König Ödipus - Theater Regensburg
Das Ungeheuerliche begreifen
10. März 2024. Die Figur des lügenden, zynischen Machthabers ist uns aus den Nachrichten hinlänglich vertraut. Interessanter, weil komplexer erscheint dagegen der Bösewicht, der nicht aus Absicht handelt, sondern in Unkenntnis. So, wie der berühmte Dramenheld des Sophokles. Vor allem, wenn die Regie nicht klüger sein will als der Autor.
Von Thomas Rothschild
10. März 2024. Ein Mann in sommerlichem Weiß wälzt sich auf einem sich schräg nach hinten erstreckenden, in einen riesigen Webstuhl gespannten Flickenteppich, der an eine bunte Wiese erinnert, schlägt Purzelbäume, rollt den Abhang hinunter. Sind wir in "Leonce und Lena" geraten? Falsch. Der Mann ist Ödipus, noch unbelastet von den Offenbarungen, die das Publikum wohl größtenteils kennt.
Allsonntägliche Fake News
Das Vergnügen am Theater wird erheblich gesteigert, wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen, dass Böhmen am Meer liege, ein alter Gelehrter mit mephistophelischer Hilfe in einen jungen Freier verwandelt werden könne oder das Schicksal Vatermord und Inzest unausweichlich vorherbestimme und nicht ausgetrickst werden könne. Aber warum sollte das auch weniger glaubwürdig sein als die Sonntag für Sonntag öffentlich-rechtlich verbreitete Fake News, dass die Gottesmutter jungfräulich geboren habe, dass Gebete die Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten verhindern könnten oder dass es dem Herrn gefalle, jemanden zu sich zu nehmen, den der Krebs oder ein Herzinfarkt hingerafft hat? Macht der zeitlich bedingte Konsens die Menschen schlauer, die an einen gütigen anstatt an einen Blitze schleudernden Gott glauben? Was, wenn nicht eben dies, wäre ein Irrglaube?
Die Figur des lügenden, zynischen, vor Gewalttaten nicht zurückschreckenden Machthabers ist uns ja aus den täglichen Nachrichten vertraut. Verglichen damit ist der Bösewicht, der, wie Ödipus, nicht aus Absicht, sondern in Unkenntnis der Zusammenhänge, als Folge von Selbsttäuschung Böses tut, genau besehen viel interessanter, weil komplexer. Dafür muss man nicht an die Macht des Schicksals, noch nicht einmal des Unbewussten oder des Milieus glauben.
Jasper Brandis, der nach fünf Jahren Schauspieldirektion in Ulm wieder als freier Regisseur arbeitet, will am Theater Regensburg, einem der schönsten Häuser der Republik und demnächst bayerisches Staatstheater, nicht klüger sein als Sophokles. Er quält sich und das Publikum auch nicht mit irgendeinem Ersatz für den Chor ab. Der besteht, in legerer Kleidung und mit teils wechselnden Kopfmasken, aus den Darsteller*innen der Solorollen, die gerade nicht beschäftigt sind. Dazu ertönt, eher sparsam, Musik à la Einaudi.
Zeugen der verborgenen Wahrheit
Nach und nach begegnet Ödipus, der, bei Sophokles und bei Brandis, buchstäblich im Zentrum steht, "Zeugen", die ihn der verborgenen Wahrheit näherbringen. Teiresias taucht – ein faszinierendes Bild – von unter dem Teppich auf, den nach klassischem Verständnis das Schicksal webt. Seine Stimme wird vervielfacht. Spricht aus dem Seher die Weisheit des Volkes? Von verblüffender Modernität ist die Aggressivität, mit der Ödipus Teiresias abblitzen lässt, weil dessen Weissagungen für ihn unbequem sind, wie der psychologische Mechanismus, der in einer heutigen Terminologie "Sekundärrationalisierung" hieße, greift. Jede absurde Erklärung scheint willkommener als eine belastende Selbstbefragung.
Später wird der Teppich hochgezogen und mittels Lichtregie transparent. Dahinter erscheint Iokaste, die Mutter und Ehefrau des Ödipus, stolz, statisch, aber zugleich außerhalb des Fokus, den Sophokles gewählt hat. Daran hält sich auch die Regie. Der Bote aus Korinth, dessen Aussage entscheidend zur Wahrheitsfindung beiträgt, tritt, visuell den Rahmen sprengend, als tiermenschliche Comic-Figur auf.
Der Ödipus des Jonas Julian Niemann ist ein heutiger Mensch, angefüllt mit antikem Furor. Der Mythos bedarf keiner Oberflächenaktualisierung. In Regensburg wird erfahrbar, wie sehr er nach wie vor ergreift, wenn man ihn ernst nimmt. Nicht Mord und Verbrechen sind es, die erschrecken und berühren, sondern die Unausweichlichkeit der Katastrophe und das allmähliche Erkennen der eigenen unverschuldeten Schuld. Auch die Entscheidung für die Übersetzung von Ernst Buschor erweist sich als überzeugend. Sie klingt nichts weniger als verstaubt und wird vom Chor wie von den Solisten vorbildlich gesprochen.
Einsam auf den Wiesen-Resten
Als Ödipus die ganzen Ungeheuerlichkeiten begriffen hat, zieht er sich Iokastes Haube über das Gesicht, zwei dunkle Bänder symbolisieren, wie im fernöstlichen Theater, das Blut, das aus den Augenhöhlen rinnt. Da sitzt er, einsam, umgeben von den Resten der bunten Wiese, auf der er sich zu Beginn getummelt hat, ein Bruder von Shakespeares Gloucester. Das ist und bleibt großes Theater.
König Ödipus
von Sophokles
Deutsch von Ernst Buschor
Regie: Jasper Brandis, Bühne: Volker Thiele, Kostüme: Karen Simon, Dramaturgie: Maxi Ratzkowski, Choreinstudierung: Adrian Stuhlfelner.
Mit: Jonas Julian Niemann, Alejandro Nicolás Firlei Fernández, Thomas Mehlhorn, Katharina Solzbacher, Silke Heise, Anna Kiesewetter, Michael Haake.
Premiere am 9. März 2024
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
https://www.theaterregensburg.de
Kritikenrundschau
Frisch und angenehm respektlos findet Angelika Schüdel den Regiezugriff auf BR2 (10.3.2024), "eine bis zum Schluss packende und aufregende Inszenierung". Insbesondere der Chor sorge dabei "durch freche Gesten oder aufmüpfiges Murren" für komische Kommentare.
"Selten erlebt man eine derart schlüssige, innovative und dennoch nicht überdrehte Inszenierung einer antiken griechischen Tragödie" wie hier, schwärmt Stefan Rimek in der Regensburger Zeitung (11.3.1024). Regisseur Jasper Brandis fokussiere die Handlung sehr geschickt auf das Wesentliche und setze hier und da einige humoristische Pointen, ohne dabei die Würde des antiken Stoffes zu gefährden. "So entstehen immer wieder gefühlsstarke und packende Atmosphären wie beispielsweise in der Szene, als König Ödipus zu weinen beginnt, als er die Wahrheit seiner Vergangenheit erkennt."
"Ein großer Abend mit der Antike in ganz heutigen Bildern", urteilt auch Claudia Böckel in der Mittelbayerischen Zeitung (11.3.2024). Jasper Brandis habe für seine Inszenierung zusammen mit Bühnenbildner Volker Thiele den bühnenfüllenden Teppich als Metapher gefunden: "Die Familientraumata werden so auf ewig fortgewoben." Alle seien sehr konzentriert, fänden sich schnell in die Rollen und ebenso schnell mit Hilfe der Masken in das chorische Sprechen hinein, "das argumentiert, beleuchtet, berichtet".
"Außer dem tollen Teppich gibt es die fantasievoll gestrickten, gehäkelten, auch mal wie aus einem Badvorleger zusammengeschneiderten Kostüme von Karen Simon, mehr Ausstattung braucht es nicht", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (12.3.2024). Brandis setze sehr genau auf Sprache, "das geht besser auf, als man erwarten würde". Er lobt Silke Heises Iokaste Thomas Mehlhorns Kreon. Nur warum Ödipus neben Herrscher auch Jüngling sein soll, erschließt sich Tholl nicht, das "ginge nur auf, erzählte man die ganze Figur wirklich jugendlich, das Potenzial dazu hätte Niemann allemal". So aber bleibe eine Diskrepanz, eine Lücke, die einen nicht unbedingt zu höherer Erkenntnis dränge.
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