den persönlichen Hades

30. September 2022. Die junge Regisseurin Cosmea Spelleken hat sich mit Online-Inszenierungen wie "werther.live" während der Corona-Zeit einen Namen gemacht. Jetzt erzählt sie vom Krieg um Troja und der Irrfahrt des Odysseus im Stile der Fernsehshows der 1970er Jahre. Vor Ort in Nürnberg und fürs Online-Publikum.

Von Andreas Thamm

"Odysseus.live" von Cosmea Spelleken am Staatstheater Nürnberg © Konrad Fersterer

30. September 2022. Er ist wieder da. Odysseus nämlich, nach zehn Jahren Krieg in Troja und zehn Jahren Irrfahrt. Der König von Ithaka ist zurückgekehrt, zu seiner Familie, und, das lässt sich als König nicht vermeiden, in die Öffentlichkeit, die nach Antworten giert. Zum Glück gibt es die Sendung "Studio Ithaka", moderiert vom charmanten und manchmal etwas zotigen Aporias, dem der Coup gelungen ist: Die Königsfamilie in seiner Show!

So viel zum Rahmen dieses Theaterabends "Odysseus.live" in den Kammerspielen des Nürnberger Staatstheaters, ein Rahmen, der ernst genommen werden will. Zwei Kameras befinden sich auf der Bühne, eine dritte filmt von hinten, jede Aufführung kann auch online verfolgt und soll online begleitet werden. Interaktion ist erwünscht, sowohl von zu Hause aus, als auch im Studio. Das Publikum dürfe gern auch "größere Reaktionen" zeigen: "Wir sind hier ja nicht im Theater."

Regisseurin Cosmea Spelleken schafft also einen Hybrid, eine Versuchsanordnung, die mit dem Mythos spielt, mit den bekannten Ästhetiken der Fernsehshow und mit den Erwartungen eines Publikums, das sich ins Theater setzt und auf einmal ganz entgegen aller Gewohnheit "Oh" und "Ah" und "Buuh" machen soll.

Detailversessen wurde also zum Beispiel daran gearbeitet, mit einer retro Ästhetik eine Zeitlosigkeit herzustellen. Mit nicht wenig Aufwand wurde eine Maz animiert, die witzig und schnell die Vorgeschichte der "Odyssee", also den Trojanischen Krieg, rekapituliert. Und Amadeus Köhli schlüpft ins karierte Jackett des Talkmasters, der gern markus-lanzig bohren will, sich aber die billigsten Gags nicht verkneifen kann: "Zehn Jahre Irrfahrt – oder wie die deutsche Bahn sagen würde: Störung im Betriebsablauf."

Odysseus stört die Mattscheibe

Das Publikum wird Teil des Ganzen und ist sich im Theatersessel gleichwohl bewusst, dass dem Schein nicht zu trauen ist: Wie viel Zeit bleibt, bis die Fassade kippt und auseinanderbricht? Erste Anzeichen zumindest noch vor der Pause. Nach dem Vorgeplänkel mit der strengen, seriösen Penelope (Sabine Fürst) und dem gemeinsamen Sohn, Telemachos (Jonny Hoff als sweeter Instagram-Star mit 10.000 Followern), betritt einer das Studio, der nicht ins Bild, in die Fernsehinszenierung passen will: Ausgerechnet er, der Held des Abends.

Odysseus wird von Thorsten Danner verkörpert, eher schmächtig, wenig Haar, Anzug und Steve-Jobs-Rollkragenpullover. Danner gibt ihm von Anfang an eine Hölzernheit mit, die anzeigt, hier fühlt sich einer fehl in dem Korsett aus Liedern, Comics und Filmen, das in seiner zwanzigjährigen Abwesenheit entstanden ist. "Ich wusste in diesem Moment", sagt er, gefragt nach dem berühmten Pferd: "Wir schreiben Geschichte." Odysseus Sätze sind zurechtgelegt, sein scheiternder Versuch, sich über eine Mappe mit vom Sohn gemalten Bildern zu freuen, schmiert eine giftige Peinlichkeit über die Szene.

odysseus1 Konrad Fersterer Wenn der Irrfahrer in den TV-Irrsinn heimkehrt: Thorsten Danner (als Odysseus) und Amadeus Köhli (als Talkmaster) © Konrad Fersterer

Hinzu kommt die Liveschalte zu Menelaos, der Bilder vom Krieg zeigt, die eher nach kumpeligem Strandurlaub aussehen. Und das Interview mit Hermes und Athene auf dem Olymp, die schön von Kalypso grüßen lassen, bei der er schließlich nicht weniger als sieben Jahre verbracht habe. So beginnt das, was die Königsfamilie sich darzustellen vorgenommen hat, zu bröckeln. Zur Pause gehen Penelope und Telemach getrennt von Papa Odysseus ab.

An dieser Stelle, also nach der Pause, versucht die Inszenierung der fingierten Talkshow der Inszenierung des Theaterstücks quasi noch ein letztes Mal Einhalt zu gebieten. "Fragen, die andere plagen" ist ein ganz banales TV-Spielchen, bei dem die einzelnen Gäste 30 Sekunden Zeit bekommen, um so viele harmlose Fragen wie möglich zu beantworten, in der zweiten Runde nur noch mit Geräuschen. Ein cleverer dramaturgischer Kniff, der das drohende Aufbrechen der Fassade aufschiebt und verschleiert und ermöglicht.

Fragen an den Vater

In der dritten Runde des Spielchens, bekommt Telemach die Gelegenheit, Fragen an seinen Vater zu richten. Und Telemach windet sich, als wolle er auf der Ebene des Unverfänglichen bleiben, so lange es noch geht: "Wie lange trägst du schon einen Bart?" Bis hin zu: "Welche Frage hast du heute eigentlich ehrlich beantwortet?" Denn so schlimm sah das mit dem Krieg ja gar nicht aus, und vielleicht hat das alles ja doch so lange gedauert, weil er lieber mit den Nymphen am Strand die Eier schaukeln wollte?

Stufe für Stufe führt Cosmea Spelleken "Odysseus.Live" nun hinab in den persönlichen Hades, mit jeder Wendung, die der sorgsam vorbereitete Streit nimmt, gewinnt das Stück an emotionaler Tiefe. Odysseus bricht aus dem Heldenanzug aus. Der Krieg, den er erlebt hat, ist kein Comic. "Wir hatten zehn Jahre Dauerbegräbnis!" Und auch die sieben Jahre mit Calypso habe er keineswegs genossen: "Ich stand am Strand und hatte eine Depression!"

Kollaps vor laufender Kamera

Zurückzukehren, wenn die Welt die eigene Geschichte schon geschrieben hat, ist schwer. Dagegen wehrt, dagegen emanzipiert sich dieser Held. Die große Leistung der Regie besteht dabei darin, dass Spelleken keinen Text, nur einen Handlungsbogen vorgab. Das Verfahren ist im Fernsehen mittlerweile einigermaßen erprobt und bewirkt tatsächlich, dass die Protagonisten der TV-Show im Theater wie Protagonisten einer TV-Show und nicht wie Schauspieler eines Stücks sprechen – und um Worte ringen.

Der antike Mythos bietet diesem Auseinanderbrechen vor laufenden Kameras den so magischen wie furchteinflößenden Inhalt. Was als fröhliche Rückkehr des Königs auf die Fernsehschirme begann, endet mit dem Geständnis des Helden, ein zweijähriges Kind, Astyanax, ermordet zu haben, um den Krieg endgültig zu beenden. "Ich habe das Nötige getan", sagt Odysseus wie geschlagen und Aporias dankt für die Erkenntnis, dass auch Helden Menschen sind, mit allen Schwächen. Das Publikum sitzt auch noch wie geschlagen und braucht noch einen Moment, um zu verstehen, dass der Abbau der Kameras tatsächlich bedeutet, dass das Stück zu Ende ist.

 

Odysseus.live
von Cosmea Spelleken nach Homer
Regie: Cosmea Spelleken, Bühne und Kostüme: Linda Siegismund, Technische Konzeption: Leonard Wölfl, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein, Künstlerische Produktionsleitung: Greta Calinescu, Grafik: Robin Lambrecht / Lotta Schweikert, Licht-Design: Günther Schweikart, Liveschnitt: Frauke Tietjen, Kamera: Melanie Klos, Sophia Czerwinski, Emma Kappl.
Mit: Sabine Fürst, Thorsten Danner, Jonny Hoff, Amadeus Köhli, Anna Klimovitskaya, Justus Pfannkuch, Raphael Rubino, Sascha Tuxhorn
Premiere am 29. September 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de


Die Aufführungen des Stücks finden parallel online statt. Die Premiere wurde auf nachtkritik.plus am 29. September 2022 mitgestreamt.

Kritikenrundschau

Das Talkshow-Format ist nicht nur eine flotte Verpackung, um "Odysseus" für das Internet aufzubereiten, sondern es geht darum, wie werden Helden medial konstruiert werden im Fernsehen und in sozialen Medien, so Christoph Leibold im DLF Kultur Fazit (29.9.2022). Cosmea Spelleken arbeite damit, dass Heldenbilder im Kopf entstehen. Der Abend denke viel mit, man erlebt die Ambivalenz und es entstehe eine herrliche Doppelbödigkeit. "Ein guter Abend, in dem man aus zwei Perspektiven abgleichen könne".

Dass Odysseus eines Tages mal in einer Talkshow "gegrillt" werden könnte, ist ihm wohl in all seinen mythologischen Träumen nicht eingefallen, schreibt Herbert Heinzelmann in den Nürnberger Nachrichten (1.10.2022). Er ist hier ins Studio Ithaka geladen zusammen mit Gattin Penelope und Sohn Telemachos. Das Fernsehformat bilde den Rahmen, das sei nicht "überoriginell". Was vor der Pause fröhliche Talk-Parodie sei, nach der Pause in ein Enthüllungsstück um. Neue Erkenntnisse Erkenntnisse bringe der Abend aber kaum. 

 

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