Der Unwahrscheinlichkeitsdrive – Eine performative Studie der Geheimagentur beim Berliner Festival Foreign Affairs
Fluchtauto für Edward Snowden
von Eva Biringer
Berlin, 12. Juli 2013. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Nachtkritikerin nach der Vorstellung nicht nach Hause gefahren ist, um am Schreibtisch die Rezension zu schreiben, sondern sich von einer Stretch-Limousine an den Ort ihrer Wahl hat fahren lassen? Auf einer Skala von minus drei bis plus drei: Sehr unwahrscheinlich. Schließlich haben Sie, lieber Leser, die fertige Kritik vor Augen. Merke: Retrospektiv lassen sich Wahrscheinlichkeiten sehr viel eher einschätzen als solche die Zukunft betreffend.
In Berlin passieren ja die ungeheuerlichsten Dinge, jeden Tag. Heute Abend haben die Geheimagentur & Joshua Sofaer im Rahmen des Festivals "Foreign Affairs" zum "Unwahrscheinlichkeitsdrive: Die Entscheidung" geladen. Das Publikum im Haus der Berliner Festspiele nimmt Platz auf der Bühne, in deren Mitte eine gut zehn Meter lange Stretch-Limousine mit einem pinken Teppich davor parkt. Eigentlich wirkt sie ganz gut in Schuss, erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sie leichte Schlagseite hat. Schwarz ist sie, mit Hamburger Kennzeichen und getönte Scheiben, wie sich das gehört. Eine Frau im Brautkleid klettert aus dem Wagen. In demselben Brautkleid begleitete sie sämtlich Testfahrten, aus rein praktischen Gründen, wie sie erzählt, denn mit dem Satz "It's a very special day" fährt es sich wesentlich leichter durch den Großstadtverkehr.
Überrollte Limosinen
Auf dem Dach der Limousine posieren die Performer: Eine Frau in beigem Satinanzug als Vertreterin des Hamburger Performancekollektivs und Joshua Sofaer in goldenen Leggins und passenden Sneaker. Die Beiden plaudern ein wenig über die richtige Art aus Limousinen auszusteigen (jede Rockträgerin kennt das Problem – Kate Middleton hat es in dieser Disziplin zur Perfektion gebracht) und berichten anschließend, was es mit diesem "Unwahrscheinlichkeitsdrive" auf sich hat: In Dubai stießen die Performer auf unzählige herrenlose Limousinen, deren Besitzer die Finanzkrise überrollte. Könnte man nicht eine von ihnen nach Deutschland überführen und ihr eine neue Aufgabe zuteilen? Man könnte. Die Wahl fiel auf ein kalifornisches Modell mit Ledersitzen und USB-Anschluss. Zunächst jedoch stand der Gang durch die Institutionen an. Keine Versicherung wollte das Risiko für das Auto tragen, die Bank wollte kein Geld lockermachen ("Mit freundlichen Grüßen, Ihr Kundenberater") und selbst die Berliner Festspiele äußerten Bedenken. Und doch: Entgegen aller Wahrscheinlichkeit gelangte das Fahrzeug nach Berlin.
Mobil oder demobil?
Nun war die Öffentlichkeit gefragt: Was wäre für diese Limousine die denkbar unwahrscheinlichste Verwendung? Aus 65 Vorschlägen wählte die Geheimagentur neun aus, die dann bei Testfahrten probeweise realisiert wurden. Am heutigen Abend werden die Vorschläge vorgestellt, zum einen anhand kurzer Videoeinspieler, zum anderen durch die Initiatoren selbst, die nach und nach aus der Limousine steigen. Einer von ihnen verwandelte diese in einen fahrbaren Massagesalon, ein anderer in ein Pfandflaschensammelmobil. Ein Vorschlag war das "Culture Mobil", welches Leute, die normalerweise keine kulturellen Veranstaltungen besuchen, zu kulturellen Veranstaltungen bringt. Man könnte auch mit Asylbewerbern bei den örtlichen Behörden vorfahren, die Limousine als Brücke in bundesdeutschen Hochwassergebieten einsetzen oder zum "Demobil" umfunktionieren, ein fahrendes Demonstrationsmedium, das über Lautsprecher live vom Istanbuler Taksim-Platz überträgt. Letzteres sorgte in der Umsetzung für einigen Schwung im Berliner Verkehr, denn als ordentlich angemeldete Demonstration musste für das "Demobil" die Straße zwischen Potsdamer Platz und Regierungsviertel gesperrt werden.
Mein persönlicher Favorit ist der stark berlinernde Arbeitslosengeldempfänger Dominik, der sich ganz im Stil von Don De Lillos Bänkerdystopie "Cosmopolis" am anderen Ende der Stadt die Haare schneiden lassen wollte. Idealerweise mit öffentlichen Geldern. Während Dominik seinem Sachbearbeiter sein Anliegen kundtat, bot draußen vor dem Jobcenter ein sogenannter Eventschuhputzer den wartenden Arbeitslosen seine Dienste an. Weder schaffte es Dominik bis zum Friseur, noch ist er heute bei der Entscheidung im Haus der Berliner Festspiele zugegen – ein klarer Fall von Unwahrscheinlichkeit!
Eventschuhputzer vs. winkende Hutmacherin
Nachdem alle Ideen präsentiert wurden, hat das Publikum vier Minuten Zeit, eigene Vorschläge einzubringen. Während die Kritikerin überlegt zu fragen, ob sie ihre Kritik während einer Fahrt durch die Stadt schreiben kann, tritt eine Handvoll Zuschauer ans Mikrofon. Sie plädieren dafür, die Limousine als Brautauto für eine indische Hochzeit zu nutzen, als Schienenersatzverkehr, als Fluchtauto für Edward Snowden und (von schwarz umlackiert zu pink) als Symbol der US-amerikanischen Gaypride-Bewegung. Welcher Vorschlag wird mit in die Auswahl genommen? Ganz undemokratisch entscheidet das Los. Die Wahl fällt auf den eher unoriginellen Vorschlag, mit dem Auto als Brücke die gegenüberliegenden Ufer eines Flusses zu verbinden.
Kurz vor der Abstimmung durch den Lärmpegel des Publikums weist Joshua Sofaer noch einmal darauf hin, dass es bei den Vorschlägen nicht um den Grad der Erfüllbarkeit gehe, sondern darum, eine unwahrscheinliche Situation zu erschaffen. Als Siegerin geht die Hutmacherin Rike hervor, knapp vor der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Friseurbesuch. Rike engagiert sich für den Erhalt seltener Schafrassen und plant eine Schalkollektion, bei welcher der Kunde genau weiß, von welchem Schaf die Wolle stammt. Für ihre Herde fehlt ihr ein Schafsbock, der nun mit der Stretch-Limousine von den Pyrenäen ins Berliner Umland gekarrt wird. Sehr bürokratiekonform und um Unwahrscheinlichkeiten auszuschließen wird ein Vertrag unterzeichnet, dann rauscht die Limousine mit der winkenden Hutmacherin in den Sommerabend. Man hat es geahnt: Wer nichts vom Leben erwartet, dem widerfahren die unwahrscheinlichsten Dinge.
Der Unwahrscheinlichkeitsdrive: Die Entscheidung
Performative Studie von und mit Joshua Sofaer und Geheimagentur
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.geheimagentur.net
www.berlinerfestspiele.de
Mehr lesen? In Hamburg präsentierte Geheimagentur im März 2013 auf Kampnagel Aktionen // Attraktionen.
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